Der Liedermacher Bernd Köhler legt einen ersten Band mit Texten von 1967 bis 1989 vor.
„Über Musik schreiben ist wie zu Architektur tanzen“ soll Frank Zappa oder wahlweise Steve Martin mal gesagt haben. Abgesehen davon, dass man durchaus zu Architektur tanzen kann, ist es allerdings ein Unterschied, über Musik zu schreiben und zu lesen oder aber den Text zur Musik selber zu schreiben und zu lesen. Bernd Köhler hat alle seine Texte von 1967 bis 1989 in dem Buch „Nachrichten vom Untergrund“ versammelt. Ein zweiter Band mit den Texten 1990 – 2019 soll Mitte des Jahres 2020 folgen.
Der Mannheimer Liedermacher Bernd Köhler macht jetzt seit 1967 politische Musik und es ist fast unmöglich, die Facetten seines (nicht nur musikalischen, sondern auch grafischen und praktischen) Engagements in einem Artikel aufzuzählen. Ein paar Eckpunkte, bei denen es vielleicht bei dem einen oder der anderen klingelt bzw. die ich besonders erwähnenswert finde: Mitbegründer des JUZ in Selbstverwaltung Mannheim (für mich selber als Mitglied des Kabarettensembles „Der Blarze Schwock“ um die Jahrtausendwende der erste Kontakt mit dieser Stadt), 1974 die erste LP im Eigenverlag „Schlauch singt“, 1984 auf Tournee durch die bestreikten Betriebe während des Kampfes um die 35-Stunden-Woche, Mitbegründung des Alstom-Chors, dem vermutlich einzigen Betriebschor, der – gegründet im Protest gegen die versuchte Standortschließung 2003 – in der Arbeitszeit auf Werksgelände proben durfte (1), 2019 hat Bernd im Rahmen der 70-Jahr-Feier des DGB in Mannheim die Böckler-Medaille erhalten. Bernds Gesicht, Stimme und Gitarre sind auf nahezu allen Protesten im Rhein-Neckar-Gebiet unverzichtbar, neben regelmäßigen Auftritten am 1.Mai und bei Streiks etwa bei antifaschistischen Protesten. Eines der bekanntesten Lieder ist dann auch „Gute Tradition“, bekannter unter seinem Untertitel „Nazis raus aus dieser Stadt“. Der Song von 1978, der auch noch bei den Protesten gegen den NPD-Parteitag in Weinheim 2015 seine Relevanz hatte, gewinnt seinen Charme durch das Lokalkolorit. Aufhänger des Songs ist der Widerstand im Mannheimer Ortsteil Neckarstadt gegen einen Naziaufmarsch in den 1930er Jahren.
Das ist nur einer von (wenn ich richtig gezählt habe) 62 Songtexten, die in dem ersten Band dieser schriftlichen Retrospektive dokumentiert sind. Die Texte sind in Themenblöcken zusammengefasst. Das macht das Buch auch zu einem spannenden zeithistorischen Dokument, weil es die jeweiligen Themen der sozialen Bewegungen spiegelt: Geht es auf den ersten Seiten noch um den Schulalltag, Mädchen oder ums Trampen wird bald die Forderung nach einem Jugendzentrum („Lied der Domicil-Leute“ 1972, S.47; „Heut ist die Frist abgelaufen“, 1973, S.49) relevant. Darauf folgen das Engagement gegen Neofaschismus, die internationale Solidarität (vor allem die Chile-Solidarität), und vermehrt in den 1980ern Streik, Arbeiterbewegung und Gewerkschaften. Wackersdorf (S.151), Brokdorf (S.155), Tschernobyl (S.177) und die Themen der Friedensbewegung werden natürlich ebenfalls besungen.
Bücher mit Songtexten sind letztlich natürlich ein wenig ambivalent, denn etwas Wesentliches fehlt immer. Darum abschließend drei Dinge: Was Bernd Köhlers ersten Band seiner textlichen Retrospektive besonders spannend macht, sind das biografische Vorwort und vor allem die eingestreuten Originalfotos, -plakate und –dokumente. So berichtet Bernd Köhler im Vorwort etwa von der Inszenierung von Brechts „Baal“ durch die Theatergruppe des JUZ Limburgerhof 1969 – wer das weiß, findet gerade in den frühen Songs sehr viel Brecht wieder. Mein Liebling unter den historischen Dokumenten: Der Springer-Artikel „Solche Künstler machen Werbung für den DGB“ und die Antwort Bernd Köhlers (S.104f.). Im Anhang finden sich zusätzlich persönliche Anmerkungen (S.187 – 190) zu einigen Lyrics, die diese politische kontextualisieren. Diese Kontextualisierung hätte ich mir mehr gewünscht, denn gerade sie macht Bernds Lieder spannend.
Zweitens: Klar, was fehlt ist die Musik zum Text. Wer sich dieses Buch kauft, sollte auf eine Platte nicht verzichten. Bernd selber empfiehlt abschließend „Schlauch live – Das Hartmannstraßenkonzert 1989“ (zu bestellen unter seiner Mailadresse bk@ewo2.de). Ich möchte unbedingt die CD „Keine Wahl“ dazu empfehlen. Diese enthält Neuaufnahmen von seinen Liedern aus Arbeitskämpfen von 1971 – 2013, die Bernd Köhler mit dem „kleinen elektronischen Weltorchester“ (ewo2) 2013 neu interpretiert hat (dazu gibt es übrigens auch ein Buch, beides erhältlich u.a. beim Jumpup-Mailorder und natürlich auch unter angegebener Mailadresse). Die „musikalische Zutat“ (Noten gibt es in dem Buch übrigens auch, aber damit kann ich nichts anfangen) zu den Texten ist auch deswegen relevant, weil Bernd es immer verstanden hat, sehr fähige und empathische Musiker*innen um sich zu sammeln – das ist eine sinnvolle Alternative zu dem, was Mannheim sonst so an musikalischen Söhnen und Töchtern aufzuweisen hat (wobei es da noch mehr gute gibt – exemplarisch seien Chaoze One, Überdosis Grau und Joy Fleming erwähnt…).
Damit zum dritten und letzten Punkt: Eine zweibändige Retrospektive mit den Songtexten der Jahre 1967 bis 2019 kann natürlich nur dann empfohlen werden, wenn von einem dritten Band auszugehen ist, d.h. letztlich, wenn wir alle noch in Genuss weiterer Platten und Konzerte von Schlauch, ewo2 und anderen Projekten kommen.
(1) Der Mannheimer Standort wurde mittlerweile an General Electrics verkauft und wird abgebaut. Über den Alstom-Chor gibt es einen ausführlichen und spannenden Dokumentarfilm: „Resistánce – unsere Chance“, Lieder des Chors sind auch in den Dokumentarfilm „StrikeBike – eine Belegschaft wird rebellisch“ aufgenommen worden.
Bernd Köhler: Nachrichten vom Untergrund. Lieder und Texte 1967 – 1989, Llux Verlag, Ludwigshafen 2019, 192 S., 15,- Euro, ISBN 978-3-938031-81-0
Dies ist ein Beitrag aus der aktuellen Druckausgabe der GWR. Schnupperabos zum Kennenlernen gibt es hier.