In den Teilen 1 und 2 (GWR 448 und 449) dieser Artikelserie standen die Bündnisse der Rojava-Milizen mit der US-Armee und mit Assad im Mittelpunkt. Im abschließenden 3. Teil werden die Frauenmilizen (YPJ) einer kritischen Analyse unterzogen, bevor zwei Möglichkeiten libertärer Utopien diskutiert werden, die aus der als gewaltfreiem Widerstand aufgewerteten Massenflucht (siehe Teil 2) hervorgehen könnten. (GWR-Red.)
Der Schweizer Journalist Manuel Frick bereiste Ende 2018 das nordöstliche Rojava um Qamischli. Er besuchte eine für ihn beeindruckende, aus ca. 100 Frauen und Männern bestehende gemischte Theatergruppe in der Stadt sowie das Ende 2016 von Frauenorganisationen der PYD [Partei der Demokratischen Union] gegründete Frauendorf Jinwar. Es sollte eine Art Frauenhaus-Dorf als Zuflucht vor Männergewalt und noch immer patriarchalen traditionellen Strukturen werden. Dass Frauen in Rojava eine im Zivilleben neue Anerkennung erfahren haben, bestreiten weder Frick noch ich, auch wenn es da noch viel zu tun gebe:
„Ist man bei einer Familie zu Gast, kümmern sich die Frauen ums Kochen und die Männer um die Unterhaltung. Ein Blick in jedes Teehaus in Qamischli zeigt: Es sind ausschließlich Männer, die sich ihre Zeit mit Wasserpfeife und Kartenspiel vertreiben.“ (1)
Die PYD-Dorfverantwortliche für Jinwar, Rumet Heval, erklärte Frick gegenüber in folgender, für Rojava typischer Reihenfolge: „Die kurdische Frauenbewegung ist vor allem durch die YPJ [Yekîneyên Parastina Jin; Volksverteidigungseinheiten der Frauen] berühmt geworden. Neben der militärischen hat die Revolution aber auch eine gesellschaftliche Seite“, auf der „ein neues Verständnis vom Zusammenleben der Geschlechter“ entstehen soll – ganz so, als sei die militärische Frauenemanzipation die Vorbedingung der gesellschaftlichen. Genau diese Vorbedingung soll hier hinterfragt werden.
YPG/YPJ-Niederlage VI: Pınar Seleks Kritik an den YPJ, das Sexualitätsverbot und die Rekrutierung minderjähriger Mädchen
Die gewaltfrei-libertäre, queerfeministische Aktivistin Pınar Selek, die in türkischen Gefängnissen gefoltert wurde und heute im französischen Exil lebt, charakterisiert die Situation der Frauen innerhalb der YPJ und der PYD wie folgt:
„Aus meiner Sicht ist die PYD eine sehr hierarchische und patriarchale Organisation, absolut nicht libertär und nicht feministisch. Ja, die Frauen besitzen eine bestimmte Form der Gleichheit und sie sind ziemlich sichtbar, aber in Rojava haben sie nur einen Platz, wenn sie sich an die Richtlinien der Organisation anpassen.“
Das ist historisch vergleichbar mit Frauenorganisationen innerhalb kommunistischer Parteien – und gerade keine Frauenautonomie. Aus dieser Parteisozialisation erklären sich auch Stellungnahmen zum Feminismus der YPJ wie etwa von der Ko-Vorsitzenden der PYD, Asya Abdullah, 2014 befragt vom Journalisten Thomas Schmidinger nach dem Referenzpunkt Abdullah Öcalan für ihren Feminismus: „Die Frauen hier waren nicht stark genug, um zu sagen: ‚Ich bin Feministin’. Wie der Feminismus agieren sollte, ist fast alles in seinen [Öcalans] Schriften zu finden.“ (2)
Geprägt sind die PYD und die YPJ nach Pınar Selek von der langjährigen Geschichte der ursprünglich marxistisch-leninistischen PKK, auch wenn sie heute nicht mehr deckungsgleich mit der PKK sind:
„Nach dem türkischen Militärputsch 1980 war die türkische Linke dezimiert, aber der PKK gelang es, ihren bewaffneten Kampf aufrecht zu erhalten, weil sie grenzübergreifende Beziehungen zu den Kurd*innen im Irak, in Syrien und im Iran aufgebaut hatte. Die ermöglichten es ihr, mit Waffen versorgt zu werden. Die Präsenz dieser Bewegung des bewaffneten Kampfes hat die Institutionalisierung der Repression auf Seiten des türkischen Staates legitimiert. Tatsächlich ist die PKK im Grunde eine sehr hierarchisch aufgebaute Organisation. In ihrem internen Aufbau finden sich die Typologien aller Totalitarismen – mit einer einheitlichen Ideologie und einem einzigen Führer.“ (3)
So gibt es nach Selek einige antiemanzipatorische Charakteristika, die die YPJ von der PKK-Tradition, in der es ja seit langem separate Frauenmilizen gegeben hatte, bis in die Gegenwart übernommen haben:
„Die Bewegung [in Rojava] fordert, dass die Frauen getrennt von den Männern leben, dass sie ihren eigenen Raum einhalten und sich nicht mit ihnen mischen. Klar, wir reden hier von einer Kriegssituation, aber man muss doch daran erinnern, dass innerhalb der Guerilla Sexualität verboten ist. Im Falle von sexuellen Beziehungen gibt es Strafen, die vom Ausschluss bis zum Tod reichen können.“ (4)
Nur unter militärischen Gesichtspunkten ist das Sexualitätsverbot zweckrational: Es verhindert die innere Zersetzung des Militärs und seiner Schlagkraft. Traditionell heißt das „Wehrkraftzersetzung“, deshalb auch die Todesstrafe als ultimative Sanktion. Trotzdem ist dieses militaristisch-reaktionäre Sexualitätsverbot, das in den YPJ bei Gelegenheit gern als separatistischer Feminismus verkauft wird, sich aber strukturell mit den Sexualitätsverboten in reaktionär-islamistischen Zusammenhängen vergleichen lässt, von der europäisch-linken Solidaritätsbewegung mit Rojava in all den Jahren nie als patriarchales Problem betrachtet oder gar kritisiert worden.
Auf ein weiteres antiemanzipatorisches Phänomen in den YPJ will ich hinweisen: das auffällig junge Alter vieler YPJ-Kämpferinnen, vor allem in den ersten Jahren der Rojava-Guerilla. In der europäischen und Antifa-Solidarität ging das mit einer problematischen Heldinnen-Ikonographie einher, die auch sexualisierte Fantasien transportierte: die attraktive, südländische Guerilla-Kämpferin mit dem Gewehr in der Hand. Thomas Schmidinger verwendet dagegen den Begriff „Kindersoldatinnen“ (5). Immerhin gibt das Shahida Adalat, eine YPJ-Kommandantin, befragt im Februar 2014, als Problem zu: „Früher haben wir jüngere genommen, aber heute können sie zwar schon mit siebzehn mit dem Training beginnen, werden aber erst mit achtzehn eingesetzt. Wir versuchen das jetzt konsequent durchzusetzen.“ (6) Aus meiner Sicht spricht das eher die Sprache einer Instrumentalisierung von Frauen anstatt für die YPJ als emanzipative Speerspitze des autonomen Feminismus. Hat vielleicht die Frauenorganisierung, besonders von sehr jungen Frauen, in separate Einheiten bei den YPJ einen anderen Zweck? Tragen sie etwa im Rahmen einer militärischen Strategie zur Mobilisierung des gesamten Volkskörpers bei, weil nur die Männer quantitativ zur militärischen Verteidigung nicht ausreichen? Pınar Selek abschließend zum mittlerweile jahrzehntelangen Militarismus in der Türkei und in Syrisch-Kurdistan:
„Wenn du anfängst, Waffen zu benutzen, musst du dir eine Struktur geben wie eine Armee. Die Gewalt zerstört uns. Ich kenne keine libertäre Transformation, die sich auf eine Armee stützt.“ (7)
Utopie I: Emanzipation an einem anderen Ort oder Rückkehr unter veränderten Bedingungen?
Ich will diese Artikelserie durch utopische Erwägungen abschließen, die für den Anarchismus unverzichtbar sind, aber in der Diskussion mit orthodoxen Linken schon im Ansatz durch realpolitische Abwehr verhindert werden. In Teil 2 hatte ich die Massenflucht aus Rojava als gewaltfreie Alternative dargestellt – nicht etwa als leichtfertige Aufgabe des eigenen Territoriums, sondern in einer Situation, in der gerade die militärische Selbstverteidigung versagt hat und große Teile des eigenen Territoriums verloren wurden. Wenigstens weitere Todesopfer konnten so verhindert und Menschenleben gerettet werden.
Bestimmte Regionen im Mittleren Osten, im Sahel und anderen Regionen des Trikont werden immer unlebbarer, ob durch die permanenten Kriege oder durch den Klimawandel: In sich ausbreitenden Wüsten und durch Krieg zerstörten Gebieten kann keine freie Gesellschaft aufgebaut werden. Formen der Massenflucht nach Europa werden also perspektivisch weitergehen – und wir können nur in antirassistischen Kämpfen und in der Solidarität mit „Seebrücke“-Schiffen dazu beitragen, dass die Flüchtenden nicht durch Milizen vor Ort oder durch die Grenzen nach Europa aufgehalten werden, sondern dass sich der Herbst 2015 noch möglichst viele Male wiederholt. Dafür müssen wir über Utopien der Flucht nachdenken.
Der libertäre Ethologe und Philosoph Henri Laborit (1914-1995) schrieb in seiner „Éloge de la fuite“ (Lob der Flucht):
„Diese Modelle sind nicht genauso verwirklichbar, wie sie sich der Mensch vorgestellt hat – das bemerkt er sofort, wenn er versucht, sie zu verwirklichen. Der Irrtum besteht darin, sich hartnäckig die Verwirklichung des Unverwirklichbaren in den Kopf zu setzen und sich zu weigern, neue Elemente in die Gleichung einzusetzen, die die Theorie nicht vorhersah. Nicht die Utopie ist aber deshalb gefährlich, sie ist für die Evolution unverzichtbar. Es ist der Dogmatismus, den einige benutzen, um ihre Macht, ihre Vorrechte und ihre Herrschaft aufrechtzuerhalten.“ (8)
Es gibt bereits eine große Exil- oder Diasporagemeinde von Rojava-Kurd*innen in Europa, die den neu Geflüchteten helfen und sie integrieren. Kann aus der quantitativen Stärkung dieser Diaspora vielleicht eine neue politische Utopie hervorgehen, eine Art kurdische Selbstverwaltung am anderen Ort?
Das große historische Beispiel aus dem Ende des 19. Jh. ist die örtliche Verlagerung der jüdischen kommunitären Utopie von der pogromartigen Verfolgung der jüdischen Gemeinschaften in Osteuropa, vor allem im Zarismus, bis hin zur teilweisen Verwirklichung dieser Utopie in den Kibbuzim Anfang des 20. Jahrhunderts. Ja, dabei hat es ab den 1930er-Jahren neue Probleme (Laborit!) und auch Gewalt gegen Palästinenser*innen gegeben, doch in der quantitativ großen Kibbuzbewegung war der gewaltfreie Anarchismus die ersten vier Jahrzehnte prägend. Eine breite, von Kropotkin, Landauer und Martin Bubers Dialogkonzept geprägte Strömung für Binationalität innerhalb der Kibbuzim machte praktische Vorschläge für die Zusammenarbeit mit arabischen Dörfern, „von gemeinsamer Vermarktung von Orangen, gemeinsamen Anstrengungen im Kampf gegen Malaria, bis hin zu gemeinsamen Gewerkschaften.“ (9) Sie kritisierten noch Ende der Dreißigerjahre gewaltsame jüdische Racheakte, nachdem Palästinenser*innen beim Aufstand von 1936 einige Kibbuzim angegriffen hatten. (10) Viele libertär geprägte Kibbuzim sprachen sich noch nach dem Zweiten Weltkrieg gegen die einseitige Staatsgründung aus. (11) Es gab weitere historische Beispiele, etwa die maßgeblich durch Tolstoi unterstützte Flucht, Umsiedlung und Neuansiedlung der ebenfalls vom Zarismus und von der Kirche verfolgten „Duchoborzen“ aus Russland nach Kanada, wo sie ihre kommunitäre Selbstverwaltung neu leben konnten. (12)
Dies soll nur zeigen, dass die Verwirklichung einer Utopie an einem anderen als dem Herkunftsort nicht historisch präzedenzlos ist. Eine Variante dieser Utopie ist das „Überwintern“ der geflüchteten Bevölkerung in der Diaspora bis zur Möglichkeit erneuter Rückkehr ins ursprüngliche Herkunftsgebiet, in dem immer auch ein Teil der Bevölkerung – wenn auch unter schlimmsten Bedingungen – geblieben ist. Die Rückkehr hat es historisch nach einer langen Phase der Erschöpfung des Krieges und einer dadurch entstehenden Veränderung der Bedingungen für ganz neue inländische, nicht mehr bewaffnete Revolten gegeben. Auch dafür gibt es historische Beispiele, die heute bekannt sind, aber ursprünglich nie für möglich gehalten wurden: Niemand hätte zum Beispiel gedacht, dass sich nach dem absoluten militärischen Sieg Francos, der Massenflucht [Retirada] 1939 und einer vergeblichen Guerillaphase in den Vierziger- und Fünfzigerjahren von Frankreich aus mitten in Spanien in den Sechzigerjahren die „Comisiones Obreras“ [Arbeiterkommissionen] bilden konnten. Sie organisierten im Innern des Faschismus Streiks und leiteten so den Wandel hin zur Transición ein, die wenigstens die Möglichkeit für eine erneute anarchistische Bewegung in Spanien und die Rückkehr der Exilierten schuf. (13) Die Frauen um Leymah Roberta Gbowee (geb. 1972) trugen 2003 mit ihrem Aufruf zum Sexstreik zur Erschöpfung des langen Bürgerkriegs in Liberia (1989-2003) bei; 2011 erhielt sie dafür den Friedensnobelpreis. Auch die beeindruckende Gewaltfreiheit des „Hirak“ in Algerien 2019 ist Folge einer generellen Erschöpfung nach dem fürchterlichen Bürgerkrieg der Neunzigerjahre. Überall kamen dabei langjährig Exilierte zurück. Und in Mexiko forderte die zivilgesellschaftliche Bewegung nach dem einwöchigen Krieg der EZLN gegen die Regierung 1995 sofort ein, nicht den mexikanischen Bürgerkrieg von 1910 bis 1917 zu wiederholen, und verhinderte so eine Massenflucht. Wäre dereinst und unter veränderten, nicht mehr kriegerischen Bedingungen auch in Syrisch-Kurdistan eine massenhafte Rückkehr bei gleichzeitig anderen Formen der Revolte möglich?
Utopie II: „Selbstverwaltung“ statt „kurdischer Selbstverwaltung“. Vom historischen Ende nationaler Befreiung und national befreiter Gebiete
Die bisherige Utopie der Rojava-Kurd*innen war eine alte: „nationale Befreiung“ – verknüpft mit etwas Neuem, Libertärem: ohne eigenen Nationalstaat. Die PYD wollte regionale, autonome Selbstverwaltung innerhalb Syriens, doch, so etwa der PYD-Vorsitzende Salih Muslim 2013 in doppelter Abgrenzung, dies wolle weder der syrische Staat noch die syrische Opposition anerkennen: „Die Mehrheit beider beschuldigt uns immer noch, Separatisten zu sein, und will diese Selbstverwaltung nicht anerkennen. Wir müssen sie deshalb gegenüber beiden Seiten erkämpfen“ (14) – mit Waffen natürlich. Dadurch schlitterte der bewaffnete Kampf um Autonomie in die traditionelle militärische Konzeption „befreiter Gebiete“ mit Fronten, die doch Grenzen eines Nationalstaats gleichen. Der Soliruf „Waffen für Rojava!“ war deshalb traditionellen Aufrufen der Linken ähnlich: „Waffen für die FLN!“ für den algerischen Nationalstaat, „Waffen für den Vietkong“ für den vietnamesischen Nationalstaat, „Waffen für Nicaragua!“ für den nicaraguanischen Nationalstaat des Ortega-Clans – aus emanzipativer Sicht ist das heute alles gescheitert. Eine anarchistische Utopie müsste damit brechen: Könnte aus dem Ziel der „kurdischen Selbstverwaltung“ in den kurdischen Exil- und Diasporagemeinden nicht einfach nur das Ziel „Selbstverwaltung“ hervorgehen?
Ich war 2012 zusammen mit 3.000 weiteren Anarchist*innen auf dem Internationalen Anarchistischen Treffen in St.-Imier/Schweiz. Dort war auch eine große Abordnung von Rojava-Kurd*innen präsent, die sich nach der Bookchin-Rezeption Öcalans eher der anarchistischen Bewegung zuwandten. Doch die Begegnung war seltsam kommunikationslos. Während die internationale anarchistische Bewegung bis heute den „Nationalismus“ ablehnt – prägend bleibt etwa die libertäre Nationalismuskritik Rudolf Rockers –, prangten dort Rojava-Transparente: „Für nationale Befreiung!“ Eine Diskussion über diesen Widerspruch fand nicht statt. In der BRD darf bei kurdischen Demos aufgrund des Verbots nicht Öcalans Konterfei als Fahne mitgeführt werden. In Frankreich gibt es kein solches Verbot: Ich habe zig Rojava-kurdische Demos erlebt, bei denen ca. 500 Beteiligte aber auch 500 einzelne Fahnen mit Öcalans Konterfei mitführten. Das erzeugte die Außendarstellung einer totalitären Bewegung.
Die nationale Einheit für „nationale Befreiung“ gibt es – wie jede/r weiß – weder unter den Kurd*innen im Irak noch in der Türkei, in Syrien oder im Iran; sie gibt es auch nicht in Rojava selbst, an dortigen Wahlen zu den Selbstverwaltungsorganen nahmen einige andere Organisationen außerhalb der PYD teil, wieder andere weigerten sich aus Protest. Ein Rojava-Kurde im norwegischen Exil formulierte es Ende 2013 so: „Der innerkurdische Konflikt schadet uns sehr. Wir haben als Kurden leider die Eigenschaft, dass wir bereit sind, uns für andere zu opfern, aber uns untereinander ständig streiten.“ (15) Das ist aber ganz normal für jede/r Anarchist*in, die/der nationale Einheit und nationale Befreiung für einen autoritären Mythos, eine reine Behauptung hält.
Eine neue Utopie für die Exil- und Diaspora-Gemeinden (nicht nur) Syrisch-Kurdistans wäre also der Ausbruch aus identitären Konzepten, einfach nur „Selbstverwaltung“ statt „kurdische Selbstverwaltung“ – ein Vermischen und Aufgehen der Kurd*innen im Exil in die weltweite anarchistische Kommune- und Selbstverwaltungsbewegung. Vielleicht könnte sie dereinst zu einer emanzipativen Welle beitragen, die nicht mehr auf „befreite Gebiete“ mit Kriegen, Bürgerkriegen, Milizen, Grenzen und Fronten angewiesen ist. So war etwa die Student*innenbewegung 1968 eine weltweite emanzipative Welle, die Ökobewegungen anfangs der Siebzigerjahre waren eine weltweite Welle, der Sturz der Diktaturen 1989 von Osteuropa über Marcos/Philippinen, Südafrika, Südamerika eine solche Welle, die Arabischen Aufstände von 2011 eine großräumige emanzipative Welle und hoffentlich wird auch die universale Klimabewegung zu einer emanzipativen Welle. Könnte dereinst auch der libertäre Gedanke der Selbstverwaltung eine solche weltweite oder großräumige Welle der Emanzipation auslösen? Voraussetzung wäre die Überwindung nationaler Identitäten und militärisch umgrenzter „befreiter Gebiete“ und nicht deren Verfestigung.
Lou Marin
Anmerkungen:
(1) Alle Zitate nach Manuel Frick: Eine halbe Revolution in Nordsyrien, Januar 2019, siehe: https://www.rosalux.de/publikation/id/39688/eine-halbe-revolution-in-nordsyrien%20
(2) Interview mit Asya Abdullah, PYD, 21. Februar 2014, in: Thomas Schmidinger: „Krieg und Revolution in Syrisch-Kurdistan. Analysen und Stimmen aus Rojava“, Mandelbaum Verlag, Wien 2015, S. 230.
(3) Interview mit Pınar Selek: Selbstverwaltung in Nordsyrien, in: Graswurzelrevolution, Nr. 430, Sommer 2018, siehe: https://www.graswurzel.net/gwr/2018/06/selbstverwaltung-in-nordsyrien/
(4) Interview mit Pınar Selek, ebenda, a.a.O.
(5) Thomas Schmidinger im Gespräch mit Shahida Adalat, YPJ, 21. Februar 2014, in ders.: „Krieg und Revolution in Syrisch-Kurdistan“, a.a.O., S. 221.
(6) Shahida Adalat im Gespräch mit Thomas Schmidinger, in ders.: „Krieg und Revolution in Syrisch-Kurdistan“, ebenda.
(7) Interview mit Pınar Selek: „Selbstverwaltung in Nordsyrien“, siehe Anm. 3, a.a.O.
(8) Henri Laborit: „Éloge de la fuite“, Éditions Laffont, Paris 1976, S. 165; das Buch ist leider noch nicht ins Deutsche übersetzt.
(9) Tom Segev: „Es war einmal ein Palästina. Juden und Araber vor der Staatsgründung Israels“, München 1999, S. 447.
(10) Ebenda, S. 419.
(11) James Horrox: „A Living Revolution. Anarchism in the Kibbutz Movement“, AK Press, Edinburgh/Oakland/Baltimore 2009; dt. Übersetzung ist im Buchverlag Graswurzelrevolution für 2021 geplant.
(12) Karl Bartes: „Die Duchoborzen in Rußland und Canada“ (1931), in: Tolstoi, Wichmann, Reclus, Schwantje u.a.: „Das Schlachten beenden!“, Verlag Graswurzelrevolution, Heidelberg 2010, S. 67-75.
(13) Vgl. Alexandre Froidevaux: „Gegengeschichten oder Versöhnung? Erinnerungskulturen und Geschichte der spanischen Arbeiterbewegung vom Bürgerkrieg bis zur ‚Transición’“, Verlag Graswurzelrevolution, Heidelberg 2015.
(14) Interview mit Salih Muslim, PYD, 30. Dezember 2013, in: Thomas Schmidinger: „Krieg und Revolution in Syrisch-Kurdistan“, a.a.O., S. 186.
(15) Interview mit Mufid al-Khaznawi, Norwegen, 21. November 2013, in: Thomas Schmidinger, ebenda, S. 183.