Zum Thema Extinction Rebellion (XR, Rebellion gegen das Aussterben) gibt es eine intensive Diskussion auch im Herausgeber*innenkreis der Graswurzelrevolution. Wir wollen in dieser und den nächsten Ausgaben diese Kontroverse auch in die GWR tragen. Den Auftakt machen wir in dieser Ausgabe mit zwei kontroversen Beiträgen von XR-Aktivist Tino Pfaff (Extinction Rebellion - international, sozialpolitisch und schwer definierbar) und dem hier vorliegenden von Nicolai Hagedorn (GWR-Onlineredaktion).
Ende November 2019 vermeldete die neoliberale Wochenzeitung „Die Zeit“, Roger Hallam, Mitgründer und Vordenker von Extinction Rebellion (XR), habe den Holocaust im Interview einen „weiteren Scheiß“ genannt und betrachte das industrielle Abschlachten von sechs Millionen Juden als „ein historisch fast normales Ereignis“. Solche, die deutschen Verbrechen relativierenden und verharmlosenden Absonderungen dürften niemanden überraschen, Hallam hatte zuvor bereits Sexisten und Rassisten zur Mitarbeit eingeladen und war mit weiteren fragwürdigen Einlassungen aufgefallen.
Trotzdem darf er als Sprecher einer Gruppe auftreten, die sich selbst gern als letzte Instanz der Rebellion „gegen das Aussterben“ der Menschheit versteht. Eine Sprecherin von XR äußerte gegenüber der TAZ die von erstaunlicher Hybris zeugende Einschätzung, man habe „zivilen Ungehorsam mehrheitsfähig gemacht“. Und während man sich in Hamburg von Mitstreitern distanzierte, weil diese bei einer Blockade im Angesicht übertriebener Gewaltanwendung durch die staatlichen Repressionsorgane polizeifeindliche Parolen gerufen hatten, sparen die XR-Vorturner nicht mit Kriegs- und Gewaltrhetorik. Der neben Hallam zweite prominente „Spokesman“ der Bewegung, Rupert Read, Philosophie-Dozent an der University of East Anglia in Norwich, sprach in einem Beitrag der ARD-Sendung „Titel, Thesen, Temperamente“ davon, man müsse angesichts des drohenden Endes der Zivilisation „handeln, als ob wir im Krieg wären. Da grübelt man ja auch nicht lange, ob es überhaupt möglich ist, den Gegner zu besiegen. Werden wir dafür ein Jahr brauchen oder zehn? Lasst uns erstmal ein paar Studien in Auftrag geben und solange tun wir gar nichts. Nein, man reagiert sofort, um die Bevölkerung zu schützen.“ Dass sich bei derartigen Vorstellungen, die allen Ernstes davon ausgehen, kriegerische Auseinandersetzungen hätten in erster Linie den Anspruch oder die Eignung, „die Bevölkerung zu schützen“, bis ins biederste linksliberale Lager die Nackenhaare sträuben, darf auch Wohlmeinende nicht überraschen und man könnte das als verirrten Ausreißer bezeichnen, wenn im Falle XR solcherlei nicht an der Tagesordnung wäre.
Auch gegenüber der GWR berichteten zuletzt AktivistInnen verschiedener Gruppen von besserwisserischem und teilweise gefährlichem Gebahren der XR-Leute. „Ich vermisse eine klare politische Position“, sagt etwa GWR-Mitherausgeberin Cécile Lecomte, „das Logo, das Ähnlichkeiten zu dem der Identitären aufweist, scheint wichtiger als Inhalte zu sein. Auch der Hang zur Esoterik beunruhigt mich, ich sehe darin die Gefahr eines Abdriftens nach rechts. Auf Blockaden in Berlin konnte man für die Erde meditieren. Wenn man glaubt, die von XR ausgerufenen Ziele seien Schutz genug gegen rechts, nach dem Motto ‘wer rechts ist, der kommt ohnehin nicht zu uns‘, liegt falsch. Das habe ich bei unserem Wagenplatz damals auch gedacht: Wer im Bauwagen leben will, ist doch links. Nö, so war es am Ende nicht, neue Rechte haben sich breit gemacht und ihr Gedankengut über rechte Esoterik unter die Menschen gebracht.“ XR sei, so Lecomte, auch nicht bereit, sich von Mitarbeitern des rechten Verschwörungsportals „Rubikon“ zu distanzieren, die sich bei XR engagieren, ohne ihre Mitarbeit bei „Rubikon“ zu beenden: „Intern wurde darüber viel debattiert, die resultierende Entscheidung daraus ist, dass Querfront/Verschwörungsleute toleriert werden.“ Lecomte verweist auch auf eine vom späteren XR-Sprecher Rupert Read im Zuge des Brexit-Referendums vertretene Ansicht. In einem Diskussionsbeitrag im Guardian hatte Read 2016 argumentiert, die Befürwortung weiterer Masseneinwanderung aus Staaten der EU in das brittische Königreich würde die „einfachen Arbeiter“ („ordinary working people“) „endgültig entfremden“ („terminally alienate“), und zwar, wie Read meint, „for good reasons“. Bisher ist von einer Distanzierung von Read aus dem XR-Kreis wenig zu hören, obwohl man doch sonst gewissermaßen Distanzierweltmeister ist – wenn es um Linke geht. In einem Fall wurde berichtet, im Bus zu einer Aktion sei das Anstimmen antikapitalistischer Gesänge untersagt worden, weil XR nicht explizit antikapitalistisch sei, es gehe bei der Aktion um Organisation, nicht um Meinungsfreiheit. (Quelle: „Klimakämpfe“ von Hanna Poddig, Unrast Transparent, Seite 63). Inzwischen heißt es in den Grundprinzipien von XR-Deutschland: „Verhalten, das Rassismus, Sexismus, Antisemitismus, Islamophobie, Homophobie, Behindertenfeindlichkeit, Klassendiskriminierung, Altersvorurteile und alle anderen Formen der Diskriminierung, einschließlich beleidigender Sprache, aufweist, akzeptieren wir weder persönlich noch online.“
Weiter kritisiert Lecomte vor allem die Einstellung von XR zu staatlicher Repression und ihren Organen. Aufgrund ihrer Erfahrungen mit Mitgliedern von XR sagt sie: „Sie behaupten, Repression sei überschaubar und sie lügen Teilnehmer*innen damit an. Sie verharmlosen Repression. Auch die Auswirkungen, die Knast auf einzelne haben kann. Das ist kein nachhaltiger Aktivismus. Auch das `ich habe mir nichts vorzuwerfen, also kann ich mit der Polizei reden‘, finde ich gefährlich. In manchen Ortsgruppen gibt es scheinbar die Empfehlung, Vorladungen der Polizei nachzukommen und Aussagen zu machen. Die Polizei sei ja nicht der Gegner. Das finde ich gefährlich für linke emanzipatorische Bewegungen und sehr naiv hinsichtlich der Frage, was Repression ist, bewirkt und worauf sie zielt. Außerdem sind die Leute damit überfordert, wenn sie Post mit schweren Vorwürfen bekommen. Denn nett ist der Staat trotzdem nicht, auch wenn man ihm Blumen schenkt und ‚sich nichts vorzuwerfen hat‘“.
Bei Extinction Rebellion, so viel dürfte klar sein, läuft einiges in eine ganz falsche Richtung. Die Frage, die sich für linke, emanzipatorische, antikapitalistische Gruppen stellt, ist, wie man mit einer neuen Gruppe umgehen soll, die sich rechtsoffen zeigt, bei gemeinsamen Aktionen andere durch ihr Verhalten in Gefahr bringt, durch unsinnigen Aktivismus, wie z.B. die Blockade der U-Bahn in London, die Besetzung der Parteiräume der Partei „Die Linke“, die als einzige ernsthafte Klimaschutzmaßnahmen fordert oder esoterische Folklore bei Aktionen, die gesamte Klimabewegung der Lächerlichkeit preisgibt, andererseits durch ihr sehr niedrigschwelliges Angebot (jeder kann mitmachen) und ihren Eventcharakter (man betrachte die XR-Homepage, die eher an die Seite eines Rockfestivals erinnert als an eine politische Organisation) viele anspricht und aktiviert, die sich bisher nicht politisch engagiert haben.
Für den Blogger Daniel Kulla machen es sich die XR-Kritiker ohnehin zu einfach. Dabei bezieht er sich unter anderem auf einige Beiträge der Publizistin Jutta Ditfurth, die XR in Interviews und Beiträgen scharf kritisiert hatte. In Interviews mit der Frankfurter Rundschau bzw. der FAZ bezeichnete Ditfurth die Gruppe etwa als Sekte, aus der „nichts Gutes“ mehr werde. „Das Auffälligste“ an der Struktur von XR sei „der Widerspruch zwischen dem selbstopferungsbereiten Irrationalismus einer Endzeit-Sekte und den knallharten, sehr rationalen Geschäftsinteressen eines Teils der Führung.“ Dabei gehe es „auch um die Modernisierung des Kapitalismus: wie macht man die Klimakatastrophe zur Geschäftsgrundlage? Extinction Rebellion soll die dazu passende manipulierbare Bewegung werden, die die öffentliche Meinung gefühlig beeinflusst.“ Ein mangelnder Begriff von Kapital und Klasse hindere die Gruppe überdies daran, zwischen Ausbeutern und Erniedrigten zu differenzieren und die eigentlichen Verursacher der Klimakrise zu erkennen. Stattdessen beschäftige man sich etwa mit der so genannten „Tiefenökologie“, die „ihre Wurzeln in einem faschistischen Menschenbild“ habe.
„Ditfurths bisherige Beiträge“, meint Kulla, „scheinen mir einerseits teilweise zutreffende, aber oft auch banale linke Kritik an XR (von der wiederum viel auch innerhalb von XR diskutiert wird) mit andererseits zwanghaft wirkenden Unterstellungen zusammenzuwerfen. Ich habe das anderswo ‚heißlaufende Mustererkennung‘ genannt, wenn sie im Interview mit der Frankfurter Rundschau (FR) etwa die Verwendung von Kraken als bekannter vom Aussterben bedrohter Art auf die antisemitische Verwendung dieses Bildes herunterbricht oder wenn sie dortselbst ‚Inszenierungen, bei denen drei Menschen mit Seil um den Hals am Galgen stehen, unter ihren Füßen schmelzendes Eis‘ an ‚das Bild an Erhängung von Zivilist*innen durch Wehrmacht und SD-Gruppen an der Ostfront‘ erinnert.“
Kulla will XR nicht „als Ganzes“ verteidigen, ihm gehe es vielmehr darum, „erstmal festzuhalten, dass das für eine hauptsächlich aus der ‚upper middle class‘ stammende Bewegung eine erstaunlich aktive und progressive ist, von der aber eine enge Verbindung zu Arbeitskämpfen oder eine schon existierende umfangreichere Erfahrung mit staatlicher Repression einfach nicht erwartet werden kann“, und tatsächlich ist XR im Vergleich mit totalen Nullveranstaltungen wie etwa der liberalen Sonntagsmesse ´pulse of europe´ (erinnert sich noch jemand?) ja tatsächlich geradezu widerständig.
„Das Bedürfnis, sich an XR auszulassen und sich damit auch (scheinbar) mal mit breiteren Bevölkerungsschichten einverstanden zu sehen,“ erklärt Kulla, „drückt diese Sicht aber systematisch beiseite.“ Statt „solch wohlfeiler Kritik“ schlägt er vor, „sich um die Organisation der Arbeitskräfte als Klasse zu kümmern und auf dieser Grundlage sowohl wirksame Bündnisse einzugehen als auch auf diese anderen Bewegungen stärker einwirken zu können. Dass wir denjenigen, die über die Produktionsmittel verfügen, diese wegnehmen und vergesellschaften müssen, um überhaupt entscheiden zu können, was und wie produziert wird, müssen wir halt selbst sagen, wenn es gesagt werden soll bzw. müssen wir helfen, den Standpunkt zu organisieren, von dem es allgemein vertreten werden kann.“
Der Reflex, eine neue Bewegung entlang der eigenen „reinen Lehre“ zu beurteilen, und diese, wenn sie der Prüfung nicht standhält, komplett und unabänderlich unangespitzt im Boden zu versenken und ihr jede Entwicklungsmöglichkeit abzusprechen, ist auch im Fall XR kontraproduktiv.
So berechtigt die Sorge sein mag, dass bei XR Akteure mit kapitalistischen oder anderweitig problematischen Interessen zu viel Einfluss haben: Aus den tausenden XR-Aktiven hilflose und manipulierbare Marionetten zu machen, indem man sie zu Sektenmitgliedern erklärt, tut so, als ob Emanzipation ein Zustand wäre, der „fertig“ in die Welt tritt und von jedem, der (umwelt)politisch aktiv ist, erwartet werden kann. Dass Leute an den Widersprüchen, die eine solche Bewegung hervorbringt, zu Einsichten und Erkenntnissen kommen können, dass auch eine Struktur, die tatsächlich viele Vorgaben macht und als vergleichsweise hierarchisch erscheint, die Möglichkeit offen lässt, dass sich darin emanzipatorische Prozesse vollziehen können, dafür ist solch ultimatives Niedermachen blind.
Und warum eigentlich sollte man XR die Solidarität endgültig und restlos entziehen? Die Aktionen der Gruppe sind in den guten Momenten schöne Beispiele für die Wirksamkeit gewaltfreier Massenaktionen, die politische Botschaft der zugegebenermaßen oft kitschig-pathetischen XR-Drastik verweist auf die ja tatsächlich dramatische Situation der Klimakrise und Aufregung darüber, dass die Gruppe mit ihrer Überdramatisierung einen ernsthaften Diskurs verhindere, kann angesichts der regelmäßig aus der Wissenschaft kommenden Prognosen und der bisher ergriffenen Gegenmaßnahmen als politische Zuspitzung auch wohlwollend aufgefasst werden – ein bisschen Übertreibung kann bei all der sonstigen Ignoranz und Sorglosigkeit vielleicht nicht schaden.
Dass die XR-Aktiven nicht ausschließlich gehirngewaschene Sektentrottel sind und dass innerhalb der Gruppe längst Aushandlungsprozesse stattfinden, zeigt sich auch darin, dass sich XR Deutschland von den antisemitischen Äußerungen Hallams zügig distanzierte. Selbst ein Ausschluss des angeblichen Gurus wurde gefordert. Auch über das Verhalten bei Aktionen, über den Umgang mit Rechten und über politische Positionierungen wird, so hört man aus dem Aktivistenkreis, durchaus kontrovers diskutiert.
Harsche Kritik von außen kann dabei durchaus hilfreich sein und muss geübt werden. Den Diskursraum durch die zwanghafte Verortung einer noch jungen Gruppe als von undurchsichtigen Kapitalisten gelenkte Sekte voller Esoteriker und Halbnazis zu verrammeln, bevor er eröffnet wurde, hilft hingegen niemandem. Was also ist der Stand der Diskussion?
Ist XR ein Einfallstor für rechte Kräfte?
Nur insoweit antisemitische, migrationsfeindliche oder sonstige ausgrenzende Aussagen unwidersprochen bleiben oder mehrheitsfähig sind, was aber zumindest bislang nicht der Fall ist. Auch der Hang zu Esoterik ist sicher ein Anknüpfungspunkt für Rechte und wird zu Recht kritisiert. Insgesamt scheint die Position von XR der derzeitigen Argumentation der neuen Rechten aber in vielem auch zu widersprechen. So begriffslos die Bewegung auch sein mag, scheint selbst der Diskurs auch innerhalb von XR so weit zu sein, dass Rechte sich da kaum mehr wiederfinden. Wo die AfD den menschengemachten Anteil am Klimawandel entweder leugnet, oder sich mit einer parlamentarischen Anfrage blamiert, in der sie von der Bundesregierung allen Ernstes wissen will, wieviel CO2 die Seenotrettung von Flüchtenden kostet (Bundestag, Drucksache 19/15585), geht XR durchaus davon aus, dass eine Veränderung im Wirtschaften alle betrifft und insbesondere die westlichen Industrienationen ihre Produktionsweise verändern müssen. Das scheint vom rechten Diskurs in dieser Frage doch sehr weit entfernt.
Ist XR eine von Kapitalisten gelenkte U-Boot-Bewegung, die den Klimaprotest infiltriert?
Wohl kaum. Richtig ist aber, dass XR keine Graswurzelbewegung ist. Die Gruppe wurde von einigen wenigen Aktiven gegründet, ist durchgestylt und zielt geschickt auf öffentliche Aufmerksamkeit. Das wirkt tatsächlich eher wie eine gezielte Kampagne als eine politische Bewegung und im Impressum der XR-Homepage findet sich, worauf auch Ditfurth hinweist, eine Compassionate Revolution Ltd., also eine Kapitalgesellschaft. Es wird zu beobachten sein, inwiefern sich die XR-Gruppen von den Vorgaben aus London emanzipieren können.
Wie sollten wir XR begegnen?
Äußerst kritisch. Aber auch solidarisch. Dabei sind mit der Entstehungsgeschichte, den Organisationsprinzipien und der relativen Offenheit tatsächlich Probleme verbunden, mit denen XR zu kämpfen hat. Dazu könnten durchaus wichtige Kritikpunkte und offene Fragen benannt werden, wozu gewaltfreie Anarchisten mit den Erfahrungen aus der Geschichte und der Kenntnis gewaltfreier Strategie besser als die meisten anderen beitragen könnten. Die oben erwähnten falschen Aktionen entstammen beispielsweise dem eigentlich gerade unterstützenswerten herrschaftslosen Prinzip, wonach jede/r (wenn die Forderungen und Prinzipien geteilt werden) jederzeit mit XR-Banner und -Label Aktionen machen kann. Offenbar waren praktisch bis auf zwei alle Londoner Aktivisten gegen die U-Bahn-Blockade-Aktion.
Ein Diskursverhalten, bei dem man nur denjenigen als Diskurspartner akzeptiert, der das denkt und sagt, was man hören will, ist hingegen keines. Kulla ist zuzustimmen, wenn er darauf hinweist, dass „wir“ das, was wir für wichtig halten, vielmehr selber sagen müssen, bzw. „einen Standpunkt organisieren, von dem es allgemein vertreten werden kann.“
Dies ist ein Beitrag aus der aktuellen Druckausgabe der GWR. Schnupperabos zum Kennenlernen gibt es hier.