Besetzung und Räumung der „Republik Freies Wendland“ am Bohrloch 1004 in Gorleben, jähren sich derzeit zum 40. Mal. Um die Bedeutung der Graswurzel- und gewaltfreien Aktionsgruppen bei diesem Ereignis zu verdeutlichen, veröffentlicht die GWR zwei Artikel. Auf unserer Webseite www.graswurzel.net könnt ihr die Übersetzung eines Kapitels der 1988 publizierten Arbeit des US-Historikers Matthew N. Lyons zur Geschichte der Graswurzelbewegung in der BRD lesen. Als Ergänzung drucken wir hier den Erlebnisbericht Ulrich Klans. (GWR-Red.)
Vom 2. Mai bis zum 4. Juni 1980 dauerte die Besetzung der „Freien Republik Wendland“ in der Nähe von Gorleben. Das war im damaligen (West-)Deutschland ganz neuartig: Mehrere tausend Atomkraftgegner*innen wagten ein Projekt massenhaften zivilen Ungehorsams und praktischer Utopie. Auch ich war damals dabei. Es war – zwei Jahre nach dem alternativen Berliner Kongress „Tunix“ – ein außergewöhnlicher Neuaufbruch der Anti-AKW-Bewegung, in der sich damals echte Ökos, Spontis, Feministinnen, Autonome, Graswurzler-* und andere Anarchist*innen, enttäuschte Jusos und nicht weniger enttäuschte Maoist*innen zusammen rauften. So gut wie nicht vertreten waren Linke der sowjetischen und DDR-Richtung: Von dort kam das gläubige Mantra, die „sozialistischen“ AKWs seien „sicherer“ als die des westlichen Profitsystems. (1)
Vor allem junge Menschen aus dem Wendland und aus Städten wie Hamburg, Frankfurt, Göttingen, München, Berlin, Düsseldorf oder Wuppertal, aber auch aus Wyhl im Elsass, aus der Schweiz oder Österreich waren unter den Besetzer*innen der so genannten „Tiefbohrstelle 1004“. Hinter dieser Ortsbezeichnung in scheinbar harmlosem Geologen-Jargon versteckte die Atomindustrie, dass es um viel mehr ging als um so genannte „Probe“-Bohrungen! Das hier war der geplante Standort einer nuklearen Wiederaufarbeitungsanlage (WAA), eines Atommüll-Endlagers und weiterer Nuklearfabriken.
Auch wenn unsere Besetzung nach 33 Tagen von einem Großaufgebot der Polizei und des Bundesgrenzschutzes geräumt wurde, konnte der WAAhnsinn im Wendland wie in ganz Deutschland letztlich verhindert werden. Mit dem Hüttendorf auf dem besetzten Bohrplatz machten Einheimische, Zugezogene und Zugereiste den schon Jahre lange „unterirdisch“ entwickelten gemeinsamen Widerstand in dieser Region zu einem Brennpunkt der gesamten Anti-AKW-Bewegung. Sowohl die Atomindustrie nebst den ihr ergebenen Politikern als auch die meisten AKW-Gegner*innen sahen in der geplanten WAA das (!) zentrale Projekt der damaligen Energiepolitik. Daher bündelten die AKW-Gegner*innen ihre Kräfte dort – viele von uns dauerhaft. Die große, bestens im Landkreis verankerte Bürgerinitiative Lüchow-Dannenberg bekam schon lange vor der Besetzung immer mehr Besuch von auswärtigen Anti-Atom-Initiativen.
Freundschaftsgruppen statt anonymer „Polittourismus“
Viel weiter gehend als an anderen AKW-Standorten – und aus dortigen Problemen der Bewegung lernend – schufen wir im Wendland zusammen mit Bewohner*innen des Landkreises langjährige, feste Patenschaften zwischen auswärtigen Anti-AKW-Initiativen und engagierten Einheimischen in Gorleben, Trebel, Lüchow, Dannenberg, Gartow und anderen Orten. Diese so genannten „Freundschaftsgruppen“ machten es möglich, dass die – reichlich vorhandenen – Vorurteile zwischen Einheimischen und uns „Zugereisten“ auf beiden Seiten langsam verringert werden konnten. Hier wurde vielen von uns klar, was der Dichter und Kriegsgegner Armin T. Wegner einmal so ausdrückt hat: „Die Völker wie die Menschen kennen einander nicht – das ist ihr größter Mangel.“ (2) Statt als anonyme Großstadt-Aktionstouris vorübergehend in die Region einzufallen, Randale zu machen und dann spurlos zu verschwinden, entwickelten wir mit unseren „Pat*innen“ im Wendland gegenseitigen Respekt: Wir tauschten uns mit ihnen regelmäßig aus, diskutierten intensiv und geduldig miteinander, versuchten uns gegenseitig einzufühlen und erlebten zunehmendes Vertrauen. Das gelang auch solchen Initiativen, die – wie meine Gruppe – aus weit entfernten Städten kamen. Ich lebte damals im Rheinland, wohnte in Düsseldorf und studierte in Wuppertal. Auch die „Bürgerinitiative Umweltschutz Düsseldorf“*, in der ich engagiert war, hatte eine solche dauerhafte Patenschaft im Wendland – und zwar mit Einheimischen aus dem Dorf Gartow. Wir bekamen dort jede Unterstützung und halfen dem Widerstand vor Ort mit allen Kräften. Nebenbei lernten wir im Landkreis nicht „zufällig“ auch andere auswärtige Gruppen gut kennen – etwa aus Hamburg – und wir freuten uns natürlich auch über schon bekannte Gesichter aus Wuppertal. Wie andere Freundschaftsgruppen waren wir über Jahre immer wieder im Wendland. So kannten wir uns in der Region bestens aus – weit besser als die dort aus ganz Niedersachsen oder von noch weiter her eingeflogenen Polizeikräfte, die wir bei vielen nächtlichen Aktionen locker abhängen konnten. Auf diese Weise gelang eine wirksame Unterstützung für Aktivist*innen, die manches „Probe“-Bohrloch der Betreiber etwa mit Gülle oder Beton unbrauchbar machten. Die Jahre und Monate vor der Besetzung von „1004“ erinnerten vielfach an Asterix: Die „Legionäre“ bekamen so gut wie keine Schnitte! Sehr viele im Landkreis, Bauern und Bäuerinnen, Bäcker*- und Handwerker*innen, Lehrer*innen und Schulklassen, Touristik-Unternehmen und ein großer Teil der veröffentlichten Meinung standen hinter uns. Wenn auch oft mit lebhaftem Widerspruch.
Als das Gelände von „1004“ schließlich besetzt wurde, war das übrigens keine „Lichtung im Wald“, wie der „Spiegel“ und andere auswärtige Medien damals verharmlosend schrieben. Hier war der Wald schon Jahre zuvor durch Brandstifter niedergebrannt worden – „zufällig“ genau am geplanten Standort der WAA: Offensichtlich wollten die Betreiber illegal Tatsachen schaffen – und bessere Bedingungen zum Kauf dieses Waldstückes. (3) Vor allem solche mafiösen Praktiken waren es, welche die Menschen – im Landkreis wie anderswo – so gründlich zum Widerstand gegen die WAA veranlassten.
Phantasie, neue Energie und neue Architekturen
Derartiges Unrecht befeuerte nicht nur die Energie sondern auch die Phantasie des Widerstands. Von der reichen Kultur, die hier auch schon vor der Besetzung von „1004“ wuchs, sei hier exemplarisch das „Lied vom Lebensvogel“ genannt, das überall in der BRD gehört und gesungen wurde. Dieses Lied wurde 1978 für Gorleben und für die gesamte Anti-AKW-Bewegung geschrieben von meinem Freund, dem viel zu früh gestorbenen Liedermacher und Aktivisten Walter Mossmann (1941 – 2015). (4) Unter Atomgegner*innen war er das Gesicht des schon Jahre zuvor Länder übergreifenden Widerstandes gegen das französische AKW Fessenheim nahe Wyhl im Elsass. Wie er arbeiteten viele schon seit 1974 an der Vernetzung des Widerstands – besonders mit dem Wendland. Und darüber hinaus: Mit dem „Lied vom Lebensvogel“ träumten wir laut davon, den Widerstand im „Zonenrandgebiet“ von Gorleben auch mit der beginnenden Ökopax-Untergrundbewegung in der benachbarten DDR zu verbinden. (5) Last but not least: Der „Lebensvogel“ war eine bezaubernde Hymne auf die wunderschöne Natur im Wendland. Es war dieses Lied, das vielen von uns zornigen Großstädter*innen nachhaltig ins Herz pflanzte, wofür wir in der Anti-AKW-Bewegung kämpften.
Als dann „1004“ besetzt wurde, war die vom Brand verwüstete Fläche noch immer voller brauchbarer Baumreste: Dieses Brandholz diente ohne „Kahlschlag“ zum Bau des eindrucksvollen Hüttendorfes, welches als „Republik Freies Wendland“ bekannt wurde. Aus diesem Material wurden die meisten der kreativen Bauwerke auf dem Dorfplatz gezimmert. Hier wurden damals ganz neue Baustile und Materialien ausprobiert – manche davon waren Vorreiter dessen, was heute als ökologische, nachhaltige Baukultur und -technik bekannt ist. Besonders beeindruckte das Frauenhaus, das in einer uns bis dahin unbekannten Bauweise errichtet war: Viele seiner Wände bestanden aus leeren Flaschen in vielen Farben. Diese Hohlglaswände gaben neuartiges Licht und speicherten Wärme. Das Kinderhaus war das schönste, verspielteste und „zerbrechlichste“ Haus im Hüttendorf: Seine Wände bestanden vor allem aus Fenstern, deren Glas die Kinder selbst bunt bemalten.
Von den anderen Bauwerken erinnere ich mich z.B. an ein Strohhaus und das Windrad, das den Strom für die Alarmanlage und für den Sender „Radio Freies Wendland“ lieferte. Dieser Piratensender stand in einer Hütte, welche in ca. 8 m Höhe auf der Plattform eines imposanten Turmes im Zentrum des Dorfes errichtet wurde. Am Dorfrand gab es auch eine „Passhütte“– aus dem gleichen Brandholz gezimmert –, wo man den sogenannten „Wendenpass“ bekam. Oder auch einen Stempel der Republik Freies Wendland in den eigenen Pass. Ich hatte beides. Diese „Pass“- und „Grenz“-Details wurden augenzwinkernd und mit lie-bevoll-subversivem Humor ge-pflegt und genutzt. Zu seiner Gültigkeit stand im „Wendenpass“: „Gültig für das gesamte Universum“ und „[…] solange sein Inhaber noch lachen kann“. Das „Freundschaftshaus“ war als einziges Haus auf „1004“ nach regulären Bauplänen entworfen. Die große Rundhalle bot bis zu 400 Menschen Platz und war mit Versammlungen, täglichen Sitzungen des Sprecher*innenrats oder Kulturveranstaltungen ständig ausgebucht.
Hier und auf dem Dorfplatz wurden von den Besetzer*innen mehrmals Planspiele durchgeführt, um zusammen das von allen vereinbarte gewaltfreie Verhalten bei der Räumung zu üben. Übrigens: Selbst die Dachkonstruktion des Freundschaftshauses war vorsorglich so berechnet, dass sich auf dem Dach über 100 Personen aufhalten konnten. Das war nicht nur multifunktional und bot schöne Aussicht. Die Besetzung des Daches war auch für die Räumung einkalkuliert, um das Wegtragen durch die Polizei komplizierter und zeitaufwändiger zu machen und deren Kräfte zu binden: Die Besetzer*innen des Daches, zu denen bei der Räumung auch unsere Düsseldorfer Gruppe gehörte, mussten vom über 2 m hohen Außenrand des Daches einzeln von mehreren Polizisten herabgelassen werden. Dabei sahen wir mehrfach, dass Polizisten „ihre*n“ Festgenommene*n einfach vom Dach stoßen wollten. Das unterließen die Räumkommandos zumeist, wenn wir sie auf die vielen Kameras aufmerksam machten, welche unsere Unterstützer*- und auch Medienvertreter*innen auf das Geschehen richteten.
Am Morgen des 4. Juni schloss ein martialisches Großaufgebot von Polizei und Bundesgrenzschutz aus der ganzen BRD – unterstützt von tieffliegenden Hubschraubern – einen Ring um das Dorf. Wir waren ca. 4.000 Besetzer*innen und saßen untergehakt in konzentrischen Kreisen auf dem Boden des Dorfes um den Radio-Turm sowie im Freundschaftshaus und auf seinem Dach. Ehe sie uns zum Verlassen des Geländes aufforderten, begannen anrückende Polizisten provokativ, mit Gummiknüppeln oder Stiefeln zunächst am Kinderhaus (!) die Scheiben einzuschlagen. Es war schwer, in diesem Augenblick die Wut zu zügeln und uns alle an das zu halten, was wir gemeinsam zur Räumung vereinbart hatten: „Wir haben beschlossen, dass nichts geworfen und jede Verletzung von Personen vermieden werden soll. Auch das Schmeißen von Güllebeuteln wurde abgelehnt.“ (6)
Wir blieben bei der Räumung konsequent gewaltlos. So entlarvten wir die Hetze der „Bild“-Zeitung und das Bürgerkriegs-Szenario der Politik. Allein die Geduld und die Phantasie, mit der wir täglich und stündlich die nie versiegende Diskussion der „Gewaltfrage“ durchgestanden und gelöst (!) hatten, war eine Schule des Lebens, des Friedens und der Gesprächskultur, die ich nie vergessen werde. Es war die tiefe Erfahrung gemeinsamer Basisdemokratie, eines neuartigen und gleichberechtigten Miteinanders. Nicht nur für mich wurde „1004“ zum ersten, bis heute eindrucksvollsten Erlebnis von gemeinsamem und gewaltlosem Widerstand.
Auch wenn wir damals geräumt wurden und die Details der „Freien Republik Wendland“ heute nur noch von historischem Interesse sind: Unsere ganze Bewegung, welche sich für einen Augenblick an diesem zentralen Ort bündelte, blieb letztlich erfolgreich. War schon die Besetzung und auch die Räumung ein bundesweites Fanal, so stieg der Widerstand danach immer weiter an. Die Anti-AKW-Bewegung wurde überall gestärkt und blieb letztlich in ganz Deutschland erfolgreich.
Mich persönlich prägt diese langfristige Kraft des gewaltlosen Widerstandes bis heute. Es war diese Erfahrung aus Gorleben, die mir und vielen anderen immer wieder die Energie und die Lust gab, Widerstand phantasievoll und gewaltfrei zu gestalten. So später etwa bei der Verhinderung des so genannten „Bombodrom“ mit der Bürgerinitiative FREIe HEIDe (7) oder im zivilen Ungehorsam von Künstler* und Musiker*innen in der bis heute bestehenden Initiative „Lebenslaute“ (8).
Ulrich Klan
Ulrich Klan ist Musiker, Komponist, Herausgeber und Vorsitzender der internationalen „Armin T. Wegner Gesellschaft“. Er gehört seit Beginn zu den Aktivist*innen des musikalischen Widerstands-Netzwerkes „Lebenslaute“, das mit dem Aachener Friedenspreis ausgezeichnet wurde und ist Mitbegründer der legendären Politsatireband „Fortschrott“. Einen aktuellen Corona-livestream der bis heute aktiven Band gibt es unter www.live-aus-wuppertal.de oder auch unter https://youtu.be/E7w5VT-t4NM – und einen neuen podcast mit Songs und Interviews auf www.atti-tune.de/fortschrott.
Anmerkungen:
(1) Dieser Irrtum wurde dann spätestens 1986 mit der Havarie des Reaktors von Tschernobyl offenbar.
(2) A. T. Wegner, „Brief an Hitler“ (1933), in: Armin T. Wegner, Rufe in die Welt, hg. Michael Hofmann und Miriam Esau, Göttingen 2015 im Rahmen der A.T. Wegner-Werkausgabe, hg. von Ulrich Klan
(3) „Seltsamerweise ereigneten sich die Waldbrände alle auf Flächen, die als Standorte für mögliche Atomkraftwerke bzw. das nukleare Entsorgungszentrum im Gespräch waren. (…) Für die Baupläne in Gorleben war es jedenfalls extrem günstig, dass die Waldflächen abgebrannt waren. So konnten die Waldeigentümer einfacher zum Verkauf bewegt werden.“ Lilo Wollny in: wendland-net.de – Zeitzeugen, 22.02.2009
(4) „Ein Gift-Müll soll versteckt werden im Salz der Erde unter dem Land; / Und für die Gift-Fabrik braucht es ein leeres Land am Rand. / Die Mafia hat gebetet um ein` Boden ohne Wert. Der liebe Gott hat das Gebet der Mafia erhört. / Sein Feuer hat paar Wälder hinter Gorleben zerstört – Mein Gott, kam der gelegen, dieser Brand!“ aus „Lied vom Lebensvogel“, in Walter Mossmann, Flugblatt-Lieder und Streitschriften, Berlin 1980, S. 123.
(5) Das Lied beginnt mit der Zeile „Da, wo die Elbe rauskommt aus dem Zaun, der unter Strom steht und schießt ...“ und denkt am Schluss die grenzüberschreitenden Erfahrungen der Anti-AKW-Bewegungen am Oberrhein weiter: „Denk ich an den Oberrhein, die Grenze zwischen Wyhl und Mackolsheim, / warum soll so`n Zusammenschluss hier ausgeschlossen sein? / Die Herr`n in Ost und West spielen mit uns ein schlimmes Spiel, und unter unseren Füßen brennt der selbe heiße Müll ...“ in: ebd., S. 125.
(6) Konsenspapier des Sprecher*innenrates, 15. 5. 1980, in: Freie Republik Wendland – eine Dokumentation, Frankfurt / Main, 1980, S. 55
Dies ist ein Beitrag aus der aktuellen Druckausgabe der GWR. Schnupperabos zum Kennenlernen gibt es hier.