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Und es gibt sie doch – herrschaftsfreie Institutionen und staatenlose Gesellschaften

Herrschaftsfreie Institutionen

| Armin Scholl

Wenn man Anarchist*innen ärgern will, stellt man ihnen die Frage, wo und wann denn jemals Anarchie verwirklicht worden sei. Man denkt dann vielleicht an die Pariser Kommune während des deutsch-französischen Kriegs 1871 oder an verschiedene Räterepubliken nach dem Ersten Weltkrieg 1919 (in Bayern oder Ungarn) – alles gescheiterte und äußerst kurzlebige Versuche, Herrschaft zu dezentralisieren und Staatlichkeit auf ein Minimum zu reduzieren. Es gibt aber durchaus historische Belege für staatsferne und herrschaftsarme Gesellschaften. Davon handelt das Buch „Herrschaftsfreie Institutionen“ der beiden Sozialwissenschaftler und Kulturanthropologen Rüdiger Haude und Thomas Wagner.

Das Buch verdient schon deshalb Vorschusslorbeeren, weil es bereits in der zweiten Auflage erscheint (erste Auflage 1999), weil es schon damals sehr positiv rezensiert wurde (unter anderem von Bernd Drücke 1999 in der GWR 242) (1), und jüngst hat die „Bibliothek der Freien“ aus Berlin es mit dem Titel „Buch des Jahres 2019“ ausgezeichnet. (2)

Ich kann mich dieser positiven Bewertung in der zweiten Rezension in der GWR nur anschließen, denn die Autoren argumentieren wirklich sehr überzeugend, sehr differenziert und behandeln originelle Aspekte. Und ich halte es für eine gute Entscheidung, dass der Verlag Graswurzelrevolution die zweite Auflage übernommen hat, nachdem die erste Auflage im Nomos-Verlag erschienen war. Dadurch ist das Buch jetzt wieder zugänglich, ergänzt um ein Vorwort zur zweiten Auflage.

Haude und Wagner kritisieren zu Recht die in den Sozialwissenschaften vielerorts propagierte „Herrschafts-Ontologisierung“, also die Unterstellung, Herrschaft sei etwas Universelles, Unvermeidbares, Unhintergehbares, Selbstverständliches oder Alternativloses. Dahinter steckt das soziale und gesellschaftliche Problem, wie man herrschaftsfreie Gesellschaft stabilisieren kann. Herrschaftsfreiheit soll ja nicht nur ein revolutionäres Strohfeuer bleiben, sondern sie soll in Institutionen überführt werden, die ihre herrschaftsfreie Herkunft nicht irgendwann im Prozess der Institutionalisierung verraten und wieder rückgängig machen. Sozialwissenschaftliche Forschung sollte also nicht voreilig unterstellen, dass Herrschaftsfreiheit nicht möglich sei, sondern daran mitarbeiten, wie sie hergestellt und nachhaltig etabliert werden kann. Zu diesem Programm tragen Haude und Wagner mit großer Expertise bei, nicht nur mit diesem Buch, sondern mit vielen weiteren Publikationen, die im Literaturverzeichnis dokumentiert sind. Sie gehen nicht mit einem westlich verengten Blick auf die Moderne vor, wonach die moderne Gesellschaft einseitig als evolutionäre Errungenschaft und Verbesserung menschlichen Zusammenlebens bewertet wird. In einer solchen Sichtweise können frühere Gesellschaftsformen, die zum Teil bis in die frühe Menschheitsgeschichte zurückreichen, nur als (im Vergleich zu heute) rückschrittige und defizitäre Gemeinschaften angesehen werden. Wenn man aber sozial- und kulturanthropologisch vorgeht und die uns bekannten Gesellschaften vorbehaltlos mit (ganz) anderen Völkern vergleicht, öffnet sich der Blick für neue, ungewöhnliche Einsichten. Auf diese Weise können bisherige (vermeintliche) Selbstverständlichkeiten in Frage gestellt werden, wie zum Beispiel, dass Herrschaft und Staat alternativlose Entwicklungen moderner Gesellschaften seien.

Zunächst kritisieren Haude und Wagner den Forschungsstand zu segmentären (missverständlicherweise oft auch primitiv genannte) Gesellschaften. Ausgangspunkt der Argumentation ist meist, dass Herrschaft mit Institutionen quasi gleichgesetzt wird. Wenn in solchen frühen Gesellschaften dann keine Herrschaftsstrukturen nachgewiesen werden können, spricht die Forschung ihnen einfach die Fähigkeit ab, Institutionen einzurichten. Herrschaftsfreiheit hat aber überhaupt nichts mit Institutionenlosigkeit zu tun. Im Gegenteil existieren in diesen frühen Gesellschaften meist ausgeklügelte Institutionen, um eben die Verführung zu herrschaftlichen Strukturen zu verhindern. Das heißt oft sogar, dass Zwang ausgeübt wird. Dieser Zwang geht aber gerade nicht vom Herrschenden aus, sondern dient dazu, die zentrale Herrschaft zu vermeiden. Stattdessen soll mit vergleichsweise sanften Zwangsmaßnahmen die Gleichheit der Gesellschaftsmitglieder hergestellt werden. Diese sind jedoch nicht gegen die Freiheit gerichtet, sondern bilden umgekehrt die Grundlage für eine Freiheit Aller. Vielmehr sind die zahlreichen politischen und wirtschaftlichen Ungleichheiten heutiger Gesellschaften eher ein Indiz dafür, dass Freiheit sehr ungleich verteilt ist und die Herrschenden und Privilegierten viel mehr davon haben als alle anderen. Im Prinzip ist ein Großteil der Forschung vom Blick aus der Perspektive des modernen Staats vernebelt und misst alle anderen Formen von Gesellschaften daran, ganz so, als ob die moderne Form staatlicher Herrschaft ein evolutionäres (wünschbares) Ziel sei. Hier tut also Dekolonialisierung not, um das Potenzial egalitärer Institutionen angemessen je nach historischen Umständen einschätzen und bewerten zu können. Die Stärke der Argumentation besteht darin, genau zu unterscheiden zwischen Herrschaft, Macht, Zwang, Institutionen und nicht alles in einen Topf zu werfen und in einen scheinbar notwendigen Zusammenhang zu stellen.

Ähnlich wie Karl Marx seine Theorie nicht als Utopie oder gar als Ideologie verstanden wissen wollte, argumentieren auch die beiden Autoren, dass die anarchistische Utopie durchaus wissenschaftliche Grundlagen hat. Nur seien diese in der modernen Sozial- und Kulturwissenschaft aus ideologischen Gründen verschüttet worden. Das Buch leistet somit einen Beitrag zur Rehabilitierung anarchistischer Vorstellungen: Es zeigt, wie Gemeinschaft und Vergemeinschaftung ohne Herrschaft, aber selbstverständlich mit Strukturen und Normen, mit Institutionen eben, möglich und vor allem real vorfindlich sind. Die Betonung der Wissenschaftlichkeit der vorgelegten Argumentation wird auch deutlich, wenn in einem Kapitel an die Chaostheorie angeschlossen wird, die mit sogenannten Fraktalen arbeitet. Chaos wird hier nicht als negative Bezeichnung von Anarchie verstanden, sondern positiv oder neutral als wissenschaftliche Denkrichtung. Eine genauere Auseinandersetzung über die Brauchbarkeit und Anwendbarkeit dieser Theorie würde hier zu weit führen. Empfehlenswert für eine weitere Beschäftigung damit ist das Buch „Komplexität: ‚Chaostheorie‘ und die Linke“ von Gernot Ernst (2009, erschienen im Schmetterling Verlag).

Das Buch „Herrschaftsfreie Institutionen“ ist und entwickelt keine zusammenhängende Theorie, sondern versammelt sieben Aufsätze der beiden Autoren. Diese Stückwerkstheorie ist aber kein Manko, sondern Programm, das zahlreiche Überraschungen parat hält: Wer kommt schon von selbst auf die Idee, dass Architektur oder Glücksspiel anarchistisch sein können? Oder was macht die altisraelische Gesellschaft zur Richterzeit, wie sie im Alten Testament der Bibel beschrieben ist, herrschaftslos und egalitär? Tatsächlich macht es einen Unterschied, ob Architektur so verstanden wird, dass sie egalitäres Zusammenleben ermöglicht, oder ob Hierarchien bereits durch die Bauweise von Häusern entstehen. Auch hier ist es wieder sinnvoll und hilfreich, auf egalitäre Gesellschaften zu schauen, wie diese gebaut haben. Das Kapitel gibt hierfür sehr anschauliche Beschreibungen. Dass Spiele kapitalistischen Wettbewerbscharakter haben, ist bekannt, aber es gibt heute zahlreiche kooperative Spiele, und der Rückblick auf frühere Gesellschaften zeigt, dass dies schon lange vor unserer Zeit gängige Praxis war. Aber wie kommen die Autoren ausgerechnet auf die Idee, dass Glücksspiele und Casinos typisch für herrschaftsfreie Gesellschaften sind? Gerade solche unerwarteten, dann aber sehr schön aufgelösten Rätsel machen eine Stärke des Buchs aus. Glücksspiele haben mehr mit Zufall als mit dem Können oder der Raffinesse der Spieler*innen zu tun, sodass es nahe liegt, dass die Gewinne nicht an die zufällig gewinnenden Personen ausgezahlt werden, sondern an die Gemeinschaft zurückgeführt werden, dass also der Spaß am Spielen selbst die Belohnung ist.

Fast durchgehend stehen sogenannte segmentäre Gemeinschaften im Mittelpunkt, die dadurch gekennzeichnet sind, dass sie horizontal strukturiert sind, in Familien und Clans.

Im letzten Kapitel wird aber auch eine frühe Hochkultur beschrieben, nämlich das vorstaatliche Israel vor mehr als 1.000 Jahren vor der christlichen Zeitrechnung. Die Bevölkerung war sesshaft geworden und konnte mit großer Wahrscheinlichkeit schon weitgehend schreiben. Und sie war egalitär strukturiert, das heißt, dass also auch Hochkulturen nicht notwendigerweise vertikale Herrschaftsstrukturen aufweisen mussten. Ob dies ein Indiz dafür ist, dass egalitäre Vergemeinschaftungen auch in moderne Gesellschaften hinübergerettet werden können, muss offenbleiben.

Es ist in der Tat schade, dass Haude und Wagner ans Ende ihres Buches keinen Ausblick auf die Gegenwart vorgenommen haben. Es muss ja nicht gleich ein Katalog von Kriterien sein, nach denen in der heutigen Gesellschaft Herrschaft abgebaut und Gleichheit (in Freiheit) hergestellt werden kann. Dennoch wäre es interessant zu wissen, wie segmentäre Elemente in der heutigen Gesellschaft genutzt werden können, um Herrschaft und Staatlichkeit zurückzudrängen. Es wird in dem Buch deutlich, dass segmentäre oder fraktale Gesellschaften nicht von vornherein positiv zu sehen sind: Wer denkt heutzutage bei Clans nicht auch an mafiöse kriminelle Vereinigungen? Und die Rolle der Frauen war in frühen Gesellschaften sicher meist alles andere als egalitär, geschweige denn emanzipiert. Der Abbau von Herrschaft und Hierarchie läuft aber meist über Dezentralisierung und Föderation; und das sind typische Kennzeichen von segmentärer Unterteilung.

Das Buch ist sprachlich nicht einfach zu lesen und wissenschaftlich geschrieben. Das muss nicht grundsätzlich problematisch sein, denn die Sprache ist eindeutig und präzis. Sie ist dem wissenschaftlichen Anliegen, sich Gehör in den Sozialwissenschaften zu schaffen, angemessen. Für nicht-akademische oder nicht wissenschaftlich geschulte Leser*innen ist die Sprache jedoch ein Hindernis. Vielleicht ist es deshalb hilfreich zu erwähnen, welche Aufsätze des Buchs eher anwendungsorientiert und konkret beschreibend sind (4 bis 7) im Vergleich zu den abstrakten, theoretischen Kapiteln (1 bis 3). Egal, welche Teile man lieber liest, die Argumentation ist gleichbleibend originell, klug und plausibel.

Die beiden Autoren haben mit der zweiten Auflage die Fehler der ersten Auflage korrigiert, haben auch Kritik verarbeitet (etwa die Sprachkritik von Bernd Drücke in seiner Rezension zur ersten Auflage 1999), haben aber dennoch die Gelegenheit nicht genutzt, den Band grundlegend zu überarbeiten oder zumindest um ein Kapitel zu ergänzen, in dem der neueste Forschungsstand berücksichtigt worden wäre. In ihrem Vorwort zur zweiten Auflage begründen Haude und Wagner diesen inhaltlichen Verzicht sowie die nicht-vorgenommene sprachliche Feminisierung. Beides zusammen hätte in der Tat einige zusätzliche Arbeit gekostet, wäre aber die Mühe wert gewesen – meines Erachtens ein Versäumnis. Hauptsache aber ist, dass das Buch jetzt wieder verfügbar ist, an Aktualität und Qualität hat es keineswegs eingebüßt.

 

Prof. Dr. Armin Scholl ist Kommunikationswissenschaftler und Journalismus-Forscher. Er lehrt am Institut für Kommunikationswissenschaft der Uni Münster.

Anmerkungen:

1) Siehe: https://www.graswurzel.net/gwr/1999/10/das-rote-buch/

2) Siehe: https://www.bibliothekderfreien.de/buch-des-jahres.html#buch2019

 

Rüdiger Haude und Thomas Wagner: Herrschaftsfreie Institutionen. Texte zur Stabilisierung egalitärer Gesellschaften, Heidelberg: Verlag Graswurzelrevolution, Heidelberg 2019, 248 Seiten, 12 Abb., 17,90 Euro, ISBN 978-3-939045-37-3

Dies ist ein Beitrag aus der aktuellen Druckausgabe der GWR. Schnupperabos zum Kennenlernen gibt es hier.