Besetzung und Räumung des Bohrlochs 1004 in Gorleben, die heute legendäre „Republik Freies Wendland“, jähren sich derzeit zum 40. Mal. Noch immer wird in Presse-Rückblicken, aber auch in der Geschichtsschreibung über soziale Bewegungen der große Einfluss negiert oder marginalisiert, den Graswurzel- und gewaltfreie Aktionsgruppen daran hatten. Der folgende Text des US-Historikers Matthew N. Lyons wurde aus seiner 1988 publizierten englischsprachigen Arbeit zur Geschichte der Graswurzelbewegung in der BRD übersetzt. (Red.)
Der bedeutsamste Einfluss der Graswurzelgruppen [auch: gewaltfreie Aktionsgruppen] auf die Anti-Atom-Bewegung entstand in den Jahren von 1978 bis 1980. Es war bereits ein Zugeständnis auf den Druck der Anti-Atom-Bewegung gewesen, dass die Bonner Regierung West-Deutschlands im Jahr 1976 verkündete, der Neubau von Atomkraftwerken werde solange gestoppt, bis es zur Umsetzung eines Projekts zur Lagerung des atomaren Abfalls komme. Die Planung eines ganzen Komplexes für Lagerung und Wiederaufarbeitung in Gorleben sollte bald zur wichtigsten Thematik in der Atomdebatte werden, was die Anti-Atom-Aktivist*innen frühzeitig erkannten. Wenn sie daher – so ihre Intention – das Gorleben-Projekt aufhalten konnten, konnten sie auch die gesamte Erweiterung der Atomkraftnutzung stoppen. (1)
In einem Versuch, sowohl die gewaltsamen „Schlachten“ mit der Polizei als auch den „Anti-Atom-Tourismus“ der voraufgehenden Massendemonstrationen von 1976 bis 1977 zu vermeiden, entwickelten die Graswurzelgruppen im Jahr 1978 einen Plan für einen gewaltfreien und „dezentralen Widerstand“. Sie bezogen sich dabei auf die Kampagne gegen das Atomkraftwerk in Wyhl 1974 bis 1975, als der Anti-Atom-Aktivismus fest in den betroffenen Gemeinden vor Ort verankert war. Im Gegensatz zur Region um Whyl entwickelte sich der Widerstand im Wendland – der Region um den Standort Gorleben – nur langsam und vorsichtig. Er blieb zunächst weitgehend auf die „Zugezogenen“ aus der städtischen Mittelklasse beschränkt. Nur langsam beteiligten sich immer mehr örtliche Bauern und Bäuerinnen am Kampf. (2)
Die Gorleben-„Freundeskreise“
Passstelle am Eingang – Foto: Herbert Sauerwein
Aus diesem Grund setzte die dezentrale Widerstandsstrategie zunächst auf die Gründung von Gorleben-„Freundeskreisen“ in der gesamten westdeutschen Bundesrepublik. Viele Graswurzelaktivist*innen erkannten in den Freundeskreisen die Chance, langfristige und stabile Gruppenbündnisse zu entwickeln. Inhaltlich wurden dabei die zentrale Bedeutung des Gorleben-Projekts für die Atomindustrie mit dessen Abhängigkeit von lokalen Zuliefer- und Infrastrukturfunktionen über die gesamte West-BRD hinweg verknüpft. Diese neue Gruppenstruktur sah sich anfangs organisatorischen Reibereien mit älteren Anti-Atom-Gruppen gegenüber und kam nur langsam in Gang. Offensichtlich übernahmen viele, die hinzukamen, den Grundsatz der Gewaltfreiheit nur aus Angst vor der Polizei. Aber eine Reihe von bundesweit koordinierten „Aktionstagen“ hob die Beteiligung an den Freundeskreisen auf 28.000 Menschen in mehr als 40 Städten. Der dezentrale Widerstand nahm die Form kleiner, vielfältiger Aktionen an, die von Straßentheater über Blockaden zu weiteren Aktionen zivilen Ungehorsams reichten. Einige Gruppen beteiligten sich durch eine Veröffentlichung ihrer Boykotterklärung aktiv am bereits laufenden Stromzahlungsboykott. Andere versuchten, sich auf politische Bildung zu Polizeigewalt zu konzentrieren. Dadurch entstand ein örtlich verankertes Netzwerk für gewaltfreie Aktion, das weit über die engeren Graswurzelzusammenhänge hinausging. (3)
Andere Gruppen innerhalb der Anti-AKW-Bewegung kritisierten diese dezentrale Widerstandsstrategie. „Militante Autonome“ sprachen sich für eine Rückkehr zu den zentralisierten Schlachten mit der Polizei aus. Im Jahr 1979 organisierten bürgerliche Gruppen Massendemos in Hannover und in Bonn; gleichzeitig begann eine Reihe von Anti-Atom-Gruppen, sich auf Formen der Wahlpolitik zu konzentrieren [„Die Grünen“ wurden 1980 gegründet]. All diese Ansätze legten in den Augen der Graswurzelaktivist*innen nur veraltete Konzepte wieder auf und führten zu politischer Passivität. (4)
Im September 1979 begannen die Bohrungen für das Atommüllendlager. Nach einer hitzigen Diskussion im Frühjahr 1980 entschied eine Konferenz der Anti-AKW-Bewegung, zu einer gewaltfreien Besetzung der Bohrstelle aufzurufen. Während einige „autonome“ Gruppen sofort aus der Planung ausstiegen, wurde sie von den lokalen Widerstandsgruppen aus dem Wendland unterstützt. (5)
Das Modell Seabrook und die „Affinity Groups“
Hüttenbau – Foto: Herbert Sauerwein
Die Graswurzelgruppen spielten eine entscheidende Rolle bei der Ausarbeitung des Plans für die gewaltfreie Besetzung. Sie waren dabei stark durch das Beispiel der gewaltfreien Besetzung der US-amerikanischen Anti-Atom-Bewegung des Standorts Seabrook, New Hampshire, vom Frühling 1977 beeinflusst. 1979 hatte die Berliner Gruppe „Klatschmohn“, die sich weitgehend aus Graswurzelaktivist*innen zusammensetzte, vier Monate in den USA verbracht, um dort mehr über gewaltfreie Aktionsmethoden und deren Prinzipien zu erfahren. Unter den vielen Organisationen, die „Klatschmohn“ dabei besuchte, befanden sich die „Community for Creative Nonviolence“ in Washington, D.C., das „Center for Nonviolent Action“ in Voluntown, Connecticut, und das „Movement for a New Society“ in Philadelphia. So entwickelten Klatschmohn und andere Graswurzelgruppen einen Gorleben-Aktionsplan, der sich eng an das Modell von Seabrook anlehnte. (6)
Während die voraufgehenden Aktionen der bundesdeutschen Anti-AKW-Bewegung in Brokdorf die Protestierenden als amorphe Masse zusammenbrachten, zeigte das Modell von Seabrook, wie auch große Menschenmengen eine Besetzung als ein zusammenhängendes und miteinander kommunizierendes Netzwerk aus Gruppen durchführen konnten. In den Wochen vor der Besetzung organisierten Leute aus Graswurzel-„Trainingskollektiven“ in vielen Städten Trainings in gewaltfreier Aktion und verteilten ein „Handbuch“ [genauer Titel: „Gorleben. Handbuch für Trainings zur Besetzung der Bohrstelle 1004“] zur Vorbereitung auf die Besetzung. Das Handbuch beinhaltete Informationen zur Gewaltfreiheit, Empfehlungen für die Organisierung und direkte Aktionen, Rechtshilfeinfos, eine kurze Geschichte der bisherigen Gorleben-Kampagne, eine Erklärung des Besetzungsplans sowie weitere Materialien. Die Organisator*innen empfahlen den Beteiligten, schon vorher und auch während der Besetzung sogenannte „Bezugsgruppen“ (Affinity Groups) mit anderen Leuten aus ihrer Herkunftsstadt zu bilden. Diese Bezugsgruppen bildeten die organisatorische Basis für das Hüttendorf bei der Besetzung – das dann „Republik Freies Wendland“ genannt wurde. (7)
Das Konzept der „Bezugsgruppe“ wurde zuerst von spanischen Anarchist*innen in den frühen Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts entwickelt – und in den letzten Dekaden ist es von gewaltfreien Anarchist*innen in vielen Ländern wieder aufgenommen worden. Eine Bezugsgruppe besteht als Aktionsgruppe enger Vertrauter in der Regel aus 10 bis 20 Leuten und entscheidet zunächst autonom. Bei größeren Organisierungen oder Aktionen wie in Seabrook oder Gorleben sollen die Bezugsgruppen auch Gefühle der Anonymität und Vereinzelung überwinden, sowohl die Gewaltfreiheit als auch die Unberechenbarkeit und Flexibilität während der Aktionen gewährleisten. Sie sollen Informationen und Macht dezentralisieren, indem jede Person eine direkte Stimme bei der Planung und bei den Entscheidungsfindungen hat. Jede Bezugsgruppe entsendet rotierend Delegierte zu einem sogenannten „Sprecher*innenrat“, der jedoch keine verbindlichen Entscheidungen fällt, sondern versucht, Übereinstimmungen der Gruppenentscheidungen festzustellen, die dann zurück in die Bezugsgruppen gehen, um dort gutgeheißen oder abgelehnt zu werden. Sowohl die Bezugsgruppen als auch der Sprecher*innenrat entscheiden dabei nicht per Mehrheitsabstimmung, sondern durch das Konsensverfahren – einen Prozess, in dem jede Person eine Entscheidung durch Veto blockieren kann. Der Sinn dieses Verfahrens ist nicht notwendig das Erzielen absoluter Einigkeit, sondern vielmehr die Absicherung durch das Verfahren, dass jede/r Beteiligte das Gefühl hat, dass seine/ihre Meinung angemessen berücksichtigt worden ist. (8)
Die Republik Freies Wendland
Musik auf dem Dorfplatz – Foto: Herbert Sauerwein
Die Besetzung in Gorleben fand dann vom 3. Mai bis 4. Juni 1980 statt. Es beteiligten sich Tausende von Menschen [ca. 5000 nach Elbe-Jeetzel-Zeitung, 5. Mai 1980] aus ganz Westdeutschland. Die „Republik Freies Wendland“ wurde zu einem Platz kontinuierlicher, weitreichender, oft spontaner Aktivitäten: Häuser wurden gebaut, Musik und Theater gespielt, Bildungsveranstaltungen und politische Diskussionen durchgeführt usw. Die antizipierende Vorbereitung durch Trainings und Bezugsgruppen führte dazu, dass das Hüttendorf schnell und effizient aufgebaut werden konnte. Innerhalb des bestehenden Dorfes umfasste die Bezugsgruppenstruktur eine Reihe unterschiedlicher Organisationsformen, von kleineren „familiären“ Einheiten bis hin zu großen, nur locker verknüpften Gruppen aus Großstädten. (9)
Die Beziehungen zu den lokalen Anwohner*innen waren unterschiedlich. Einige wenige Bauern und Bäuerinnen nahmen direkt an der Besetzung teil; sehr viele jedoch zeigten ihre Solidarität dadurch, dass sie Essen, Wasser oder Stroh brachten oder mit Rat und Tat beim Aufbau der Hütten zur Seite standen. Die Besetzer*innen errichteten eine Infohütte im Dorf, welche die Kommunikation zwischen den Besucher*innen aus der unmittelbaren Region und den Radikalen aus den Städten verbessern half. Aber wenn die Besetzer*innen ihrerseits in die umliegenden Dörfer rausgingen, waren sie weit weniger willkommen. (10)
Es gab aber auch Probleme mit dem System des Sprecher*innenrats. Einerseits beteiligte sich ein Teil der Hüttendorfbewohner*innen im eigentlichen Sinne am Entscheidungsfindungsprozess, andererseits spielte ein anderer Teil die Rolle „professionneller Politiker*innen“ und versuchte, den Sprecher*innenrat dazu auszunutzen, die Ansicht einzelner Individuen zu propagieren und ihren Einfluss zu erhöhen. Einige Autonome lehnten das System des Sprecher*innenrats generell als anti-demokratisch ab und führten sogar Proteste dagegen innerhalb des Hüttendorfes durch. Die Autonomen und weitere „Militante“ kritisierten außerdem die Übereinkunft, die Aktion bis zur Räumung gewaltfrei durchzuführen. Sie argumentierten, dass die hauptsächliche Verteidigungstaktik, die angewandt wurde, als die Polizei angriff und die Besetzer*innen räumte – sich zu setzen und sich weigern, wegzugehen – nur ein Ausdruck von Schwäche und Passivität sei. Die Behauptung, eine solche Räumung sei als „moralischer Sieg“ zu werten, war aus ihrer Sicht katastrophal. (11)
Fotos: Herbert Sauerwein – Quelle: Youtube
Auch einige Graswurzelaktivist*innen kritisierten die Aktionsdurchführung – zum Teil als eine Antwort auf die Kritik der Autonomen. Sie meinten, dass zu viele Leute noch immer Gewaltfreiheit mit Legalismus oder Konfliktvermeidung verwechselten. Es gebe noch viel Arbeit dahingehend, Formen gewaltfreier Aktion zu entwickeln, die phantasievoll und unberechenbar waren sowie den Staat aktiv und direkt konfrontieren können. Auch müssten die Entscheidungsfindungsprozesse so organisiert werden, dass sie nicht so leicht in Foren für Machtpolitiken transformiert werden können. (12) Trotzdem wurden diese Bestandteile der Strategie, das Training in gewaltfreier Aktion, die Bezugsgruppen, der Sprecher*innenrat und das Entscheidungsverfahren per Konsens zu einem Modell, das die Graswurzelgruppen in der Folge weiter entwickelten und das in den Anti-AKW- und den antimilitaristischen Aktionen der nachfolgenden Jahre weithin umgesetzt wurde.
Die gesamte Arbeit von Matthew M. Lyons: „The ‚grassroots’ network. Radical nonviolence in the Federal Republic of Germany 1972-1985“ ist online zu finden unter der Website von „Nonviolent resistance“:
http://castor.divergences.be/spip.php?article778 .
Der hier übersetzte Abschnitt „The Gorleben Campaign“ entstammt dem III. Kapitel dieser Arbeit: http://castor.divergences.be/spip.php?article761 .
Wichtige Bücher:
Buch 1 zum Thema, erhältlich über die GWR-Website:
Dieter Halbach, Gerd Panzer: Zwischen Gorleben und Stadtleben. Erfahrungen aus drei Jahren Widerstand im Wendland und in dezentralen Aktionen, ursprünglich AHDE, Berlin 1980; übernommen zunächst durch den Verlag Weber, Zucht und Co.; übernommen und noch erhältlich im Buchverlag Graswurzelrevolution:
https://www.graswurzel.net/gwr/produkt/zwischen-gorleben-stadtleben/ .
Buch 2 zur Geschichte der Graswurzelrevolution in den Siebzigerjahren:
Johann Bauer: „Ein weltweiter Aufbruch. Gespräch über den gewaltfreien Anarchismus der Siebzigerjahre. Mit Grundsatztexten u.a. zur Kritik der RAF und zur Göttinger ‚Mescalero’-Affäre“, Verlag Graswurzelrevolution, 2009:
https://www.graswurzel.net/gwr/produkt/ein-weltweiter-aufbruch/ .
Anmerkungen:
(1): Interview mit Dieter Rau, West-Berlin, 15. August 1985; Dorothy Nelkin, Michael Pollak: „The Atom Besieged: Antinuclear Movements in France and Germany“, MIT Press, Cambridge, Mass., S. 105-122, hier S. 87.
(2): Interview mit Dieter Rau; Günter Saathoff: „Graswurzelrevolution – Praxis, Theorie und Organisation des gewaltfreien Anarchismus in der Bundesrepublik 1972-1980“; unveröffentlichte Uni-Arbeit, Marburg 1980, S. 108f.
(3): Halbach, Panzer: „Zwischen Gorleben und Stadtleben“, siehe oben Buch 1 zum Thema, S. 75-82; Saathoff, S. 107-118.
(4): Interview mit Dieter Rau; Saathoff, S. 113f.
(5): Halbach, Panzer, S. 152-163; Saathoff, S. 114-117.
(6): Interview mit Dieter Rau.
(7): Interview mit Dieter Rau. Das genannte Gorleben-Handbuch wurde im April 1980 von den „Trainingskollektiven für gewaltfreie Aktion“ veröffentlicht. Eine überarbeitete Neuauflage erschien im Oktober 1983.
(8): Gorleben-Handbuch, S. 20-28.
(9): Halbach, Panzer, S. 163; siehe auch Artikel: „Turm und Dorf könnt Ihr zerstören, aber nicht die Kraft, die es schuf“, in: Graswurzelrevolution Nr. 49, Sommer 1980, S. 5f.
(10): Artikel „Turm und Dorf...“, S. 5ff.
(11): Die Zeitung Graswurzelrevolution zitierte Auszüge aus der Kritik eines Hamburger Autonomen zur Gorleben-Besetzung: „Widersprüche und Fragen zur Besetzung und Räumung von 1004, in: Graswurzelrevolution Nr. 50, Oktober/November 1980, S. 23-26. Siehe außerdem Halbach, Panzer, S. 164-176; sowie Artikel: „Turm und Dorf...“, S. 5 und 9f.
(12): Artikel: „Turm und Dorf...“, S. 8-13.
Dies ist ein Beitrag der Online-Redaktion. Schnupperabos der monatlichen Printausgabe zum Kennenlernen gibt es hier