Am 15. März 2019 war der australische Neonazi Brenton Tarrant während des Freitagsgebets in zwei Moscheen in Christchurch eingedrungen und hatte 51 Menschen ermordet und über 40 weitere verletzt. Seine Tat hatte er gefilmt und live auf Facebook übertragen. Ein „Manifest“ über den angeblichen „großen Bevölkerungsaustausch“ hatte er vorher ins Internet gestellt.
Tarrant wurde kurz nach dem Angriff auf die zweite Moschee von der Polizei überwältigt und sitzt seitdem in Untersuchungshaft. Die Hauptverhandlung war für Mai 2020 angesetzt, aber Anfang März bekannte Tarrant sich überraschend in allen Anklagepunkten (51 Morde, 42 Mordversuche, sowie ein terroristischer Anschlag) schuldig. Am 27. August 2020 wurde das Urteil verkündet. Richter Cameron Mander verurteilte den 29-jährigen Neonazi zu einer lebenslangen Haftstrafe ohne Möglichkeit auf vorzeitige Entlassung.
Nicht Neuseeland?
Als die neuseeländische Premierministerin Jacinda Ardern die Angehörigen der Opfer tröstete, zu Solidarität aufrief, und erklärte „they are us“ („sie sind wir“) wurde diese eigentlich selbstverständliche Reaktion international als Vorbild gefeiert – was mehr über den weltweiten Zustand der Politiker*innenklasse aussagt, als über Ardern.
Ardern sagte auch: „dies ist nicht Neuseeland“, und der Spruch wurde endlos und gerne wiederholt von Zehntausenden, die nach dem Attentat auf Trauerveranstaltungen ihre Anteilnahme und Solidarität bezeugten. Was als Ablehnung rechten Gedankenguts gemeint ist, ist aber auch Wunschdenken. So eine schreckliche Tat kann nicht zu einem Land passen, das sich als weltoffen und tolerant sehen möchte.
Natürlich gibt es in Neuseeland strukturellen und alltäglichen Rassismus. Das Land ist eine ehemalige Kolonie und Kolonialismus ist die in die Praxis umgesetzte Ideologie der „weißen Überlegenheit“. Trotzdem fiel die vornehmlich weiße Mittelklasse aus allen Wolken, dass es in „ihrem“ friedlichen und multi-kulturellen Land Rechtsradikale gibt.
Die Medien schienen das Wort Rassismus zum ersten Mal zu hören und veröffentlichten nun täglich Berichte von Menschen, für die rassistische Anfeindungen bis hin zu tätlichen Angriffen zum Alltag gehören – als ob sie davor noch nie etwas davon gehört hätten.
Dabei reicht schon ein Blick auf die offiziellen Statistiken. Māori, die einen Bevölkerungsanteil von 15% haben, stellen mehr als die Hälfte der Knastinsass*innen. Māori-Frauen sind die am häufigsten eingesperrten indigenen Frauen weltweit. Für Menschen mit brauner Hautfarbe ist das Risiko, von der Polizei festgenommen zu werden viermal so groß wie für Menschen mit weißer Hautfarbe, vor Gericht landen fünfmal so viele und achtmal so viele gehen in den Knast.
Der Anschlag führte tatsächlich zu einer Sensibilisierung in der Gesellschaft. Debatten über Alltagsrassismus wurden geführt, eine Ladenkette nahm die Bücher des kanadischen Alt-Right Predigers Jordan Peterson, der erst einen Monat vorher vor ausverkauften Sälen gesprochen hatte, aus dem Sortiment. Es wurden sogar Stimmen laut, die Rugby-Mannschaft von Christchurch, die Crusaders (Kreuzritter), umzubenennen, was in einem Land, in dem Rugby heilig ist, schon etwas heißen will.
Auch Politiker*innen, die sich in der Vergangenheit gerne mal rechts geäußert hatten, verstummten kurzfristig. Die konservative National Party nahm flugs eine Petition gegen den UN-Migrationspakt vom Netz mit der Erklärung, sie sei zufällig routinemäßig archiviert worden.
Winston Peters, Chef der populistischen Partei NZ First, derzeitiger Vize-Premier und Außenminister der Koalitionsregierung, hatte 2005 behauptet, dass Flüchtlinge aus moslemischen Ländern in Wirklichkeit die Vorhut von islamistischen Terroristen seien. Jetzt trapste er brav hinter Ardern her, als sie die Überlebenden besuchte und sagte gar nichts.
Die neuseeländische Rechte
Der Attentäter war nicht allein mit seiner Meinung. Es stellte sich heraus, dass Tarrant Mitglied eines Waffenvereins war, in dem seine Weltanschauung geteilt wurde. Ein ehemaliger Soldat, der in dem Verein zu Besuch war, war so alarmiert über das, was er dort zu hören bekam, dass er Anzeige erstattete. Die Reaktion der Polizei: die kennen wir, das sind harmlose Spinner. Unternommen wurde nichts, die Anzeige wurde nicht einmal aufgenommen.
Auch eine organisierte Faschoszene gab es schon immer. In den 60ern organisierten sich Neonazis in der National Socialist Party of NZ, seit den 70ern bedient die National Front (NF) das Nazi-Skinhead-Milieu. Die Tatsache, dass die NF nur geringe Mobilisationskraft hat, bedeutet nicht, dass sie ungefährlich ist. In den frühen 2000ern gab es verschiedene Angriffe auf somalische Familien, und immer wieder werden Moscheen und jüdische Friedhöfe beschädigt.
1994 gründeten mehrere Knast-Insassen in Christchurch die Gruppe Fourth Reich, die vier Morde mit rassistischem oder homophobem Hintergrund verübt hat.
In den letzten Jahren hat sich auch die identitäre Bewegung eine Basis verschafft. Erst gab es die kurzlebige European Students Association, die angeblich nur europäisches Kulturgut erhalten wollte, aber dann doch ihre wahre Ideologie mit dem Motto „strength through honour“ („Kraft durch Ehre“) auf ihre Facebook-Seite offenbarte.
Etwas schlauer machte es das Dominion Movement, das sich an die rechten Intellektuellen in der Hipster-Szene wendete und streng darauf bedacht war, nicht mit Nazi-Ideologie in Verbindung gebracht zu werden. Noch am Tag des Anschlags von Christchurch gab die Gruppe ihre Auflösung bekannt und nahm ihre Website vom Netz, nicht ohne sich vorher noch als Opfer einer Hetzkampagne darzustellen. Auch die National Front ging offline.
Set dem Anschlag hat sich eine neue Gruppe junger Männer gebildet (Frauen, Menschen mit Behinderungen und „Degenerierte“ sind nicht zugelassen), die sich Action Zealandia nennt und bevorzugt Bilder von Plakataktionen und Fitness-Ausflügen in die Natur veröffentlicht. Außerdem versuchen sie, in langen Artikeln herzuleiten, warum europäische Einwanderer und nicht Māori die „Identität“ Neuseelands bilden. Die Gruppe behauptet, in allen größeren Städten präsent zu sein, aber wieviel Zulauf sie tatsächlich hat, ist unklar.
Obwohl keine der Gruppen in der Gesellschaft breit verankert ist, bereiten sie doch den Nährboden für den rassistischen Diskurs. Außerdem schließt sich da wieder der Kreis zu Brenton Tarrant. Dieser hatte nämlich vor dem Attentat Martin Sellner von den österreichischen Identitären 1500 Euro überwiesen, wofür der sich herzlich bedankte und ihn zum Bier einlud. Später war das Sellner peinlich, er distanzierte sich und überwies – in einem PR-Manöver – die Hälfte des Geldes an den Verein zur Unterstützung der Opfer von Christchurch, wohlwissend, dass der Verein das Geld unmöglich annehmen konnte. Das ermöglichte ihm, sich selbst als Opfer Tarrants darzustellen, da er ja nun mit diesem Blutgeld dasitze und es nicht los werden könne. Zähneknirschend hätte er es dann an eine Organisation überwiesen, die nicht mit „linken Terroristen“ verbunden sei. Die Geschichte kauften ihm auch gleich mehrere TV- und Radiosender in Neuseeland ab, die Interviews mit ihm machten, ohne zu merken, wie sie ihm auf den Leim gegangen waren. Die Unerfahrenheit der Journalist*innen mit diesem Thema war offensichtlich.
Der Staat
Wie andere Staaten auch, ist der neuseeländische Staat auf dem rechten Auge blind. In den letzten zehn Jahresberichten des Inlandsgeheimdienstes SIS wurde Rechtsextremismus mit keinem Wort erwähnt. Dafür war jede Menge von der Gefahr durch den Islam die Rede. Im Gegensatz zum Attentäter waren einige der Opfer auf der Observationsliste.
Um aufzuklären, wieso weder die australischen noch die neuseeländischen Behörden den Täter auf dem Schirm hatten und wieso er einen Waffenschein und etliche halbautomatische Waffen legal erwerben konnte, wurde eine Untersuchungskommission eingerichtet, die (nach mehreren Verzögerungen) im November 2020 berichten soll. Kurz nach Beginn der Anhörungen gab es auch schon Kritik, sowohl an der mangelnden Transparenz des Verfahrens, als auch am Ungleichgewicht der Stimmen, die gehört wurden. So beschwerte sich der Islamische Frauenrat IWC, dass Regierungsstellen durch hochbezahlte Anwält*innen vertreten werden, während sie selbst Schwierigkeiten hätten, die eigenen Reisekosten aufzubringen.
Als es im Juli 2020 eine weitere Verzögerung gab, beschloss der IWC seine Eingabe an die Kommission öffentlich zu machen. Das Vertrauen in die Kommission war dahin. Das Dokument ist bemerkenswert. Auf fast 100 Seiten wird detailliert dargelegt, wer wann in den letzten Jahren mit welchen Behördenvertreter*innen über die zunehmende Bedrohung durch Rechtsradikale gesprochen hat.
Erst wenige Tage vor dem Attentat hatte der Frauenrat eine Drohung erhalten, dass am 15. März 2019, dem Tag des Anschlags, eine öffentliche Koran-Verbrennung vor einer anderen Moschee stattfinden würde. Trotzdem gab es keine erhöhte Alarmbereitschaft. Außerdem stellt sich die Frage, ob Tarrant alleine gehandelt hat, oder ob es nicht doch Mittäter gab. Da es keine Gerichtsverhandlung geben wird, wird das wohl nie ermittelt werden.
Viel ist von der Untersuchungskommission nicht zu erwarten. Die Überwachungsbehörden werden kritisiert werden und dann zur Belohnung mehr Geld und Befugnisse erhalten. Bessere Zusammenarbeit, mehr Datenaustausch, eventuell sogar eine Zusammenlegung des Inlands- mit dem Auslandsgeheimdienst werden dabei herauskommen. Für den Staat kann die Konsequenz aus staatlichem Versagen offenbar immer nur noch mehr Staat sein.
Der Prozess
Über das Platzen der Verhandlung sind die Opferfamilien gespaltener Meinung. Einige sind froh darüber, dass ihnen die Tortur erspart wird, sich über Wochen anhören zu müssen, wie Tarrant seine Tat rechtfertigt. Andere bedauern, dass er sich jetzt nicht der Anklage stellen und den Überlebenden ins Gesicht sehen muss.
Es wird davon ausgegangen, dass der Richter von der bisher noch nie angewendeten Option Gebrauch machen wird, eine lebenslange Haftstrafe ohne Möglichkeit der Bewährung auszusprechen, so dass Tarrant vermutlich den Rest seines Lebens im Knast verbringen wird.
Aber die Crusaders haben beschlossen, ihren Namen doch zu behalten. Es sei zu viel in den Markennamen investiert worden und überhaupt würden die Leute den Namen – trotz der Symbolik – gar nicht mit den mittelalterlichen Kreuzzügen in Verbindung bringen. Man soll das mit dem Antirassismus ja auch nicht übertreiben.
Dies ist ein Beitrag aus der aktuellen Druckausgabe der GWR. Schnupperabos zum Kennenlernen gibt es hier.