Vor dem Amtsgericht Lingen läuft der sogenannte „Rollstuhl-Prozess“. Die Staatsanwaltschaft wirft Atomkraftgegnerin Cécile Lecomte vor, bei einer Demonstration gegen die Brennelementefabrik von Framatome im Januar 2019 in der Fußgängerzone vor einem Polizeifahrzeug mit angezogener Rollstuhlbremse gestanden zu haben, als eine Demonstrantin festgenommen wurde.
Sie wurde laut Anklage mit ihrem Rollstuhl zur Seite getragen. Dieser Sachverhalt soll ein Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte sein. Die Staatsanwaltschaft Osnabrück verfolgt eine Aktivistin wegen angezogener Rollstuhlbremse auf einer Demo. Die Ermittlungen zum Brand vom 6.12.2018 in der Brennelementefabrik von Framatome stellte sie dagegen ein. Trotz nach wie vor ungeklärtem Verbleib vom ca. 1000 m3 uranhaltiger Flüssigkeit. Hauptsache, die „Grenzwerte“ wurde eingehalten, die radioaktive Brühe hat sich ausreichend verteilt. Das Gericht beschäftigte sich am 18. Februar 2020 schon zum dritten Mal mit der Rollstuhl-Bremse.
Hindernis Bahn und Sturmtief
Der erste Prozessanlauf scheiterte im Oktober 2019 an der Bahn und an der Fehlplanung des zuständigen Amtsrichters. Die Anreise der Angeklagten verzögerte sich wegen nicht barrierefreien Zügen und deshalb verpasstem Anschluss sowie wegen eingeschränkten Verbindungsalternativen, da es in Lingen kein Service-Personal gibt, um Rollstuhlfahrer*innen mit Hublift aus dem Zug zu helfen. Der Richter hatte zudem die Verhandlung auf einen Nachmittag terminiert und sich dabei eine Aussage der Angeklagten erhofft, um bei der Beweisaufnahme auf Zeugenvernehmungen verzichten zu können. „Ich kooperiere doch nicht mit einem Gericht, das mich durch die Unterschrift des Vorsitzenden auf einen Strafbefehl bereits vorverurteilt hat. Unvoreingenommen ist das nicht“, so Cécile.
Der zweite Prozessanlauf am 11. Februar 2020 wurde zunächst durch Tief „Sabine“ getrübt. Cécile war für die Anarchietage und einen Workshop über die Kunst des politischen Happenings in die Schweiz nach Winterthur gereist. Die zahlreichen Workshops waren spannend und die Tage gut organisiert. Bei der Rückreise herrschte allerdings Chaos. Der Nachtzug, der Cécile eine Rückreise im Liegen und ein Eintreffen in Lingen 24 Stunden vor Prozessbeginn ermöglicht hätte, fiel aus. Stattdessen dauerte die Rückfahrt 13,5 Stunden, mit vielen Erschwernissen. Bahnreisen mit Rollstuhl sind immer ein Abenteuer, weil die Fernverkehrszüge Stufen haben – und noch abenteuerlicher wird es, wenn ein Sturm den Bahnverkehr durcheinander bringt. Cécile konnte nicht mehr bei Gericht erscheinen, die lange stressige Reise hatte ihr zu viele Schmerzen bereitet und einen schweren Rheuma-Schub im Bereich der Halswirbelsäule ausgelöst.
Vor Gericht wurde sich jedoch in ihrer Abwesenheit darüber unterhalten, ob sie unentschuldigt fehle und ihr Einspruch gegen den Strafbefehl verworfen werden dürfe. Im Raum stand der Verdacht, die Angeklagte habe ihre Verhandlungsunfähigkeit absichtlich herbeigeführt. Lecomte habe „eine Pflicht, nicht das zu tun, wozu sie gesundheitlich nicht zu leisten in der Lage ist“ (sic!), wurde Richter Hofmeier wörtlich in der Lokalzeitung zitiert. Dabei hatte Cécile sich rechtzeitig schriftlich beim Gericht gemeldet und ihre Schwerbehinderung war gerichtsbekannt. Dass Cécile die Anarchietage in der Schweiz besucht hatte, war in den Augen des Amtsrichters irgendwie verwerflich. Er fordert im Grunde genommen, dass Menschen mit Behinderungen permanent zuhause sitzen bleiben, um auf Gerichtstermine zu warten. Schließlich wurde festgestellt, dass Sturmtief Sabine für den Umstand, dass Cécile nicht erschienen war, verantwortlich war.
Befangenheit
Die Verhandlung wurde am 18. Februar fortgesetzt. Der Beginn verzögerte sich aufgrund eines Befangenheitsantrages von Cécile, die sich die Diskriminierung in Bezug auf ihre Schwerbehinderung nicht weiter gefallen lassen wollte. § 21 RiStBV besagt: „Behinderten Menschen ist mit besonderer Rücksichtnahme auf ihre Belange zu begegnen.“ Der Richter hatte das Gegenteil unternommen und Cécile mitgeteilt, das Gericht werde ein neues Attest von ihrem behandelnden Arzt nicht annehmen, sollte sie wieder krank sein. Für diesen Fall forderte er von ihr ein amtsärztliches Attest. Das ist aber unmöglich, ein Attest bekommt eine Privatperson vom Amt nicht. Die Untersuchung muss durch das Gericht explizit angeordnet werden. Cécile fühlte sich genötigt zu erscheinen, trotz Schmerzen und eingeschränkter Verhandlungsfähigkeit.
Die Verhandlung wurde eröffnet, nachdem der Amtsgerichtsdirektor seinen Pressesprecher – Richter Hofmeier ist Pressesprecher am Amtsgericht Lingen – und Kaffeepausen-Kollegen für nicht befangen erklärte.
Zivilbeamter beschwert sich
Angeklagte und Publikum mussten intensive Kontrollen, als gehe es um Terrorismus, über sich ergehen lassen, um den Gerichtssaal zu betreten. Dies wurde gerügt. Im Anschluss an die Verhandlung kritisierte das lokale Antiatombündnis AgiEL die Stigmatisierung und Kriminalisierung durch diese Kontrollen. Eine Person, die Nachfragen zu den Kontrollen stellte, war vor die Tür gesetzt worden und durfte der Verhandlung nicht beiwohnen. Im Namen des Volkes hat der Richter aber im Protokoll als Wahrheit aufnehmen lassen, dass niemand ausgeschlossen wurde. Gerichte finden keine Wahrheit, sie erfinden sie!
Cécile beantragte im weiteren Verlauf den Ausschluss von im Publikum anwesenden zivilen Polizeibeamten. Der Antrag wurde abgelehnt. Cécile kritisierte die Entscheidung scharf. Aktenkundig sei der „private“ Brief eines Polizeibeamten der Lingener Polizei an den Richter. Darin beschwert er sich über die Strategie der Verteidigung und die lästigen Atomkraftgegner*innen, fantasiert die illegale Veröffentlichung von Aufnahmen des Prozesses herbei. Und verweist auf seine Glaubhaftigkeit und Erfahrung als Polizeibeamter. Ein anderer Beamter äußerte sich über das Video aus der Akte über seinen privaten Twitter-Account und hetzte dabei gegen die Angeklagte. Die Anwesenheit von Polizist*innen im Zuschauerraum verletzt den Anspruch einer Angeklagten auf ein faires Verfahren! Aber gibt es faire Verfahren überhaupt?
Das Recht auf rechtliches Gehör scheint das Gericht jedenfalls lästig zu finden. Die Angeklagte musste ihr Recht, eine Prozesserklärung abzugeben, vehement einfordern. Darin kritisierte sie das Gericht und die Anklage.
„Dem Anklagevorwurf nach wird mir nicht einmal vorgeworfen, einen Polizisten berührt zu haben. Ich frage mich, wie ein Mensch gewalttätigen Widerstand im Sinne von 113 StGB leisten kann, ohne einen Polizisten zu berühren. Laut StA geht es hier um eine Rollstuhlbremse. Laut Richter Hofmeier um ‚Umstände‘, wie dieser im Herbst äußerte. Das finde ich sehr nebulös, es kann alles und nichts gemeint sein.“ So Cécile in ihrer Erklärung. „Es gibt doch keine Pflicht, sich wegrollbar zu machen. Oder sollen sich alle Demonstrant*innen bei der nächsten Sitzblockade auf Rollbretter setzen, um keine Anklage wegen Widerstand zu riskieren?“
Feldbett? Menschenwürde? Gibt es nur für reiche Manager!
Es kam schließlich zur Vernehmung des Einsatzleiters. Dies musste Cécile zum großen Teil am Boden zwischen Fenster und Tisch der Verteidigung liegend verfolgen. Sie konnte nicht mehr sitzen, die Schmerzen in der Halswirbelsäule waren zu stark. Sie hatte bereits mehrere Tage vor der Verhandlung dem Gericht mitgeteilt, dass sie nicht lange sitzen könne, und die Bereitstellung eines Feldbetts beantragt. Der Richter hatte nicht reagiert. Hätte er dem Antrag stattgegeben, wäre Cécile eine reiche wegen Korruption angeklagte Managerin gewesen? 2017 wurde einem wegen Betrugs, Steuerhinterziehung und unerlaubten Vertreibens von Versicherungen angeklagten Manager der Firma Unister aufgrund seines Rückenleidens ein Feldbett im Gerichtssaal aufgestellt.
Auch ist es schwer möglich, mit starken Schmerzen hinter einem Tisch liegend eine Zeugenvernehmung angemessen zu verfolgen. Der Anwalt der Angeklagten befragte den Zeugen zwei Stunden lang. Prozessbesucher*innen zufolge eine „großartige“ Zeugenbefragung.
Es kam heraus, dass der Zeuge keine Ahnung davon hat, wie ein Rollstuhl funktioniert. Die Angeklagte habe zunächst sechs Meter entfernt und später direkt am zivilen Polizeifahrzeug gesessen. Zahlreiche Demonstrant*innen hätten um das Polizeiauto gestanden, sie seien laut gewesen und hätten das Verhalten der Polizei und die Festnahme wortreich kritisiert. Warum einzig Cécile angeklagt wird und was an ihrem Verhalten strafbar sein soll, erschließt sich aus der Aussage nicht.
Unerwarteter vorläufiger Abschluss
Die Widersprüche in der Aussage des Zeugen konnten durch die Verteidigung nicht mehr im Rahmen einer Erklärung erörtert werden, dafür fehlte die Zeit. Es war bereits kurz vor 18 Uhr und die Angeklagte, der ein Recht auf Erklärung zusteht, war nicht mehr dazu in der Lage.
Der Anwalt stellte noch einen Beweisantrag zum Thema Bedienung eines Rollstuhls und Rolle der Standbremse. Der Richter drängte auf eine Schließung der Beweisaufnahme. Er wollte sein Urteil noch am gleichen Tag sprechen. Dem widersprach die Verteidigung und beantragte Vertagung mit Verweis auf die Verhandlungsunfähigkeit der Angeklagten.
Es war jedoch nicht möglich, einen solchen Fortsetzungstermin festzulegen. Eine Verhandlung muss innerhalb von 21 Tagen fortgesetzt werden. Der Richter erklärte aber, er fahre für vier Wochen in den Urlaub.
Also muss der Prozess irgendwann von neuem beginnen – auch weil die Staatsanwaltschaft das Verfahren partout nicht einstellen will und das öffentliche Interesse an der Verfolgung bejaht. „Staatsanwaltschaft schießt mit Kanonen auf Spatzen“, kommentierte die lokale Zeitung.
Weitere Infos:
http://blog.eichhoernchen.fr/post/tag/rollstuhlprozess2020/
Dies ist ein Beitrag aus der aktuellen Druckausgabe der GWR. Schnupperabos zum Kennenlernen gibt es hier.