Bei den Libertären Tagen 1993 in Frankfurt am Main, einem bundesweiten Treffen der anarchistischen Szene, entstand die Idee, einen antisexistischen Männerrundbrief zu gründen.(1) Wie immer in Sachen geschlechterpolitische Gleichberechtigung geschah das auch auf Druck von FrauenLesben (so die damals übliche Bezeichnung ohne Sternchen und Unterstrich). Dieser Druck war selbstverständlich nicht nur dem Patriarchat als solchem geschuldet, sondern auch sexistischem Verhalten, Mackermiltanz und „Manarchism“ in den autonomen und anarchistischen Milieus selbst.
Schon die anarchistisch gesinnten Frauen während der Spanischen Revolution von 1936 hatten aus genau diesen Gründen ihre eigene Organisation gegründet, die Mujeres Libres („Freie Frauen“). Und sie hatten die Männer der Bewegung wegen ihres Machismo in die Pflicht genommen. Wie konnte es sein, dass selbst jene Aktivisten, die ihren Kampf für die Herrschaftslosigkeit nicht nur als Eroberung der Fabriken oder als Kampf gegen die Arbeit dachten, sondern als Veränderungen des gesamten sozialen Lebens, dass selbst diese Männer die Herrschaft gegenüber Frauen nicht nur duldeten, sondern häufig selber ausübten? Die Mujeres Libres, seit den 1970er Jahren als „anarchafeministisch“ bezeichnet, wollten sich selbst nicht Feministinnen nennen. Nicht, weil ihnen das zu eindeutig oder zu radikal erschienen wäre. Im Gegenteil, der Feminismus, den sie als zeitgenössischen vor Augen hatten, war aufs Wahlrecht für Frauen fokussiert und getragen von bürgerlichen Frauen. Das war den Mujeres Libres zu wenig, sie waren proletarisch und revolutionär. Sie dachten Geschlechterverhältnisse als Herrschaftsverhältnisse und koppelten sie von der Klassenfrage nicht ab. Damit vertieften sie auch eine Tradition innerhalb des Anarchismus, die zwar nie dominant, aber doch da war und Gender als relevante Kategorie diskutierte.
In einem aktuellen Buch zum Einfluss anarchistischer Ideen auf die Kultur- und Sozialwissenschaften mit dem Titel „The Anarchist Imagination“ (London/ New York 2019) gibt es auch einen Beitrag zum Feminismus. Darin plädiert Sandra Jeppesen für eine „anarchistisch-feministische Analytik der Macht“. Sie schreibt dazu einen ebenso programmatischen wie denkwürdigen Satz: „Der Anarchismus-Feminismus lehnt binäre Konzeptionen wie männlich/ weiblich, Herrscher*innen/ Beherrschte, oben/ unten ab, weil sie als binäre Paare sozial konstruiert und einschränkend sind.“ (2) In Sachen Geschlechtlichkeit, das sagen inzwischen selbst einige Biolog*innen, gibt es keine natürliche Zweiteilung. Geschlechtlichkeit (gender) beruht auf sozial vollzogenen Einteilungen, auf im Alltag ständig wiederholten und eingeübten Konventionen. Auf die soziale Konstruktion von Geschlecht abzuheben, ist also nicht das Denkwürdige an dem Satz. Aber was heißt es, Konzepte abzulehnen?
Im Hinblick auf die Analyse von Herrschaftsverhältnissen ist das eine gewagte und eben denkwürdige Aussage. Denn ohne ein binäres, also auf Zweiteilung spezialisiertes Konzept von Geschlecht wären doch sehr viele alltägliche Phänomene in der sozialen Welt nicht zu beschreiben. Denn die Ordnung dieser Welt ist nun einmal, als Effekt des Denkens über sie, weitgehend binär strukturiert. Bis in die Sprache hinein und in die mit Worten verknüpften Vorstellungen – hoch/ tief, oben/ unten, kalt/ warm, rational/ irrational, usw. – sind wir binär geprägt und diese Prägung ist immer auch geschlechtlich konnotiert. Es ist noch nicht so lange her, dass jedes Hoch im Wetterbericht einen Männer- und jedes Tief einen Frauennamen hatte. Und die binäre Organisation im Konsumbereich scheint eher voranzuschreiten: Der frappanteste Unterschied zwischen Klassenfotos aus meiner Grundschulzeit in den 1970er Jahren und jenen meiner jetzigen Grundschulkinder ist die heutige Rosa/Blau-Segregation!
Politisch gesehen ist es insofern ein löblicher Anspruch, einschränkende Binaritäten zurückzudrängen. Vor allem vor dem Hintergrund der Analyse, dass es starke soziale Imperative und Regulierungen gibt, die in Sachen Geschlecht oft sehr rigide und dennoch recht unbemerkt wirken. Nicht immer so deutlich wie bei Socken mit Darth Vader- vs. Eisprinzessin-Motiv. Aber gerade dazu brauchen wir – entgegen dem Einwand von Jeppesen – ein (binäres) Konzept, dass die ständige Zweiteilung beschreiben kann. (Das brauchen wir im Übrigen auch für Klassenverhältnisse. Und für ein Verständnis von Ethnisierungsprozessen, also auch, um Rassismus verstehen und bekämpfen zu können.)
Aber immerhin: Es gibt einen Anarchismus-Feminismus! Diese praktisch-theoretische Strömung schließt einerseits an die irgendwann verebbten Debatten um den Anarchafeminismus der 1980er Jahre an. Der Anarchismus-Feminismus ist aber auch Teil des Third Wave-Feminism, also jener Strömungen innerhalb des Feminismus, die seit den frühen 1990er Jahren Zweigeschlechtlichkeit abschaffen wollen, anstatt sie mit anderen als patriarchalen Werten zu füllen und mit anderen Praktiken zu leben. Queer-Feminismus, Zweigeteiltes vervielfachen, Dualismen unterwandern, Binaritäten durchkreuzen, das muss aus queer-feministischer Sicht bei den Beschreibungen beginnen. Jede Beschreibung ist eine Identifizierung ist eine Festlegung.
Und trotzdem bleibt die Frage, ob da nicht der Illusion aufgesessen wird, durch sprachliche Interventionen („Konzepte ablehnen“) soziale Probleme lösen zu wollen. Oder anders formuliert: Es stellt sich die ernsthafte Frage, ob nicht im Kampf gegen Herrschaft eine Benennung von Herrschenden im Gegensatz zu den Beherrschten – auch wenn die Grenzen manchmal fließend verlaufen – unabdingbar ist. Selbst ein Postanarchismus, der den queeren Konzepten gerade deshalb nicht abgeneigt ist, weil sie sich weigern, den abgelehnten patriarchalen Verhältnissen einfach spiegelbildlich neue, selbstbewusste Weiblichkeiten und sanfte Männeridentitäten entgegenzusetzen, sollte es sich nicht nehmen lassen, analytisch Freund und Feind – gerne auch Freund*in und Feind*in – auseinanderhalten zu können.
Der profeministische Männerrundbrief war noch klar getragen von der Notwendigkeit binärer Konzepte. Schließlich war er mit gutem Grund ein profeministischer Männerrundbrief und nicht einfach nur ein profeministischer Rundbrief. Der gute Grund war das Anliegen einer Sensibilisierung für Geschlechterungerechtigkeit auch bei jenen, die von ihr tendenziell profitieren. Der profeministische Männerrundbrief war Teil eines relativ kurzzeitigen, genderpolitischen Aufbruchs in der radikalen Linken. Dieser ging mit den Anfängen der (profeministischen) kritischen Männerforschung an den Universitäten einher. Der Männerrundbrief wurde erst in Hamburg, dann in Münster herausgegeben und erschien als Zeitschrift zwischen 1993 und 2002 mit insgesamt 17 Ausgaben.
Oskar Lubin
Anmerkungen:
(1) Alle Ausgaben sind glücklicherweise eingescannt und stehen zum download im Netz: http://maennerrundbrief.blogsport.de
(2) Sandra Jeppsen: „Toward an anarchist-femi-nist analytics of power.” In: Carl Lewy udn Saul Newman (Hg.): „The Anarchist Imagination. Anar-
chism Ecounters the Humanities and the Social Sciences.” London&/ New York: Routledge 2019, S. 110-131, hier S. 118. [Übers. O.L.]
Dies ist ein Beitrag aus der aktuellen Druckausgabe der GWR. Schnupperabos zum Kennenlernen gibt es hier.