Wir wollen in dieser und den nächsten Ausgaben die sozio-ökonomischen Folgen der Covid-19-Pandemie und deren Auswirkungen auf unser (Zusammen-)Leben zeigen. Den Auftakt machen wir in dieser Ausgabe mit dem Beitrag von Maria Braig, die ihr Erleben in der gegenwärtigen Situation beschreibt. Auf den nächsten Seiten (S. 4 f.) findet ihr die Schilderungen eines Mitarbeiters in einem polnischen Krankenhaus. (GWR-Red.)
Die Welt lebt derzeit in einer Angstblase, jedenfalls der Teil der Weltbevölkerung, der keine so existenziellen Probleme zu bewältigen hat, dass die Bedrohung der Zivilisation durch eine Seuche, die den gleichen Namen trägt wie ein Bier und die Schutzpatronin gegen Seuchen, zweitrangig, wenn nicht gar unerheblich erscheint.
Corona ist die Seuche, die die Reichen der Welt in Angst und Schrecken versetzt, aber in erster Linie (wie so oft) die Armen trifft.
Auch ich lebe derzeit in einer Angstblase, allerdings unterscheiden sich meine Ängste wohl von denen der Mehrheit. Mir macht nicht der gesundheitliche Aspekt dieses Virus Angst, sondern das, was um uns herum passiert. Da ist das Zusammenrücken von links bis kurz vor rechtsaußen (die AFD lassen wir gerade mal noch außen vor).
#staythefuckhome wird mir auch von linken Freund*innen zugerufen, die noch vor kurzer Zeit antinational und intersektional aufgestellt waren, jetzt aber vorrangig an Social Distancing denken und die Rettung in #staythefuckhome sehen. Vielleicht ist es ja wirklich der richtige und notwendige Weg, ich kann es nur glauben, mit meinem laienhaften Wissen nicht wirklich beurteilen. Aber gehen wir einfach mal davon aus, dass es so ist. Halten wir also Abstand und bleiben wir zu Hause so weit möglich, wie es uns angeraten, bzw. verordnet wird. Aber vergessen wir darüber nicht, dass diejenigen, die sich jetzt als Retter in der Not profilieren, die Misere (mit) zu verantworten haben. Schließlich geht es bei den ganzen Einschränkungen, die derzeit unser Leben bestimmen, nicht per se darum, die Menschen vor einer tödlichen Infektion zu schützen, sondern darum, ein kaputtgespartes und profitorientiertes Gesundheitssystem vor der todbringenden Überlastung zu retten.
Und vergessen wir auch nicht, dass Krankheitserregern durch industrielle Landwirtschaft, Monokulturen, Massentierhaltung, Abholzung der Regenwälder und die damit im Zusammenhang stehende Klimaveränderung die besten Voraussetzungen zur Entwicklung und Verbreitung geboten werden. Das alles ist nicht neu, das alles wusste man lange vorher, eine Veränderung rechnete sich aber nicht. Wo das Kapital herrscht, haben Menschen keinen Wert. Wir wissen das längst, nun zeigt es sich in aller Deutlichkeit – wenn man es denn sehen will.
Die das angerichtet haben, profilieren sich nun als die Retter der Nation, halten andere Punkte für wichtig. Die Seuche ist da, warum, woher, wieso und wer sie zu verantworten hat, darüber reden wir später, vielleicht – besser es bleibt der Eindruck einer Naturkatastrophe. Stattdessen wird in diesen Tagen viel von Solidarität gesprochen. Man hilft sich gegenseitig, junge Menschen bieten an, für Ältere einzukaufen (selbst wenn diese tagtäglich zur Arbeit gehen), Facebook-Gruppen sprießen aus dem Boden, in denen Hilfe gesucht und Hilfe angeboten wird, Radiosender bieten Aushänge fürs Treppenhaus zum Download an. Eigentlich doch eine positive Entwicklung, wenn die Menschen solidarisch werden. Ein Erfolg von Social Distancing, so heißt es: „Die Gesellschaft rückt zusammen.“
Aber tut sie das wirklich? Man klatscht abends auf dem Balkon für die Pflegekräfte (anstatt bessere Bezahlung und bessere Arbeitsbedingungen zu fordern) und Musiker*innen singen aus ihren Fenstern „für Deutschland“, während die Grenzen geschlossen werden und Geflüchtete in Lagern eingesperrt und dort ihrem Schicksal überlassen werden.
Die am Rande dieser Gesellschaft leben, die nie wirklich dazugehört haben, die niemand haben will, von denen wird jetzt noch weiter abgerückt. Vielleicht nicht einmal aus bösem Willen, sondern weil es jetzt um „uns“ geht, um „unsere“ Gesundheit und vor allem die „unserer“ Alten. Die anderen bleiben draußen, um sie kann man sich wieder kümmern, wenn die Zustände sich gebessert haben, wenn der Virus nicht mehr Todesangst verbreitet, als handle es sich um Ebola oder die Beulenpest. Tafeln werden geschlossen, Beratung für Geflüchtete eingestellt, Asylanträge gehen nur noch schriftlich, abgeschoben wird weiter, und sollte sich in den zum Abstand halten zu eng belegten Lagern der Virus ausbreiten, dann hilft auch hier #stayhomeinyourlager, dann kommt einfach niemand mehr raus. Obdachlose dagegen bleiben draußen auf den Straßen, verlieren oft ihre Notfallanlaufstellen – und wer bislang vom Flaschensammeln lebte steht vor dem Nichts.
Wo stehen wir in diesen Tagen? Was uns bis vor Kurzem grundlegend beschäftigte, ist plötzlich in den Hintergrund gerückt. Fast vergessen sind die Geflüchteten in Griechenland und im Niemandsland zwischen Türkei und Europa, vergessen ist die Klimakatastrophe, vergessen sind die elementaren Probleme des Neoliberalismus und der Globalisierung. Kann es wirklich sein, dass wir uns ganz plötzlich nur noch um die Aufrechterhaltung der „Volksgesundheit“ kümmern? Wer nicht dazugehört bleibt dabei auf der Strecke? Kann es so schnell gehen, dass wir unsere Solidarität, die wir bislang doch so hoch geschätzt haben, vergessen?
Die Welt zieht sich um uns herum zusammen, alles wird enger, alles wird beklemmender als wir das bisher erlebt haben. Es geschieht, was wir, trotz aller Kritik an der herrschenden Politik nie für denkbar gehalten hätten: Innerhalb weniger Tage werden die Grenzen geschlossen, Kulturveranstaltungen und „Menschenansammlungen“ jeder Art sind plötzlich verboten, Ausgangssperren werden verhängt. Es hagelt Verbote, einfach so, nichts muss mehr diskutiert werden, nichts wird mehr in Frage gestellt.
„Meidet soziale Kontakte, dann werdet ihr gerettet“, das ist das Motto der Stunde.
#stayhome sagen uns auch diejenigen, die bislang immer den kritischen Blick bewahrt haben. #staythefuckhome – dann retten wir die die Welt. Aber was ist mit denen, die niemanden haben, mit dem sie zu Hause bleiben können? Die ihre letzten Kontakte verlieren, weil sie (aus Rücksichtnahme) niemand mehr besuchen kommt, weil man zwar für sie einkauft, die Einkäufe aber kontaktlos vor der Tür abstellt. Was ist mit denen, für die ihr Zuhause ein unsicherer Ort ist? (Frauenhäuser haben jetzt Hochkonjunktur). „Was mache ich, wenn die Kneipen schließen?“, fragte noch vor wenigen Tagen ein Brett-Sitzer. „Dann bin ich ja noch mehr Stunden am Tag mit mir allein.“
Jetzt sind die Kneipen geschlossen, aus Rücksichtnahme auf die Risikogruppen, heißt es. Aber man kann auch an Einsamkeit sterben, ganz ohne Infektion.
Eine Schockstarre hat die Gesellschaft erreicht, und sie macht keinen Halt vor denen, die sonst alles sehr kritisch beobachtet haben, was von den Herrschenden kam. Alles für die Gesundheit, alle solidarisch mit den eigenen Risikogruppen – die Herrschenden werden es schon richten.
Was ist mit uns geschehen? Ging Corona der Untertanen-virus voraus und hat uns infiziert? Oder ist es eben doch diese Angstblase, die uns alle auf die ein oder andere Weise einfängt?
Verunsicherung durch die unterschiedlichen und häufig widersprüchlichen Informationen, die fortwährend über uns hereinbrechen, laienhaftes Halbwissen, die Angst, sich gegen die allgemeine Fokussierung auf unsere Gesundheit zu stellen, wenn sogar linke Kreise nur noch #staythefuckhome verbreiten – das alles lähmt enorm. Währenddessen geht das Leben trotz Corona weiter, und es wird auch ein Danach geben. Dürfen wir auf die Gefahren für die Demokratie hinweisen, die ja vorher schon nicht die beste war. Dürfen wir nachfragen, was eigentlich nach Corona kommt, oder halten wir besser still und ducken uns weg bis der Sturm weiter gezogen ist?
Früher oder später wird alles wieder anlaufen, aber niemand weiß, in welchem Zustand die Gesellschaft dann sein wird. Es ist nicht zu übersehen, dass sich manche Politiker*innen momentan geradezu in ihrem Element fühlen, wenn sie Verbote und Einschränkungen verhängen dürfen, ohne sich rechtfertigen zu müssen. Es ist anzunehmen, dass vieles, was jetzt in der Arbeitswelt als notwendige Maßnahme verkauft wird, um die Gesundheit der Arbeitnehmer*innen zu schützen, zugleich ein Testballon für die Zukunft ist.
Dabei wäre jetzt die Gelegenheit zu akzeptieren, dass der Kapitalismus eine Gefahr für alle bedeutet und weltweit neue Weichen gestellt werden müssen. Es ist nicht mehr zu übersehen, wohin uns die Profitorientierung des Gesundheitswesens gebracht hat. Es ist nicht mehr zu übersehen, was Klimaveränderung, industrielle Landwirtschaft, Monokultur und Ab-
holzung der Regenwälder mit sich bringen. Wenn alles so weitergeht wie bisher, wird Corona nicht der letzte und nicht der schlimmste Virus sein, der unsere heile Welt zerstört. Dann genügt es beim nächsten Mal möglicherweise nicht mehr, zwei Meter Abstand zu halten und Hände zu waschen.
Doch der Fokus der Herrschenden liegt auf den wirtschaftlichen Verlusten durch Corona und die müssen, wenn alles wieder seinen normalen Gang geht, ausgeglichen werden. Aller Vor-aussicht nach indem man so weitermacht wie bisher.
Anstrengende Zeiten stehen uns bevor, anstrengender noch als diese Auszeit, in der wir jetzt mehr oder weniger im Wartestand leben. Wir werden voraussichtlich lange Zeit mit dem Wiederaufbau und der wirtschaftlichen Rekonvaleszenz linker Strukturen beschäftigt sein. Aber auch nach Corona wird es Geflüchtete geben und andere Menschen am Rande der Gesellschaft, die unsere Hilfe brauchen. Möglicherweise mehr als zuvor. Auch nach Corona werden Ausländer*innenfeindlichkeit und Rassismus ein großes Problem sein, möglicherweise ein noch größeres als bisher. Auch nach Corona, so ist zu befürchten, wird das Geschacher um Prozente beim CO²- Ausstoß kein Ende haben und die Klimaveränderung mit großen Schritten weitergehen. Der Abbau von Sozialleistungen und die globale Ausbeutung werden uns mit Sicherheit weiterhin beschäftigen.
Das Netz, das sich um uns zusammengezogen hat zu entfernen, wird nicht einfach werden. Aber einfach war es noch nie.
Was hilft, die Angstblase zu durchdringen: Mit jedem Tag der vergeht, mehren sich auch die kritischen Stimmen. Bleiben wir also gemeinsam am Ball, bleiben wir solidarisch mit allen, die unsere Solidarität brauchen, ganz egal welche Grenze uns trennt. Was jetzt gilt: Kontakte halten und intensivieren, Vorbereitungen auf das Leben danach treffen, Krönchen richten und dann, sobald es wieder möglich ist, hinaus auf die Straßen.
#reclaimthestreets #reclaimtheworld