Interview

Ein Interview mit Agnieszka Mróz (Teil 1)

Frauenbewegung und Selbstorganisation

Die Basisgewerkschaft IP kämpft in Polen für höhere Löhne und niedrige Mieten.

| GWR-Redaktion

Die Basisgewerkschaft „Arbeiter-Initative“ aus Polen („Inicjatywa Pracownicza“, IP) ist eine Schwesterorganisation der anarchosyndikalistischen Freien Arbeiterinnen- und Arbeiter-Union (FAU). Agnieszka Mróz ist Mitglied der IP. Die GWR-Redaktion sprach mit der Gewerkschaftsaktivistin. (GWR-Red.)

GWR: Anfang Januar 2018 lehnte der Sejm [eine der beiden Kammern des polnischen Parlaments – M.K.] erneut das Projekt „Retten wir die Frauen!“ zur Liberalisierung der Anti-Abtreibungsgesetze ab. Stattdessen wurde das „Stopp Abtreibung“-Projekt von „Ordo Iuris“ zur Diskussion gestellt (vgl. GWR 425). Dies führte zu weiteren Protesten, vor allem von Frauen, die im Kampf für ihre Reproduktionsrechte den Zugang zu legalen und sicheren Abtreibungen fordern. Auch die Mitglieder der Basisgewerkschaft „Arbeiter-Initiative“ nahmen an den letzten Protesten teil, wie z.B. im Januar in Warschau. Und das nicht zum ersten Mal. Wie engagiert(e) sich die „Arbeiter-Initiative“ bei den Protesten und dem Frauenstreik?

Agnieszka Mróz: Die IP-Gewerkschafterinnen nehmen seit 2016 an den Protesten gegen die Verschärfung der Abtreibungsgesetze aktiv teil. Unsere Genossinnen, die als Erzieherinnen in Kinderkrippen oder als Angestellte im Gastronomie- und Kultursektor arbeiten, gingen am 3. Oktober 2016 [sog. „Schwarzen Montag“ – M.K.], dem Tag der größten Mobilisierungen (vgl. GWR 413), auf die Straßen. Ich bin aktives IP-Mitglied und arbeite im Amazon-Lager in der Nähe von Poznań. Am „Schwarzen Montag“ waren auch einige meiner Arbeitskolleginnen beteiligt. Es gab eine Mobilisierung in über 150 Städten und Gemeinden, wo wir als die IP aktiv sind. Wir waren vor Ort, haben bei den Kundgebungen Reden gehalten, die für diesen Anlass von uns vorbereitete Zeitung verteilt, Transparente gemalt.

Die letzten Proteste im Januar 2018 fanden hauptsächlich in Warschau statt. Sie zielten in erster Linie auf Parlamentarier verschiedener politischer Richtungen, die bei der letzten Abstimmung im Sejm Fraueninteressen verrieten. Obwohl das „Stopp Abtreibung”-Projekt zur weiteren Diskussion ins Parlament ging, hat dies momentan keine große Bedeutung, weil es (hoffentlich) lange dort steckenbleiben wird. Deshalb war die Mobilisierung zuletzt nicht so groß, denn jetzt ist es eher ein politisches Spiel. Die politische Atmosphäre scheint derzeit so zu sein, dass der Frauenstreik eine solche soziale Stärke zeigt, dass die rechte Regierung [„Gerecht und Gerechtigkeit”, „Prawo i Sprawiedliwość”, PiS – M.K.] zwei Jahre vor der Wahl keine weitere Welle der Unzufriedenheit riskieren wird.

Die Frauenproteste in Polen haben nicht 2016 begonnen – sie finden seit Jahren in verschiedenen Bereichen statt. Zum Beispiel haben die Frauen aus den Kinderkrippen in Poznań, die in unserer Gewerkschaft seit 2011 organisiert sind, viel erkämpft, u.a. Lohnerhöhungen, eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen, aber auch das Blockieren der Privatisierungsprozesse der öffentlichen Kinderkrippen. Die Wellen der Proteste von Krankenschwestern, kürzlich auch von Supermarktarbeiterinnen, Sozialarbeiterinnen, Betreuerinnen der Kinder mit Behinderung und anderen, sind über Polen gegangen. Meistens wurden diese Proteste nicht strikt feministisch bezeichnet, aber es war uns klar, dass sie wichtige Fragen der sozialen Gerechtigkeit berührten.

Zum Beispiel waren die Forderungen der Erzieher*innen aus den Kinderkrippen nicht auf Probleme am Arbeitsplatz beschränkt. Die Frauen aus mehreren Kinderkrippen in Poznań forderten gemeinsam die Änderung der Haushalts- und Sozialpolitik der Stadt, als Widerstand gegen die Marginalisierung der Bereiche, denen Frauen zugeordnet werden, u.a. Pflege, Soziales, Bildung, Kultur. Sie thematisierten auch öffentlich, dass normalerweise auf ihren Schultern die Familienpflichten und der damit verbundene Familienunterhalt ruhen. Also werden sie nicht aufhören, für den allgemeinen Zugang zu medizinischer Versorgung mit der Möglichkeit des Schwangerschaftsabbruchs zu kämpfen. Das bedeutet für uns Feminismus.

Eine Genossin hat gerade einen Film über diesen Kampf gedreht, der am 17. Februar 2018 in Poznań Premiere hatte. Im Film ist zu sehen, dass wir durch den Konflikt um die Verschärfung des Abtreibungsrechts in Verbindung mit den sozialen und arbeitsrechtlichen Forderungen unsere Stärken erkannten, so dass wir eine reale Bedrohung für die herrschenden Machtverhältnisse darstellen können.

Die Debatte über die Verschärfung der Abtreibungsgesetze und die damit einhergehenden Frauenproteste, die seit 2016 stattfinden, erreichten ihren Höhepunkt im Oktober 2016. Das Thema „Abtreibung” hat in Polen immer wieder Kontroversen ausgelöst, aber solche Proteste wie beim Frauenstreik hatten wir vorher nicht. Was hat die Intensivierung der Proteste beeinflusst und in Konsequenz zum landesweiten Frauenstreik geführt?

Ich denke, dass der Versuch, ein totales Verbot des Abtreibungsrechts einzuführen, vielen von uns die Augen geöffnet hat. Die Diskussionen im Sejm waren erschreckend in dem Sinne, dass sie zeigten, dass Politiker*innen Gesetze schaffen, die nicht auf Wissen, sondern auf ihrem Glauben und ihren Vorurteilen gegenüber Frauen beruhen. Viele von uns wissen bereits, dass wir nicht mehr in Zeiten leben, in denen wir auf die Herren aus der Kanzel hören müssen, die uns mit der Hölle drohen. Viele Frauen sind nicht mehr damit einverstanden, dass jemand für uns entscheidet, also die Männer im Sejm und in der Kirche. Es ist sicherlich eine Frage der Generation. An dem Frauenstreik haben sich neben den älteren Frauen auch viele jüngere beteiligt, die z. B. schon im Ausland gearbeitet haben und sahen, wie allgemein zugänglich die „Pille danach“ oder allgemein die Empfängnisverhütung ist. Es stellte sich plötzlich heraus, dass der „[Abtreibungs-]Kompromiss“, der zwischen Klerus und Politikern in den frühen 90er Jahren ausgemacht wurde, für sie weit weg ist, dass – im Gegensatz zu dem, was die Herrschenden wollen – der gesamten Diskurs verschoben ist (vgl. GWR 425). Schon vor zehn Jahren wurde der „[Abtreibungs-]Kompromiss“ vor allem von feministischen Gruppen in Frage gestellt, aber heute von mehr und mehr Menschen, sowohl im Mainstream, als auch in den Betrieben, an den Arbeitsplätzen. Der Frauenstreik war der Moment, in dem wir sahen, wie viele wir sind und der die weiteren Proteste antrieb. Meine Genoss*innen – die noch nie in einer „Pro-Choice-Bewegung“ involviert waren – sagten nun: „JedeR hat sein Gewissen und ist für sich selbst mit seinen eigenen Entscheidungen verantwortlich. Frauen müssen etwas zu sagen haben: letztendlich sind sie diejenigen, die für viele Jahre die Härten und Folgen von Schwangerschaft und Geburt tragen. Außerdem leben wir an der Halbperipherie Westeuropas, wo die Politiker*innen wollen, dass wir gebären, aber nicht an uns interessiert sind und unsere Arbeit nicht gut bezahlt wird.“

Die Proteste haben sich übers Internet verbreitet, brachen schnell in die Mainstream-Medien ein. Es half auch eine simple Idee, um mitzumachen: das Symbol des Frauenstreiks war schwarze Kleidung. Schwarz gekleidete Frauen fotografierten sich bei der Arbeit, posteten diese Fotos auf Facebook und fühlten, dass sie an etwas Wichtigem teilnahmen.

Laut Soziolog*innen nehmen an den Protesten viele bislang politisch inaktive Frauen (und Männer) teil, die sich ab 2016 „von unten“ zu organisieren begannen, um ihren Widerstand gegen die Verschärfung des Anti-Abtreibungsgesetzes zu zeigen. Bislang waren es in der Regel feministische Kreise, die aktiv für die Reproduktionsrechte der Frauen kämpften. Was hat sich geändert? Was hat dazu geführt, dass andere (auch außerparlamentarische) soziale Gruppen sich Protesten angeschlossen haben?

Das stimmt. Es war das Phänomen und die Stärke dieses Protestes, dass Frauen von außerhalb der Hauptstadt und feministischen Gruppen auf die Straße gingen. Der Protest hatte eine enorme Größe, und sein charakteristisches Element war, dass Märsche und Kundgebungen in zig Städten in Polen stattfanden – sowohl in den Groß- und Kleinstädten, als auch in den Gemeinden. In manchen Städten waren es oft die ersten bedeutenden öffentlichen Versammlungen nach 1989. Dieser Protest wurde nicht von der bürgerlichen Mittelschicht dominiert, was ihn von vielen früheren feministischen Initiativen unterscheidet. Es muss jedoch auch zugegeben werden, dass es Jahre gab, in denen die sog. Manifas [sog. Manifa – eine feministische Demonstration zum 8. März, die jedes Jahr landesweit in Polen stattfindet – M.K.] einen prosozialen und proarbeiterischen Charakter hatten, und auch dann nahmen die Arbeiterinnen an ihnen teil. Ich habe einige Interviews mit IP-Genossinnen geführt und sie gefragt, was sie dazu brachte, auf die Straße zu gehen. Alle sagten, dass dieser Angriff auf die Frauenrechte nur Öl ins Feuer gießt, vor allem nach vielen Jahren Schufterei auf Basis von sog. „Müllverträgen“ („umowy śmieciowe“) [ein befristeter Arbeitsvertrag, der auch in Form eines Werk- oder Dienstleistungsvertrags sein und zur erzwungenen Scheinselbständigkeit führen kann; oft ohne soziale Absicherung und Abgaben seitens der Arbeitgeber*innen – M.K.], mit niedrigen Löhnen, oft erzwungenen zwei Jobs, im Akkord über eigene Stärke hinaus arbeiten zu müssen, ohne Zugang zu medizinischer Versorgung, ohne Zugang zu bezahlbaren Kinderkrippen usw. Dies alles in Zeiten, als uns gesagt wurde, dass Polen die Krise 2008 gut überstanden hat. Dies war der Nährboden für die Proteste.

In den letzten 27 Jahren in Polen hat keine Regierung den neoliberalen Kurs der Privatisierung und des Sozialabbaus in Frage gestellt. Die Budgetkürzungen für Schulen, Krankenhäuser, Kindergärten, Kantinen, Gemeindezentren usw. führen immer noch zu einer Verschlechterung der Lebensbedingungen vieler Frauen und Arbeiterfamilien. Zwischen 1990 und 2005 sank die Zahl der öffentlichen Kindergärten um 38% und die der Kinderkrippen um 74%. Der Anteil der Kinder, die außerschulische Aktivitäten besuchen, ist von 50% in Grundschulen und 70% in Gymnasien auf nur noch 10% zurückgegangen. Der Staat wendet sich von der Verpflichtung ab für ältere Menschen und Kinder die Betreuung zu sichern und wälzt es dadurch auf die Schultern von Frauen ab.

Kornelia, eine IP-Genossin, die als Sozialarbeiterin mit Obdachlosen arbeitet, erzählte mir, dass sie mit zehn Arbeitskolleginnen aus ihrem Sozialzentrum streikte: „Wir nehmen demonstrativ den Sonderurlaub! Ich bin eher im Alter einer Großmutter, aber das betrifft alle Frauen, unsere Töchter, Schwestern, Cousinen.“ Sie erklärte, dass es für sie klar ist, dass Abtreibung immer ein Dilemma und eine schwierige Entscheidung für eine Frau ist. Von daher muss man sie nicht noch zusätzlich unterdrücken – „Arme Frauen, mit denen ich jeden Tag arbeite, werden noch mehr ausgeschlossen, weil sie nicht ins Ausland fahren können, um dort den Schwangerschaftsabbruch zu haben. In Polen mangelt es vielen Familien an überlebensnotwendigen Mitteln, in Folge der Zwangsräumungen werden Menschen auf den Bürgersteig gesetzt, aber niemand von der Regierung kümmert sich darum. Sie behandeln nicht nur Frauen, sondern ganze Familien wie eine Sache. Wir sind stinksauer!“

Zusammen mit meinen IP-Genossinnen bei Amazon betonten wir, dass wir empört sind über die Zugangseinschränkung zu pränatalen Untersuchungen und dass die Entscheidung über die Köpfe der Frauen hinweg getroffen wird. Viele von uns arbeiten körperlich hart, auch in der Nachtschicht, schleppen Pakete, sollen vorgegebene Anforderungen erreichen, unter ständigem Druck, viele Kilometer machen. Die Art der Arbeit hat Einfluss auf unsere Gesundheit, es gibt das Risiko der Gefährdung der Schwangerschaft oder es kann dazu führen, dass die Schwangerschaften für unsere Gesundheit oder unser Leben gefährlich sind. Es ist schwer sich vorzustellen, dass wir in einem Polizeistaat leben könnten, der über uns wachen wird, wenn eine von uns in solch eine ungewollte Schwangerschaft gerät.

Wer nimmt an den Demonstrationen und dem Frauenstreik teil? Welche sozialen Gruppen engagieren sich politisch im Kampf für Reproduktionsrechte der Frauen? Was ist ihre Motivation? Was sind ihre Forderungen?

Ich denke, dass Frauen in Polen seit langen auf ihre Weise streiken – sie bringen nicht so viele Kinder zur Welt. Wir haben eine der niedrigsten Geburtsraten in Europa. Und unabhängig davon, welche organisierten politischen Kräfte sich für den Kampf um die Frauenrechte einsetzen, ist diese Geburtsverweigerung der Frauen entscheidend. Es führte dazu, dass das „Programm 500+“ eingeführt wurde, was ein ziemlich hohes Kindergeld (in Höhe von 1/3 des Nettomindestlohns) darstellt, um uns zum Gebären zu bringen (vgl. GWR 425).

Der „Frauenstreik“ war ein guter Mobilisierungsslogan, der dazu diente, Ärger auszudrücken und seinen wirtschaftlichen Hintergrund hervorzuheben. Es war keine formelle Organisation. Ein Streik ist eine Form des Drucks, der von Arbeiter*innen ausgeübt wird, in diesem Fall von Frauen, die sich weigern, die ihnen auferlegten Pflichten zu erfüllen. Der Streik lenkt die Aufmerksamkeit auf die Unterordnung unseres Lebens nach den Regeln der Arbeit, einschließlich der Reproduktionsarbeit. Ich denke, es ist wichtig, dass es die Idee eines Streiks war, auch wenn es tatsächlich Kundgebungen, Proteste, Märsche, manchmal nach Feierabend waren, aber es funktionierte hier. Dies unterscheidet auch diese Frauenbewegung von der Bewegung, die von der liberalen Elite angeführt wird, deren einziges Ziel es ist, die Macht zu übernehmen, die derzeit von der PiS ausgeübt wird. Proteste gegen die Verschärfung des Abtreibungsrechts waren lange Zeit in einer nicht hierarchischen Art und Weise organisiert, an der unterschiedliche Milieus und Menschen teilnahmen, ohne klare Anführerinnen.

Die Fortsetzung des Interviews erscheint im April 2018 in der Graswurzelrevolution Nr. 428