Nach einer Woche Ausgangssperre, Börsen-Einbrüchen und leeren Toilettenpapierregalen zeigte die Bourgeoisie einmal mehr ihr beschränktes Gesicht. Finanzminister Scholz wollte das Virus mit der „Bazooka“ bekämpfen, auch Emmanuel Macron und Donald Trump sahen sich im Krieg. Letzterer forderte kurz darauf die Bevölkerung auf, für die Ärzte und Krankenschwestern zu beten.
Das Ifo-Institut rechnete unterdessen vor, die Kosten der Krise betrügen „je nach Szenario zwischen 255 und 495 Mrd. Euro und reduzieren die Jahreswachstumsrate des BIP zwischen 7,2 und 11,2 Prozentpunkte. (…) Am Arbeitsmarkt könnten bis zu
1,8 Mio. sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze (1,35 Mio. Vollzeitäquivalente) abgebaut werden und mehr als 6 Mio. Arbeitnehmer von Kurzarbeit betroffen sein.“
Zugegebenermaßen sind die Analysen und Prognosen des Ifo-Instituts nicht das Papier wert, auf dem sie gedruckt sind, dennoch: Die gesamte Menschheit erfährt dank Corona gerade in real life, was passiert, wenn man bei geltendem Wertgesetz und nationalstaatlichen Konkurrenzbedingungen die wirtschaftlichen Aktivitäten extern einschränkt.
Das Virus und das von ihm hervorgerufene, in den meisten Fällen harmlos verlaufende Krankheitsbild, sind mitnichten geeignet, irgendeinen Versorgungsengpass zu verursachen. Die meisten Infizierten sind nach wenigen Tagen wieder arbeitsfähig und selbst während der striktesten Ausgangseinschränkungen erklärten die Verantwortlichen aus Politik und Wirtschaft unisono, die Versorgung der Bevölkerung sei vollkommen sichergestellt. Es gab schlicht keine problematische Verknappung von Waren, außer vielleicht wenn Hamsterbürger aus unerfindlichen Gründen Klopapier, Mehl und Spaghetti glaubten horten zu müssen. Und wenn auf Spargelfeldern die rumänischen Saisonarbeiter*innen ausgingen, dann durchaus nicht deswegen, weil das Virus sie niedergestreckt hätte, sondern nur weil sie nicht mehr ohne weiteres einreisen konnten. Diese Knochenjobs sind derart mies bezahlt, dass sie sonst niemand freiwillig übernehmen will, was sie mit den Pflegeberufen gemeinsam haben.
Vorangetriebene Privatisierung
Nicht die Auswirkungen des Virus verursachen die kapitalistische Weltkrise, sondern das wirkende Wertgesetz. Die Ausgangsbegrenzungen mussten ja auch deshalb in dieser Drastik ausgesprochen werden, weil die seit Jahrzehnten privatisierten und zusammengesparten Krankenhauskapazitäten nicht annähernd ausreichen, um eine große Zahl zusätzlicher Patient*innen zu versorgen.
Immer wenn etwas privatisiert wird, also in den Besitz einer oder mehrerer Privatmenschen übergeht, muss sich mit diesem etwas, in diesem Fall Krankenhäusern, ein Mehrwert erzielen lassen, denn nur darum geht es bei der kapitalistischen Veranstaltung. Um mit einem Krankenhaus Mehrwert erzielen zu können, muss das Produkt, namentlich die Behandlung und Pflege von Kranken, zu einem bestimmten Preis abgesetzt werden können. Der Preis wird wie überall von der im Produkt steckenden menschlichen Arbeitskraft bestimmt. Nun gibt es im Krankenhausbetrieb nur beschränkte Automatisierungsmöglichkeiten, konkurrieren können die Kapitalist*innen hier also fast ausschließlich über die Kosten der Arbeit, wodurch der bekannte Lohndruck entsteht. In Deutschland gibt es für Krankenpfleger*innen zwar einen Tarifvertrag mit einem Brutto-Einstiegsgehalt
von 2.387,86 Euro, allerdings warnt etwa das Ausbildungsportal mystipendium.de: „Bei einem außertariflichen Arbeitgeber liegt das Krankenschwester-Gehalt in der Regel deutlich niedriger. Zwar gibt es auch private Kliniken, die sich an den Tarifverträgen orientieren, oftmals müssen Krankenschwestern sich hier aber mit einem deutlich geringeren Gehalt zufriedengeben. So liegt das Krankenschwester-Gehalt bei außertariflichen Arbeitgebern oftmals zwischen 1.600 und 2.000 Euro brutto im Monat, der Stundenlohn als Krankenschwester liegt also zwischen 9,30 und 11,63 Euro brutto.“ Trotz solcher Zustände in „privaten Kliniken“ mussten viele Krankenhäuser wegen fehlender Rentabilität geschlossen werden Es gibt sogar eine Internetseite, die Krankenhausschließungen dokumentiert. (1) Den Krankenhausnotstand hat also die marktwirtschaftliche Organisation selbst zu verantworten.
Woher kommt die Krise?
Damit ist aber noch nicht erklärt, warum der Kapitalismus vor einer Megakrise steht, wenn ein paar Wochen, vielleicht Monate die wirtschaftliche Aktivität etwas zurückgefahren werden muss. Warum müssen Millionen Lohnabhängige um ihre Jobs zittern, nur weil der weltweite Konsum etwas eingeschränkt wird? Solange Lebensmittel und alle anderen Konsumgüter in ausreichendem Maße hergestellt werden können, wo ist da eigentlich das Krisenpotential? Wer unbedingt kurzfristig Unterhosen, schicke neue Stiefel, eine Pizza oder ein Tomatengewächshaus benötigt, kann alles bequem von zu Hause bestellen. Alles wurde immer zügig geliefert. Das Virus hat weder Brücken noch Produktionsanlagen zerstört, es hat auch keine Missernten oder ähnliches verursacht – woher kommt also die Krise?
Diese naheliegende Frage wird in der öffentlichen Debatte nicht gestellt, man hält den Zusammenhang schlicht für gegeben, für eine automatische, gewissermaßen naturgemäße Folge des Shutdowns. Betrachtet man den Vorgang aber genauer, wird schnell klar, dass das Problem nicht der Shutdown an sich ist, sondern die kapitalistische Funktionsweise.
Wenn etwa eine kleine Boutique in einer guten Stadtlage für einige Wochen schließen muss, entsteht dadurch noch kein Engpass bei Bekleidungsartikeln, selbst dann nicht, wenn alle Bekleidungsgeschäfte schließen müssen – im Versandhandel ist ja alles weiterhin verfügbar. Dass die Boutiquebesitzerin und ihre Angestellten in existenzielle Nöte geraten, liegt nur daran, dass sich die Verwertung des Werts innerhalb bestimmter Fristen immer wieder aufs Neue vollziehen muss. Es ist unmöglich, das anzuhalten. Konkret: Wenn die Boutiquebesitzerin den Laden schließen und, sagen wir für zwei Monate auf Einnahmen verzichten muss, hat das unangenehme Konsequenzen:
Erstens kann sie keinen Mehrwert mehr durch Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft generieren. Das wäre für sie noch erträglich, wenn aus dieser Wertproduktion nicht verschiedene andere Kapitalist*innen bezahlt werden müssten, wie beispielsweise Vermieter*innen.
Dabei entsteht zweitens das Problem, dass die Arbeiter*innen bzw. Angestellten ihre Arbeitskraft nicht mehr verkaufen können. Wenn sie das nicht mehr können, können sie auch ihre laufenden Reproduktionskosten, Mieten, Kosten für Lebensmittel etc. nicht mehr aufbringen.
Woraus drittens eine allgemeine Nachfrageschwäche resultiert, die nun auch die Branchen betrifft, die ganz normal weiter produzieren können oder dürfen. Auch sie können ihre Produkte nicht wie gewohnt absetzen bei aber weiterbestehenden Kosten.
Gehen wir zur Kontrastierung von einer Gesellschaft aus, deren Produktionsweise nicht auf Wert, Konkurrenz und Tausch basiert. In unserer vorgestellten Gesellschaft sollen alle Produktionsmittel der Allgemeinheit gehören, ebenso wie die Produkte der Produktion. Lebensnotwendige Bedürfnisse wie Wohnen, Essen, Trinken usw. werden für alle ohne Bedingung, also ohne die Voraussetzung, dafür eine Arbeitsleistung erbracht zu haben, zur Verfügung gestellt. Für jede Art von darüber hinausgehendem Luxus muss eine bestimmte festgelegte Arbeitsleistung, gemessen in Arbeitszeit, erbracht werden.
Wenn nun in dieser Gesellschaft eine Viruspandemie ausbricht, die Teile des Massenkonsums kurzfristig lahmlegt, passiert: nichts. Die Arbeiter und Arbeiterinnen, die nicht in „systemrelevanten“ Tätigkeiten beschäftigt sind, bleiben für einige Monate zu Hause und werden wie gewohnt mit den notwendigen Lebensmitteln versorgt. Mietzahlungen gibt es nicht, weil aller Wohnraum der Allgemeinheit gehört. Auf den Feldern, im Transportwesen etc. gehen die Arbeiten weiter, mit den notwendigen zusätzlichen Hygiene- und Abstandsmaßnahmen. (Wie bekanntlich auch in der kapitalistischen Produktion, auch hier wurden „systemrelevante“ Arbeiten durchweg weiterhin erledigt.)
Für die Bevölkerung bedeutet das ausschließlich, dass sie für eine gewisse Zeit auf Luxusgüter, öffentliche Veranstaltungen, etc. verzichten und auf Abstand bleiben muss, um die Krankenhäuser nicht zu überlasten und dass sie eventuell aufgefordert ist, dort zu helfen, wo Hilfe nötig und möglich ist. (Solche Hilfscommunities wurden sogar unter kapitalistischen Bedingungen in praktisch jeder Kleinstadt in Eigenregie gegründet, es gibt keinen Grund anzunehmen, dass das unter anderen Bedingungen anders wäre.)
Eine nicht auf dem Tauschwert basierende Ökonomie könnte problemlos mehrere Jahre im Shutdown verbringen ohne die geringsten Anzeichen von Krise oder drohendem Zusammenbruch. Eine ökonomische Krise kann in einer solchen Gesellschaft nur ausbrechen, wenn sich Naturkatastrophen, Kriege oder andere externe Schocks ereignen, die Infrastrukturen zerstören, Ernten vernichten oder wenn ein großer Teil der arbeitsfähigen Bevölkerung zu Tode käme oder arbeitsunfähig würde – wenn es also einen manifesten Grund für eine krisenhafte Entwicklung gäbe.
In der wertbasierten kapitalistischen Produktionsweise dagegen stehen nun Millionen Menschen vor existenziellen Schwierigkeiten, weil ein unverstandener, selbst geschaffener Automatismus sie dazu zwingt, unentwegt ihre Arbeitskraft an einen Produktionsmittelbesitzer zu verkaufen, der ihnen nur einen Teil des von ihnen produzierten Wertes in Geld auszahlt, das wiederum als einziges Tauschmittel Zugang zu den von ihnen selbst produzierten gesellschaftlichen Reichtümern ermöglicht.
Der Wert der Arbeit
Die einzige Quelle des Werts ist menschliche Arbeitskraft und nur von diesem Wert können Mieten etc. abgezogen werden. Wenn eine Zeit lang deutlich weniger Wert produziert wird, die Wertabzüge aber weiterhin durchgeführt werden sollen und die Nachfrage nicht einbrechen soll, entstehen überall Wertlücken, die aufaddiert zu den immensen Summen führen, die jetzt irgendwo hergezaubert werden müssen.
Die Maßnahmen der Politik (Mietenstundung, Kurzarbeit, erleichterte Kreditbedingungen) zielen darauf, diese Wertlücken zu überbrücken. Es wird dabei im Grunde Wert ausgeschüttet, der noch gar nicht produziert ist, also menschliche Arbeit, die noch gar nicht geleistet wurde und später dann von den Wertproduzenten, also den Arbeiter*innen „nachträglich“ produziert werden muss. Bei alledem entsteht, das ist Voraussetzung jeder Ingangsetzung kapitalistischer Produktion, immer Mehrwert für die Kapitalist*innen, von denen zwar in der Krise auch einige pleitegehen können, deren Klasse insgesamt bei diesem Spiel aber nie verlieren kann. Dass BMW Kurzarbeit, also Staatshilfe, beantragt und gleichzeitig seinen Aktionären die übliche Dividendenausschüttung verspricht, ist kein Widerspruch, sondern kapitalistischer Normalbetrieb.
Eine Lehre der Krise ist allerdings auch, dass jahrzehntelange angebliche Gewissheiten sich in wenigen Tagen in Wohlgefallen auflösen können. So spekulierte etwa Finanzrambo Scholz in der TV-Sendung Anne Will, man könne ja den deutschen Maschinenbau dazu nutzen, Maschinen herzustellen, mit denen man dann Atemmasken herstellen könne und stand kurz vor der Erstellung eines Fünfjahresplans.
Wirtschaftsminister Altmaier musste im tagesthemen-Interview indes zugeben: „Ich habe gesagt, dass wir als Staat so handeln wollen, dass kein Arbeitsplatz verloren gehen muss wegen dieser Corona-Krise, aber natürlich leben wir in einer Marktwirtschaft.“ Dem ist nichts hinzuzufügen.
Anmerkungen:
(1) kliniksterben.de
Dies ist ein Beitrag aus der aktuellen Druckausgabe der GWR. Schnupperabos zum Kennenlernen gibt es hier.