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Vom Lehrplan gestrichen

Roman eines Schicksallosen

| zinkhund

012002 ging in Budapest das Gerücht, in diesem Jahr werde ein ungarischer Schriftsteller  mit dem Nobelpreis geehrt und man diskutierte, ob Péter Esterházy oder Péter Nádas ihn erhalten würde. Ausgezeichnet wurde Imre Kertész für seinen Roman eines Schicksallosen. Die Entscheidung stieß bei vielen Ungarn auf Unverständnis und manche Stimmen haderten mit dem Stockholmer Komitee. Denn, wie lange würde man nun warten müssen, bis endlich ein richtiger Ungar nominiert werde.

Imre Kertész wurde 1929 in Budapest geboren und mit 14 Jahren wegen seiner jüdischen Herkunft über Auschwitz nach Buchenwald verschleppt. Nach der Befreiung 1945 kehrte er nach Budapest zurück. Es hat lange gedauert, bis der Roman eines Schicksallosen als einer der wichtigsten Texte über den Holocaust erkannt wurde. Er erschien 1975 in einer kleinen Auflage, erst die zweite Ausgabe 1985 erlangte etwas größere Bekanntheit in Ungarn. Das Buch wurde in viele Sprachen übersetzt und war im Ausland bekannter als in Ungarn. In Deutschland erschien es 1990 unter dem Titel Mensch ohne Schicksal.

Kertész ging es nicht darum, seine Autobiographie zu verfassen, sondern er begreift, jenseits des eigenen Schicksal, den „funktionalen Menschen des 20. Jahrhunderts“ als Problem. Thema seiner literarischen Arbeit ist die Auseinandersetzung mit dem Totalitarismus und das Schicksal eines entmündigten, „funktionalen“ Menschen. Sein Schicksal brachte Kertész mit 22 Jahren, als er zum Militärdienst eingezogen wurde, in die „Situation des Henkers, des Täters“, da er als Wärter in einem Militärgefängnis Dienst tun musste. So erfährt er, auf unterschiedlichen Seiten, was totalitäre Mechanismen Menschen antun und die Geschichte raubt ihm zweimal seine Persönlichkeit. „Der einzig mögliche Gegenstand des Romans ist: die Rückeroberung, das Erlebnis des Lebens und dass wir davon erfüllt sind, einen einzigen weihevollen Augenblick lang, bevor wir vergehen.“ Zwölf Jahre nach der Verleihung des Nobelpreises wurde er von der Regierung Orbán für den höchsten ungarischen Staatspreis nominiert, den er trotz seiner Distanz zu jenen, die sich „illiberal“ nennen und der Gefahr von ihnen vereinnahmt zu werden, in der Hoffnung annahm, er könne zu einem Konsens in seinem Land beitragen.

Anfang 2020 entfernte die FIDESZ-Regierung den einzigen ungarischen Literaturnobelpreisträger aus dem Bildungskanon. Nach Ansicht der Herrschenden spiegelt der Staatliche Grundlehrplan (NAT) „den Lehrstoff im Fach Ungarische Literatur die Wertvorstellungen der überwiegenden Mehrheit der Gesellschaft“ wieder. Die Gestaltung des Lehrplans für die ungarischen Schulen lässt keine Zweifel an seiner politischen Intention.

Nach der Logik des „Kulturkampfes“ enthält der Kanon die Bücher des Faschisten und Kriegsverbrechers Albert Wass, der 1946 in Rumänien wegen Kriegsverbrechen zum Tode verurteilt wurde. Das Gericht erachtete seine  Mitverantwortung an der Erschießung von 15 Zivilisten auf dem Gut seiner Familie für erwiesen. Ihm wurde in den USA Asyl gewährt. Unter Rechtsradikalen erfreut sich seine volksverhetzende Schrift Die Landnahme der Ratten. Ein Lehrstück für junge Ungarn großer Beliebtheit. Damit auch der Dümmste versteht, wer mit den Ratten gemeint ist, zeigen manche Ausgaben Illustrationen im Stil des antisemitischen Kampfblattes Der Stürmer. Die Schüler werden angehalten an Wass‘ Geburtstag einen 24-stündigen Lesemarathon abzuhalten.

Imre Kertész, Übers. von Christina Viragh: Roman eines Schicksallosen, Rowohlt Taschenbuch, Berlin 1999, 288 S. 10 Euro, ISBN: 349922576X [Deutsche Erstausgabe als Mensch ohne Schicksal bei Rütten & Loenig, Berlin, 1975]

Dies ist ein Beitrag aus der aktuellen Druckausgabe der GWR. Schnupperabos zum Kennenlernen gibt es hier.