Nach dem wir im März und April zwei kontroverse Artikel über Extinction Rebellion (XR, Rebellion gegen das Aussterben) in der Graswurzelrevolution veröffentlicht haben, präsentieren wir in dieser Ausgabe den Beitrag eines unserer Leser zur Debatte. (GWR-Red.)
Es ist nicht leicht einen Text über Extinction Rebellion zu schreiben. Entweder mensch verfällt schnell in eine überkritische und polemische Haltung ohne qualifizierte Kritik oder nach der Veröffentlichung des Textes bekommt mensch einen Shitstorm, dass der eigene Text unsolidarisch oder gar diffamierend sei. Der folgende Text soll solidarische Kritik üben. Das bedeutet, dass das eigentliche Anliegen der Schutz vor der Klimakatastrophe für gut befunden wird. Es werden aus einer anarchistischen Perspektive Widersprüche in den „Forderungen“ und den „Werten und Prinzipien“ von XR aufgezeigt.
Aber fangen wir am Anfang an… bei den drei Grundforderungen von XR. Diese lauten: 1. „Sagt die Wahrheit“ 2. „Handelt jetzt“ und 3. „Politik neu leben“.(1) Wer wird mit diesen Forderungen angesprochen? Der Staat! Jede der drei Forderungen wird in der Erklärung begonnen mit „Die Regierung muss […]“. Der Staat soll die Probleme der drohenden Klimakatastrophe abwenden. XR will den Staat bzw. die Staaten dazu bringen, dass sie ihre Forderungen erfüllen. Das ist gefährlich. Der Staat ist nicht Freund und Gefährte sozialer Bewegungen. Staaten haben das Interesse den Status Quo zu erhalten und sind deshalb meistens Gegner sozialer Bewegungen. Aus anarchistischer Perspektive führt zu viel Vertrauen in den Staat dazu, dass Menschen aufhören oder gar nicht erst anfangen, selbstermächtigend und selbstbestimmt zu handeln. An dieser Stelle zeigt sich ein erster Widerspruch in der theoretischen Fundierung von XR. Denn in ihren Werten und Prinzipien steht bei Punkt 7, dass hierarchische Machtstrukturen überwunden werden sollen. Wenn der Staat aber die Lösung des Problems sein soll, dann geht damit automatisch eine Akzeptanz von Hierarchien und Autoritäten einher. In dieses Problem reiht sich ein, dass XR die Polizei akzeptiert, sich von Menschen distanziert, die Parolen gegen die Polizei rufen und offen zu solidarischen Handlungen mit der Polizei aufruft. Wer vorgibt sich gegen Hierarchien zu wenden und trotzdem Cops eine Legitimität zu spricht, hat das Konzept von Hierarchiefreiheit nicht verstanden. Teilweise geht die Akzeptanz soweit, dass die Polizei regelrecht vergöttert wird, wenn bei Aktionen der Polizei zum Dank für ihren Einsatz Blumen geschenkt werden. Begründet wird diese Haltung durch Punkt 8 in den Werten und Prinzipien von XR. Es soll keine Schuldzuweisungen und Beleidigungen gegen einzelne geben, weil alle Teil des toxischen Systems sind. Dieser Punkt verkennt aber die Rolle und Funktion der Polizei im Staat. Die Polizei schützt das Eigentum, den Profit und das Fortbestehen der Ausbeutungsverhältnisse im Kapitalismus durch Gewaltausübung. Wer Gewaltfreiheit fordert, sollte Gewalt auch beim Gegenüber kritisieren. Nichts anderes ist die Rolle der Polizei: Die Ausübung der Staatsgewalt.
Des Weiteren arbeitet XR systemimmanent. Sie bezeichnen zwar das System als toxisch. In einem Blogbeitrag auf der Seite von XR Deutschland wird deutlich, dass damit der Kapitalismus gemeint ist: „Wir* alle sind Teil eines toxischen Systems. Das sich im Fall der Gesellschaft in Deutschland und großen Teilen des globalen Nordens systematisch davon nährt und aufrechterhält, in dem innerhalb der Gesellschaft und vor allem außerhalb der Landesgrenzen, über den ganzen Planeten hinweg, Kulturen, Völker, Gruppen und Menschen ausgebeutet, unterdrückt, vertrieben und ermordet werden.“(2) Es werden jedoch keine Anstrengungen unternommen, um den Kapitalismus zu überwinden. Es sollen kosmetische Änderungen vorgenommen werden und dadurch soll alles gut werden. Dabei wird erstens außer Acht gelassen, dass durch den Kapitalismus der Anstieg an CO2 Emissionen erst möglich wurde. Der Profitzwang als inhärente Logik des Kapitalismus führt dazu, dass Konzerne Wege finden mit dem geringsten Aufwand den größtmöglichen Profit zu erwirtschaften. Der größtmögliche Profit wird immer durch Ausbeutung von Mensch, Tier und Natur zustande kommen. Somit wird auch kein effizienter Schutz vor der Klimakatastrophe möglich sein, wenn sich Bewegungen nicht zutrauen den Kapitalismus zu bekämpfen. Zweitens ist die Forderung nach mehr demokratischer Beteiligung in Form von Bürger*innenversammlungen zwar ganz nett und eventuell auch besser als die aktuelle Form der Beteiligung. Dennoch bedeutet Demokratie auch immer Herrschaft. Denn es werden durch Zwang Menschen dazu gebracht, sich Regeln zu beugen, welche von einer kleinen Gruppe erlassen und dem Rest der Bevölkerung aufgezwungen werden. Es gibt keine Möglichkeit ein Veto einzulegen. Der Kritik, dass eine Veränderung des gesamten Systems doch sehr unwahrscheinlich ist und deshalb moderate Forderungen gestellt werden sollten, halte ich entgegen, dass Forderungen auch das abbilden sollten, was wir uns wünschen. Warum nicht einfach aussprechen, was Sache ist und dann in die Diskussion einsteigen?
XR bezeichnet seine Aktionen als Aktionen des zivilen Ungehorsams. Auch dadurch wird die Staatsgläubigkeit deutlich. Ziviler Ungehorsam bedeutet, dass Menschen sich bewusst über Gesetze hinwegsetzen, um auf Missstände hinzuweisen und damit Druck auf die Herrschenden zu machen, diese Missstände aufzuheben. Damit geht einher, dass Gesetze generell als legitim angesehen werden und diese nur übertreten werden, um den Missstand abzuschaffen und danach ist mensch wieder ein*e brave*r Bürger*in. Ziviler Ungehorsam ist somit von der „direkten Aktion“ abzugrenzen, welche aus anarchistischer Tradition stammt und das direkte Eingreifen in Prozesse mit sich bringt. Die direkte Aktion soll das wiederspiegeln, was sich gewünscht wird und ignoriert dabei nach Möglichkeit den Staat. Die direkte Aktion wird anhand der zugrunde liegenden Werte und Ziele überprüft und nicht aufgrund gesetzlicher Bestimmungen. Auch wenn ziviler Ungehorsam von der äußerlichen Erscheinung der direkten Aktion ähnelt, ist der Grundgedanke ein anderer. Der zivile Ungehorsam appelliert an jemanden. Im Endeffekt ist er eine indirekte Aktion, die den Weg über Parlamente und Regierungen sucht. Somit wird wieder der Staat als Retter vor der Klimakatastrophe gesehen.
Zum Ende soll noch erwähnt werden, dass es nichtsdestotrotz eine beeindruckende Leistung von XR ist, in kurzer Zeit eine globale Bewegung zu schaffen. XR hat viele Probleme und ist nicht konsistent in den Handlungen und Forderungen. Hoffentlich lösen sich diese Widersprüche noch auf und XR bewegt sich hin zu emanzipativen Ansätzen. Die Bewegung ist noch jung und lernt auch ständig hinzu. Für mich ist Extinction Rebellion im aktuellen Zustand jedoch keine Möglichkeit meinen Widerstand gegen die klimavernichtende Politik der Staaten auszudrücken.
Sven
Anmerkungen:
(1) Vgl. https://extinctionrebellion.de/wer-wir-sind/unsere-forderungen/
(2) https://extinctionrebellion.de/blog/menschen-sind-keine-institutionen-2-jedoch-teil-der-strukturen/