Es ist bis heute einer der wichtigsten Slogans der zapatistischen Bewegung: „Alles für alle!“ Damit machten die kämpfenden, indigenen Bäuerinnen und Bauern im Süden Mexikos klar: Es geht uns nicht allein um die Anerkennung unserer kulturellen Gepflogenheiten, es geht nicht allein um einen Kampf gegen Rassismus. Es geht ums Ganze, um die Abschaffung sozialer Ungleichheit. Der aktuelle Oxfam-Bericht zur globalen sozialen Ungleichheit macht einmal mehr deutlich, dass hier dringend Handlungsbedarf besteht: Das reichste Prozent der Weltbevölkerung besitzt 45 Prozent des weltweiten Reichtums, Frauen arbeiten mehr und verdienen viel weniger als Männer usw. usf. (1)
Suchte man nach Vorläufern der zapatistischen Ansichten und Ansprüche, sie ließen sich im Anarchokommunismus finden. „Alles soll allen gehören!“ (2) schrieb Peter Kropotkin 1919 in seiner optimistischen Kampfschrift „Die Eroberung des Brotes“. Und Kropotkin war klar, dass die Umsetzung dieser Forderung auf die Umverteilung gesellschaftlichen Reichtums hinauslaufen muss. Es gelte, so Kropotkin, laut zu proklamieren, „daß die Gesellschaft unter Alle ohne Ausnahme die Existenzmittel, über welche sie verfügt, zu verteilen hat“ (3). Was Kropotkin allerdings auch klar zu sein schien war, dass die gesellschaftliche Entwicklung, der Fortschritt, letztlich unablässig auf einen Zustand zulaufen würde, der diese Umverteilung bewerkstelligen werde. Der Ansturm des sich bewusst werdenden Volkes auf das Privateigentum, so Kropotkins hoffnungsfrohe Ansicht, werde dazu führen, dass sich Gesellschaften – in unterschiedlichen Formen zwar – anarcho-kommunistisch organisieren. Das schien ihm der logische Effekt eines Strebens nach Gleichheit. Mit dieser Prämisse allerdings, so schön der Optimismus auch heute noch zu lesen ist, tat er dem Anarchokommunismus keinen Gefallen. Denn damit erübrigte sich im Grunde jede Frage nach einer Strategie, mit der die Umverteilung angegangen und umgesetzt werden könnte.
Das anarchosyndikalistische Dilemma: Gestern…
Anliegen jeder sozialrevolutionären Politik muss es sein, gesellschaftlichen Reichtum an Ressourcen zu verteilen. Das bedeutet, ihn umzuverteilen, denn er ist ja bereits verteilt und
wird in jedem Augenblick weiter verteilt, wobei (unter kapitalistischen Bedingungen) diejenigen, die bereits viel haben, immer besser wegkommen als jene, die nichts haben. Bestehende Ungleichheiten müssen abgeschafft werden. Dazu aber müssen bestehende Abläufe und Routinen, und zwar nicht nur ökonomischer Art, unterbrochen und verändert werden. Hier entsteht der Knackpunkt jedes heutigen Anarchokommunismus: Umverteilung geht nicht ohne Regulierung! Denn diejenigen, die von der bestehenden Verteilung profitieren, haben selbstverständlich etwas dagegen, dass ihnen weniger zukommen soll als bisher. Und mit den Profiteur*innen sind bei Weitem nicht nur die Superreichen und Konzernchefs gemeint. Auf nahezu allen Ebenen des Sozialen wägen Menschen ihre Vorteile gegenüber Nachteilen ab, profitieren von der Ausbeutung und Diskriminierung anderer. Das ist der Grund dafür, dass heute nicht den Hauch einer Chance auf gesellschaftliche Mehrheiten hat, wer mit einem sozialrevolutionären Programm radikaler Umverteilung in die Öffentlichkeit tritt. Eine Tatsache, die von der Linken, auch der libertären Linken, gerne ausgeblendet wird. Denn so entsteht das anarchokommunistische Dilemma: Die Umverteilung müsste mindestens gegen die Eliten, im ungünstigeren Fall der westlichen Gegenwartsgesellschaften aber wohl gegen die Mehrheit der Bevölkerung durchgesetzt werden. Das müsste schließlich mit relativ brachialen Regulierungsmaßnahmen geschehen, und das selbstverständlich widerspricht dem programmatischen Anspruch auf freie Entfaltung und freie Assoziation.
Bei Kropotkin aber gab es keinen Zweifel, dass der Kommunismus früher oder später „zum Fundament des gesamten sozialen Lebens wird“, und zwar der anarchistische Kommunismus, also der „Kommunismus ohne Regierung“ (4). Die staatliche Organisation des Sozialen wie auch der Ökonomie schien ihm überflüssig: „Die freie Vereinbarung, die freie Organisation ersetzen diesen teuren und schädlichen Apparat [von Staat und Regierung, O.L.] und leistet Besseres“ (5). An der Überzeugung, dass eine generalisierte Selbstverwaltung Besseres zustande bringt als der moderne Nationalstaat, ist sicherlich auch unter postanarchistischen Vorzeichen festzuhalten. Zu verwerfen aber ist das Vertrauen in die sich selbst bewusst werdende und dann rebellierende Bevölkerung. Denn dieser Glaube hat die Beantwortung der Frage verhindert, wie eine solche Gesellschaft nicht nur auf den Weg gebracht, sondern auch gegen die immensen Widerstände aus allen sozialen Milieus durchgesetzt werden soll. Kropotkin ist in dieser Sache leider bis heute maßgebend. (Wobei ihm selbst natürlich zu Gute gehalten werden muss, dass er die Entwicklung des Fordismus mit seiner Massenproduktion, die Beteiligung der Arbeiter*innenklasse am Konsum und am politisch-repräsentativen Organisationengefüge ebenso wenig voraussehen konnte wie insgesamt Aufstieg und Fall des Wohlfahrtsstaates!)
…und heute
Heute argumentieren Anarchist*innen aber noch ähnlich. Über die Mittel zur Durchsetzung der anarchokommunistischen Gesellschaft wird geschwiegen, als hätte die Integration der Arbeiter*innenklasse in der Geschichte des 20. Jahrhunderts nicht stattgefunden. Dabei liegt etwa der anarchistische Ökonom Gerhard Senft zunächst gar nicht falsch, wenn er schreibt: „Kein System jemals zuvor in der Geschichte hat in herrschaftstechnischer Hinsicht derart gründlich und zuverlässig funktioniert wie das moderne Akkumulationsregime“ (6). Die Ökonomie durchdringt alles. Mehr denn je, wäre zu ergänzen, in den letzten vierzig Jahren, die durch die Hegemonie des Neoliberalismus geprägt sind. Umso wichtiger, sich aus herrschaftskritischer Sicht damit auseinanderzusetzen, also nicht nur den Staat, sondern auch die Ökonomie zu analysieren und zu attackieren. Senft schreibt im gleichen Text, ebenfalls sehr richtig, anarchistische Theorie und Praxis habe immer darauf beharrt, „sämtliche autoritäre Tendenzen aus den politischen und wirtschaftlichen Organisationsformen zu verdammen“ (7). Dann aber kommt gleich im nächsten Satz die Behauptung, die das anarchokommunistische Dilemma gerade umgeht: „Der libertäre Sozialismus bedarf keiner etatistischen und technokratischen Autoritäten“ (8). Tja, das ist als Lehre sicherlich korrekt wiedergegeben und ehrenwert, nur fragt sich eben: Wie soll er dann durchgesetzt werden, der libertäre Sozialismus?
Braucht es wirklich keinerlei Autoritäten, um Umweltstandards, Arbeitsrechte, Antidiskriminierungsmaßnahmen etc. umzusetzen? Um bei der Ablehnung „etatistischer und technokratischer“ Autoritäten zu bleiben, müssten wir angesichts der perversen globalen sozialen Ungleichheit aber sehr schnell und sehr gründlich Konzepte anderer Autoritäten entwickeln, um die Privatisierungs- und Deregulierungspolitiken der Megakonzerne und ihrer Helfershelfer*innen in die Schranken zu weisen und dann zu zerschlagen. An solchen Konzepten aber mangelt es auf schmerzliche Weise. Bei Senft ist dann etwas weiter im Text zwar noch von der Notwendigkeit der Kollektivierung von Grund und Boden die Rede. Aber auch da wird die Frage gar nicht erst aufgeworfen, wer sie auf welche Art und Weise umsetzen könnte. Diese Frage drängt sich aber wohl auf, denn, wie gesagt, die zu Enteignenden werden der Kollektivierung kaum ohne Weiteres zustimmen.
Nur, um da nicht missverstanden zu werden: Das hier ist kein Plädoyer für eine Besinnung auf Sozialdemokratie und Staatsräson. Es geht darum, sich über die Etablierung einer wirkmächtigen, generalisierten Selbstverwaltung Gedanken zu machen, die den neoliberalen Angriffen auf die Errungenschaften der Arbeiter*innen- und anderer sozialer Bewegungen etwas entgegenzusetzen hat.
Das „Alles für alle!“ der Zapatistas hat seine praktische Umsetzung in der Aneignung von Land und dem Aufbau basisdemokratischer kollektiver Selbstverwaltung gefunden. Ein Modell allerdings, das auf der relativen Homogenität der Lebensverhältnisse im ruralen mexikanischen Süden fußt. Und leider kaum auf die diversifizierten, urbanen Landschaften westlicher Gegenwartsgesellschaften zu übertragen ist.
Oskar Lubin
Anmerkungen:
(1) Vgl. https://www.oxfam.de/unsere-arbeit/themen/soziale-ungleichheit
(2) Peter Kropotkin: Die Eroberung des Brotes. Wohlstand für alle. Berlin: Verlag Der Syndikalist 1919, S. 19.
(3) Ebd., S. 16.
(4) Ebd., S. 23.
(5) Ebd., S. 104.
(6) Gerhard Senft: „Ökonomie, Herrschaft und Anarchie.“ In: Ilja Trojanow (Hg.): Anarchistische Welten. Hamburg: Edition Nautilus 2012, S. 159-173, hier S. 159.
(7) Ebd., S. 163.
(8) Ebd.