Der Angriff der türkischen Armee im Norden des kurdischen Selbstverwaltungsgebietes Rojava vom Oktober 2019 hat eine verzweifelte, katastrophale Lage hinterlassen. Die Niederlage der kurdischen „Selbstverteidigungsmiliz“ (YPG) wird hier als Zäsur analysiert. Es ist an der Zeit, die Periode von 2013/14 bis Ende 2019 einer ausführlichen Analyse und Auswertung aus gewaltfrei-anarchistischer Sicht zu unterziehen. Der folgende erste Teil wird in den nächsten Ausgaben der GWR fortgesetzt durch zwei Artikel über die taktischen Bündnisse mit dem mörderischen Assad-Regime sowie zu nicht-militärischen Alternativen und Utopien zur bewaffneten Verteidigung sozialrevolutionärer Errungenschaften – in Rojava und anderswo. Eine dieser Alternativen wird hier am Ende von Teil 1 schon angedeutet. (GWR-Red.)
Der militärische Überfall des türkischen Militärs auf Rojava begann am 9. Oktober und hatte bereits nach einer Woche, am 17. Oktober, 299 kurdischen Kämpfer*innen und einen türkischen Soldaten das Leben gekostet. Zum Waffenstillstand kam es am 17. Oktober, er wurde jedoch bis in den November hinein gebrochen, was weitere Schwerverletzte und Tote forderte. Rund 300.000 Menschen sind geflohen. Das türkische Militär hat auf ca. 300 km Länge und in einer Tiefe von bis zu 50 km hinter der Grenze Ziele bombardiert und sich dabei von islamistischen Kämpfern der „Freien Syrischen Armee“, die besonders grausame Enthauptungen begangen haben, in wichtigen Frontabschnitten helfen lassen.
Am 14. Oktober erhielten die 1000 noch in Nordsyrien am Boden stationierten US-Truppen von Trump den Befehl, das Land zu verlassen; gleichzeitig rückte syrisches und russisches Militär in bisher von der YPG/SDF (Demokratische Kräfte Syriens, von der kurdischen Miliz YPG dominiert) gehaltene Städte ein. Gemeinsame russisch-türkische Patrouillen entlang der vorläufigen Waffenstillstandslinie begannen am 1. November 2019. Hinter diesen militärischen Abläufen verbirgt sich eine humanitäre Katastrophe, die sich danach mit dem Krieg der Türkei gegen die Truppen Russlands und Assads um Idlib fortsetzte.
Fünf Monate nach dieser Zäsur in Nordsyrien ist es an der Zeit, das militärische Verteidigungskonzept, das hier seit 2013-14 zur Anwendung gekommen ist und weltweite Solidarität erfahren hat, kritisch zu überdenken – gar nicht einmal so sehr im Hinblick auf Rojava selbst, sondern im Hinblick auf zukünftige Konstellationen ähnlicher Art.
In kleinen Gebieten Rojavas harren Nicht-Geflüchtete noch jenseits der Kontrolle der Assad-Armee aus und versuchen, diese nicht besetzten Gebiete bewaffnet zu verteidigen. Die YPG-Delegierten baten Assad am 13. Oktober 2019 darum, nach Nordsyrien zurückzukehren, um mit ihnen die türkischen Truppen zu bekämpfen. Ähnlich hatten sie 2018 beim türkischen Überfall auf Afrin Assad zur Verteidigung des syrischen Territoriums aufgerufen und sich der syrischen Nation dadurch unterstellt. Sie taten das nun sogar, nachdem kurz zuvor das Assad-Regime in einer Presseerklärung verlautbart hatte, die YPG hätten ihr Land verraten, Verbrechen gegen Syrien begangen und seien Geiseln ausländischer Mächte (USA) in Syrien. Es ist kaum zu erwarten, dass Assad bei vollständigem Sieg in Idlib freie kurdische Gebiete zulässt. (1)
Die militärischen Selbstverteidigungskräfte YPG/SDF haben diese Katastrophe nicht verhindern können. Die militärische Selbstverteidigung ist gescheitert. Doch innerhalb der Linken und der Solidaritätsbewegung Europas will sich dieser Tatsache kaum jemand stellen. Noch immer dominieren die alten Parolen des „Weiter so“: „Rojava verteidigen! Solidarität mit Rojava!“ – ganz so, als wäre inzwischen nichts geschehen.
YPG-Niederlage I: Falsches Vertrauen in die US-Armee. Die Rede vom „Verrat Trumps“
Der Krieg in Syrien sollte im Gesamtzusammenhang mit den seit Jahrzehnten andauernden Kriegen um Einfluss- und Interessenssphären von Welt- und Regionalmächten im gesamten Mittleren Osten analysiert werden.
George Bush hatte mit seiner US-Invasion Kuwaits gegen die Hussein-Truppen 1991 diese 3 Dekaden direkter westlicher Militärinterventionen begonnen; Bill Clinton hatte Ende der Neunzigerjahre mehrfach den Irak bombardiert und ein „genozidales“ (Ramsey Clark) Sanktionsregime installiert. Und George W. Bush führte die Kriege gegen Afghanistan 2001 und gegen den Irak 2003, die fürchterliche Bürgerkriege zur Folge hatten und sich 2013 nach Syrien ausweiteten. Anstatt „Mission accomplished“ also Bürgerkrieg inklusive vielfältiger Interessen ausländischer Kriegs- und Interventionsmächte! Wer bezweifelt hat, dass die Demonstrationen und der Widerstand gegen diese Kriege 1991 und zu Beginn des 21. Jahrhunderts berechtigt waren (antideutsche Kriegstreiber*innen etwa, aber nicht nur sie), wird grausamer als selbst in unserer damaligen Vorstellungskraft eines Besseren belehrt.
Emanzipative Ausgangsmotive der Kurd*innen in Rojava waren der Schutz der Jesid*innen gegen die Verfolgung durch den IS – das soll hier nicht vergessen werden – sowie der Versuch, eine demokratisch-föderative Autonomie durchzusetzen.
Bleiben wir aber bei den Interessen der US-Kriegsführung. Es ging den USA ab 1991 um die weltmachtpolitische Kontrolle der Ölflüsse in der Region – vor allem über Preise (billiges Öl) und Ausbeutungsrechte westlicher Ölkonzerne (nicht zu verwechseln mit direkten US-Ölimporten aus dem Irak, die gering blieben). Zynisch bewies Donald Trump in Kontinuität – und eben nicht im Bruch – mit den bisherigen US-Administrationen dieses machtpolitische Interesse durch seinen „Rückzug vom Rückzug“: US-Truppen kamen wieder, aber nur zum Schutz nordsyrischer Ölanlagen – und nicht etwa kurdischer Menschen.
Trumps Interessen in der Region sind – wie alle US-Interessen davor – rein nationalistisch bestimmt. Solange der IS (davor Bin Laden und Al-Quaida) die Kontrolle über Ölflüsse störte, musste er bekämpft werden – und genau so lange waren
die YPG/SDF-Militäreinheiten willkommene Verbündete und – der Begriff ist schmerzlich, aber leider zutreffend – „nützliche Idiot*innen“. Sobald der IS militärisch besiegt war, wurden die YPG ohne jedes Bedauern fallen gelassen. Diese Analyse ist evident – ich frage mich, wie sowohl die Solidaritätsbewegung als auch die YPG selbst diese rein national strukturierte Interessens-Kriegsführungspolitik der USA vergessen und annehmen konnten, am Schutz des Bündnispartners gegen den IS sei Trump irgendwas gelegen. Dass dies aber genauso war, beweist die Rede vom „Verrat Trumps“ (2).
Diese Rede ist offensichtlich falsch: „Verraten“ kann nur etwas werden, woran vorher legitimer Weise geglaubt werden konnte, wo vorher ein Minimum an Gemeinsamkeiten bestand. „Wer hat uns verraten, Sozialdemokraten“, dem Spruch lag angesichts der ursprünglichen, kurzen Anfangsphase der SPD im 19. Jahrhundert wenigstens ein Minimum an Realismus zugrunde. Der Begriff des „Verrats“ setzt vorangehendes „Vertrauen“ voraus. Ich frage mich, bei welchem Punkt konnte man Trump jemals vertrauen? Es gibt nur einen Trump: Der neofaschistische Rassist, der die US-Grenzen nach Mexiko und nach ganz Südamerika mit einer Mauer schließt und der, der behauptet, er würde den Kurd*innen helfen, ist ein- und derselbe Trump. Er hat den INF-Vertrag und den Iran-Atomwaffenvertrag gebrochen. Seiner Wahlfang-Parole, US-Soldat*innen heimholen zu wollen, widerspricht die Tatsache, dass Trump seit Mai 2019 14.000 Soldaten und Soldatinnen zusätzlich in den Großraum Mittleren Osten gesandt hat und dort einen Drohnenkrieg führt. (3)
Jedes an Trump gerichtete Vertrauen war und ist politisch unmoralisch, einer emanzipativen Perspektive unwürdig.
Doch solch ein Bündnis sind die YPG mangels anderer militärischer Bündnispartner eingegangen – und zwar aus militärischen „Notwendigkeiten“. Der Bündnispartner Trump war selbstverständlich „ungeliebt“, aber eben alternativlos usw. – so lautet das ständig wiederholte Credo.
Gewaltfreie Anarchist*innen und Antimilitarist*innen kennen dieses Credo, etwa aus dem spanischen Bürgerkrieg bis hin zur Militarisierung der Milizen. Und sie erkennen in dieser Sprache die Realpolitik einer „Dynamik der Militarisierung“, die in Gang gesetzt wurde, nachdem man sich einmal (2013/2014) in Rojava auf militärische Verteidigung eingelassen hat. Man schlittert in der Folge von einer realpolitischen „Notwendigkeit“, von einem Bündnis mit Verbrecherregimes zum nächsten – bis am Ende dieser Abfolge von Notwendigkeiten doch die katastrophale militärische Niederlage steht.
YPG-Niederlage II: Der Mythos von den ausreichend starken militärischen Eigenkräften bei der Verteidigung gegen den IS
Dem gegenüber steht innerhalb der Linken und der Solidaritätsbewegung Europas ein parallel verlaufender Diskurs, der dem eben benannten inhaltlich völlig entgegengesetzt ist. Die insgesamt 10.000 bis 11.000 toten kurdischen Kämpfer*innen der YPG/SDF, so geht diese Argumentationslinie, seien der Tatsache geschuldet, Rojava gegen den IS erfolgreich verteidigt zu haben – und es entsteht dabei der Eindruck, das sei hauptsächlich aufgrund der eigenen militärischen Stärke geschehen. Auch von Seiten der YPG/SDF verlautete ja nach dem Rückzug der US-Armee, man vertraue nun wieder ausschließlich den eigenen militärischen Kräften. Hier will ich auf einen klaren Widerspruch hinweisen.
Wenn es denn tatsächlich so gewesen wäre, dass sich die YPG/SDF ganz allein erfolgreich gegen den IS militärisch verteidigt hätte, warum dann überhaupt die US-Armee als Bündnispartner? Wenn man allein militärisch siegt, benötigt man keine US-Armee und kann auf Trump getrost verzichten. Linke Argumentationen zur Rechtfertigung der bewaffneten Verteidigung sollten sich mal selbst ernst nehmen.
Dieser Widerspruch basiert auf einem bestimmten Eindruck, den Befürworter*innen der militärischen Verteidigung herstellen wollen: den ausreichend starken militärischen Eigenkräften. Meiner Meinung nach hätten die YPG/SDF den militärischen Verteidigungskampf gegen den IS am Boden nicht gewonnen – gewonnen haben sie ihn durch die Luftunterstützung der US-Luftwaffe, wie bereits 2014 bei der Verteidigung Kobanes offensichtlich wurde.
Niemand würde ja auch behaupten, die YPG hätte bei ihren späteren Offensiven, etwa bei der Rückeroberung von Raqqa im September 2017, allein gesiegt. Dass es bei dieser Offensive durch die Luftschläge des Bündnispartners US-Armee zu sinnlos vielen Opfern, ja Kriegsverbrechen gekommen ist, etwa durch den Einsatz von weißem Phosphor, gehört auch zur Gesamtbilanz der US-kurdischen Militärallianz. (4)
Nicolas Joxe, arte-Reporter, dokumentierte etwa 2016 Aussagen kurdischer Milizionär*innen zum Wert der bisherigen US-Militärhilfe, nicht nur der Waffenhilfe, sondern besonders der Luftunterstützung, dass diese „für die Kurden unentbehrlich“ sei. (5) Daraus muss der Schluss gezogen werden, dass die YPG/SDF Rojava gegen den IS nicht verteidigen konnten, sondern nur mit Hilfe der US-Armee. Der IS hätte die YPG allein wahrscheinlich ähnlich militärisch überrannt, wie er gewaltfreie Kämpfer*innen überrannt hätte, wenn sie sich ihm in den Weg gestellt hätten.
Der linke Solidaritätsdiskurs von Trump als angeblichem „Verräter“ und der gleichzeitig vermittelte Eindruck von der militärischen Eigenstärke der YPG/SDF, die sich – allein und erfolgreich – gegen den IS verteidigt hätte, ist grundlegend falsch und widersprüchlich. Dieser Widerspruch zeigt, dass es diesen Linken um die ideologische Verteidigung des bewaffneten Widerstands geht – auch noch über die offensichtliche militärische Niederlage und die für alle sichtbare Katastrophe hinweg.
YPG-Niederlage III: Innere Selbst-Militarisierung. Der Griff zur Zwangsrekrutierung noch vor Einmarsch der türkischen Armee
Neben der ständigen Rede von der „Notwendigkeit“ der und dem „Gezwungensein“ zur Zusammenarbeit mit falschen oder ungeliebten militärischen Bündnispartnern, ob national (Assad) oder international (US-Armee), tritt die militarisierende Dynamik auch innerhalb der YPG/SDF im Laufe der militärischen Entwicklung zu Tage – und zwar in zunächst örtlich und dann generell auftretenden Zwangsrekrutierungen.
In Rojava wurde 2014 ein „Gesetz über die Wehrpflicht“ für Rekrut*innen im Alter von 18 bis 30 (!) verabschiedet. Seit 2015 sind Zwangsrekrutierungen bekannt, vor allem in armenischen und assyrischen Bevölkerungsgruppen. (6) Offiziell ist Kriegsdienstverweigerung verboten, wenn auch in einzelnen Fällen Kriegsunwillige intern in die hinteren Etappen versetzt werden. Aber es gibt kein offizielles Gesetz und keine formale Zulassung von Kriegsdienstverweigerung. (7) Warum? Wenn das doch eine emanzipative Armee sein soll?
In der genannten arte-Reportage von Nicolas Joxe aus dem Jahr 2016 wird berichtet, dass sich Hunderte Kriegsdienstpflichtige in Rojava versteckten; dass Rekruten im Militär umgerechnet maximal 50 Dollar Lohn erhalten, die nicht mal für Zigaretten reichten; dass die Versteckten von der kurdischen Polizei (Asayish) bei Kontrollen und Straßensperren so intensiv gesucht würden, dass sie nur auf heimlichen Wegen zur Arbeit gehen könnten; dass die Zahl der Deserteur*innen ansteige; dass es vermehrt zur Rekrutierung Minderjähriger gekommen sei. (8)
Ich bin gewaltfreier Anarchist und kritisiere hier die Dynamik der Militarisierung der YPG/SDF grundsätzlich, beginnend mit der Entscheidung für bewaffnete Verteidigung 2013/14. Aber ich kann natürlich Verständnis dafür aufbringen, dass sich die Menschen in Rojava angesichts eines Gegners wie dem IS gewaltsam, bewaffnet und/oder mit militärischen Strukturen verteidigt haben. Gandhi hat einmal, 1939, angesichts des Nazi-Überfalls auf Polen, bei der – äußerst kurzen und hauptsächlich symbolisch bedeutsamen – bewaffneten Verteidigung der polnischen Armee gegen die übermächtigen Horden der NS-Invasionsarmee hierfür den Begriff „fast gewaltfrei“ mit Betonung auf „fast“ benutzt. (9) Bedingung dafür war jedoch das offensichtliche Nicht-Vorhandensein gewaltfreier Widerstandsoptionen. Ob das im vorliegenden Fall in Rojava wirklich der Fall war, will ich in den Folgeartikeln zu dieser Analyse genauer diskutieren.
Aber selbst diejenigen, die sich in dieser Frage keinerlei Gewissensbisse machen, die die militärische Verteidigung wie selbstverständlich befürworten, müssen sich doch eines fragen: Wenn die Identifikation der Bevölkerung mit den YPG/SDF wirklich so hoch war, wie ständig behauptet wird, warum griffen die YPG/SDF dann längst vor der türkischen Invasion des Oktober 2019 zum Kriegsdienstzwang und zu Formen der Zwangsrekrutierung? Wenn die Propaganda der YPG/SDF stimmen würde, dann dürften sie das nicht nötig haben! Oder ist es die traditionelle nationalistisch-militaristische Gewohnheit, die sowohl YPG-Kämpfer*innen als auch linke Solidarisierer*innen daran hindert, Zwangsrekrutierungen als Problem wahrzunehmen? Man muss nicht überzeugte/r Gewaltfreie/r sein, um den qualitativen Unterschied von gewaltsamer Gegenwehr und Zwangsrekrutierung zu bemerken – und zu kritisieren.
Alternativen I: Ein Blick nach Algerien und Sudan: Erfolgreiche gewaltfreie Massenbewegung ohne interessengeleitete internationale Interventionsmächte
Als grundsätzlicher Kritiker der militärischen Verteidigung revolutionärer Errungenschaften behaupte ich nicht, dass gewaltfreie Strategien ein Allheilmittel wären und jederzeit erfolgreich. Aber die Befürworter*innen der militärischen Verteidigung können heute ebenso wenig auf Erfolge ihrer Strategie verweisen und sollten ihren Blick angesichts des gegenwärtigen Desasters der militärischen Verteidigung in Rojava einmal auf jüngste, erstaunliche und gewaltfreie Siege gegen vergleichbar autoritäre Regime richten, zum Beispiel im Sudan: Dort wurde durch eine gewaltfreie Massenbewegung im Jahr 2019 das brutale islamistische Regime Omar al-Baschir gestürzt, das 30 Jahre an der Macht war und etwa den Genozid in Darfur zu verantworten hat. Solidarität der Metropolenlinken: Fehlanzeige – mit Ausnahme einiger Antimilitarist*innen aus der War Resisters’ International. Solche Bewegungen werden nicht einmal strategisch, unter Aufstandsgesichtspunkten wahrgenommen.
Im April 2019 schoss im Sudan das Militär bei einer vierwöchigen Massenblockade der zentralen Armeekaserne in Khartum in die Menge und tötete ca. 130 Blockade-Aktivist*innen. Die Bewegung blieb trotzdem gewaltfrei und erreichte inzwischen ein Abkommen mit dem Militär, das zumindest die Diktatur beendet. Die sudanesische Bewegung ist trotz dieses Massakers weit entfernt von jenen ca. 10-11.000 Toten, die die YPG-Befürworter*innen jetzt anführen, um zu zeigen, welche Opfer die YPG im Krieg gegen den IS gebracht hat (siehe oben). Denn gewaltfreie Massenbewegungen verlieren aufgrund der fehlenden militärischen Dynamik in der Regel auch bei blutiger Repression weit weniger an Menschenleben. Im Sudan wird derzeit gezeigt, wie genozidale islamistische Massenmörder unbewaffnet gestürzt werden können. Und dabei war diese gewaltfreie Massenbewegung nicht einmal die einzige in der sudanesischen Geschichte – es gibt dort eine seit langem bestehende Kultur gewaltfreier Bewegungen, sogar mit anarchistischen und feministischen Einflüssen. (10)
Des Weiteren könnte die militärisch orientierte Linke ihren Blick auf Algerien lenken, wo seit einem Jahr eine gewaltfreie Massenbewegung die autoritäre und militaristische Diktatur des Bouteflika–Clans gestürzt hat. (11)
Das Wichtigste in beiden Fällen: Der Sudan hat Unmengen an Ölvorräten – und die gewaltfreie Massenbewegung hat trotzdem nie zu internationalen Militärinterventionen geführt, als das Regime existenziell bedroht war. Algerien hat Unmengen an Ölvorräten, und die gewaltfreie Massenbewegung, der sogenannte „Hirak“, hat ebenfalls nicht zu internationalen Militärinterventionen geführt! Zufall?
Dagegen: In Libyen gab es am Ausgangspunkt, 2011, sofort die Entscheidung für bewaffneten Aufstand und bewaffnete Verteidigung. Auch Libyen ist ein ölreiches Land. Sofort griff die ausländische Militärmacht Frankreich aus Machtinteresse an Ölflüssen ein – und heute, nach neun Jahren grausamen Bürgerkriegs, greift auch noch das türkische Militär als Möchtegern-Regionalgroßmacht ein! Weitere Beispiele wären möglich.
Selbstverständlich gibt es einen relativen Unterschied zwischen einer Mörderbande wie dem IS, die befreite Gebiete überrennen will, und diktatorischen Regimes, die von innen heraus bekämpft werden. In den Folgeartikeln will ich deshalb auch mögliche direkte Alternativen für die Situation Rojavas angesichts des IS-Ansturms diskutieren.
Die Rede vom militärischen Bündnispartner aus „Notwendigkeit“, aus „Gezwungensein“ kann nur in Situationen als Entschuldigung herhalten, in denen die Dynamik der Militarisierung weit fortgeschritten ist, sich zum Bürgerkrieg entwickelt und Zwangslagen herbeigeführt hat, die letztlich nur auf die ursprüngliche Entscheidung für bewaffnete Verteidigung der Bewegung/Revolution zurückzuführen sind. Bei diesem ursprünglichen Griff zur Bewaffnung ist in Rojava zusätzlich die Geschichte der PKK mitzudenken, deren 30-jähriger innerer Krieg gegen das türkische Militär keine systematische Entwicklung von Alternativen zugelassen hat. Ist diese Entscheidung einmal getroffen, kommt es zu „Notwendigkeiten“, die einer inneren Logik folgen und – wenn überhaupt – nur äußerst schwer durchbrochen werden können. Darum ist die Auseinandersetzung um die Ausgangsentscheidung über die Kampfmittel der Verteidigung so wichtig.
Algerien und Sudan beweisen, es geht – sogar gegen schlimmste Regimes – auch anders. Und auch Kurd*innen weltweit wollten am Ausgangspunkt von Rojava 2013/14 etwas anderes. Es gab durchaus auch kurdische Kritik an der militärischen Verteidigung. Deshalb druckte die GWR in Ausgabe Nr. 394 aus dem Jahr 2014 am Ausgangspunkt dieser Entscheidung
für militärische Selbstverteidigung gewaltfrei-anarchistische Stimmen von Londoner Exil-Kurd*innen des „Kurdistan Anarchist Forum“ (KAF) in mehreren Artikeln ab. Darin hieß es z.B. von Zaher Baher nach einem Besuch in Rojava:
„Wir glauben weder an den bewaffneten Kampf noch an Wahlen!“ (12)
Hier geht es zu Teil 2.
(1): Vgl. Wikipedia-Eintrag zur Invasion: https://de.wikipedia.org/wiki/Türkische_Militäroffensive_in_Nordsyrien_2019#cite_note-guardian-2019-10-17-126 .
(2): Diese Rede ist nicht nur in den linksliberalen Medien wie dem „Spiegel“ gängig (etwa Artikel „Der Verrat“, Spiegel-online, 8.10.2019), sondern taucht auch im linken und libertären Solidaritätsmilieu wie selbstverständlich auf, etwa in Michael Wilks Lagebericht in GWR 445, Januar 2020.
(3): Vgl. Jakob Reimann: „Kriegsgefahr und Lebenslügen. Der Mord an Soleimani und die Heuchelei der globalen Linken“, in GWR 446-447, März 2020, S. 12f.
(4): Vgl. Jakob Reimann: „Die US-Koalition begeht schwerste Kriegsverbrechen in der IS-Hochburg Raqqa“, 17.9.2017, siehe: http://justicenow.de/2017-09-17/die-us-koalition-begeht-schwerste-kriegsverbrechen-in-der-is-hauptstadt-raqqa/ .
(5): Vgl. Nicolas Joxe, arte, 28.9.2016, siehe: https://www.arte.tv/de/videos/092816-000-A/nordsyrien-kurdische-zwangsrekrutierungen/ .
(6): Vgl. z.B. die öffentlichen Proteste im Jahr 2015 von assyrischen und armenischen Bevölkerungsgruppen im Einflussgebiet der kurdischen YPG gegen Zwangsrekrutierungen für deren Volksmilizen: www.armradio.am/en/2015/11/03/assyrians-armenians-in-syria-protest-kurdish-confiscation-of-property/ .
(7): Vgl. die Antwort des anarchistischen Buchautors Pierre Bance auf meine Nachfrage dazu auf einer Veranstaltung im CIRA Marseille, 9. September 2017. Pierre Bance war mehrfach vor Ort und publizierte das Buch: „Un autre futur pour le Kurdistan? Municipalisme libertaire et confédéralisme démocratique“, Éditions Noir et Rouge, Paris 2017.
(8): Vgl. Nicolas Joxe, arte, 28.9.2016, ebenda, siehe Anm. 3.
(9): Vgl. M.K. Gandhi: „Der ideale Staat wird eine geordnete Anarchie sein“, 28. August 1940, in: Lou Marin, Horst Blume: „Gandhi: ‚Ich selbst bin Anarchist, aber von einer anderen Art’“, Verlag Graswurzelrevolution, Heidelberg 2019, S. 24f.
(10): Vgl. zu dieser libertär-gewaltfreien Tradition im Sudan: Guillaume Gamblin, Pierre Sommermeyer, Lou Marin (Hg.): „Im Kampf gegen die Tyrannei. Gewaltfrei-revolutionäre Massenbewegungen in arabischen und islamischen Gesellschaften: der zivile Widerstand in Syrien 2011-2013 und die „Republikanischen Brüder“ im Sudan 1983-1985, Verlag Graswurzelrevolution, Heidelberg 2018, dort vor allem Teil 2 über den Sudan, S. 96-141.
(11): Vgl. die beiden Algerien-Artikel von Leïla Ouitis in GWR 444 und 445, Dezember 2018 und Januar 2019.
(12): Vgl. Zaher Baher, Kurdistan Anarchist Forum (KAF): „Interne Faktoren: Ideologie und Öcalan-Kult im Schulunterricht“, kritische Passagen des Reiseberichts von Zaher Baher (KAF) vom Mai 2014 aus der syrisch-kurdischen Region Cizîrê, in: GWR Nr. 394, Dezember 2014, S. 15.
Dies ist ein Beitrag aus der aktuellen Druckausgabe der GWR. Schnupperabos zum Kennenlernen gibt es hier.