Eine Halbjahreszeitschrift kann nur den Ereignissen hinterherlaufen? – Dass dies nicht so sein muss, zeigt „Jalta. Positionen zur jüdischen Gegenwart“.
Als sich im August 2018 die Gruppe „Juden in der AfD“ (JAfD) gründete, reagierte die Redaktion der im Jahr zuvor gegründeten Zeitschrift schnell mit einem Positionspapier, in dem auf die Gefährlichkeit der AfD insbesondere für Minderheiten und die demokratische Kultur hingewiesen wurde.
Daraufhin meldeten sich hunderte von UnterstützerInnen, der Aufruf wurde gespiegelt, die Tageszeitungen New York Times und Haarez (Israel) berichteten ausführlich. Der Zentralrat der Jüdinnen und Juden zog mit einer Stellungnahme nach. Es folgten eine Kundgebung gegen die JAfD mit dem Motto „Diese Alternative ist nicht koscher!“ sowie eine Podiumsdiskussion. Der hauptsächlich aus jüngeren Erwachsenen bestehenden Redaktionsgruppe ist es schon nach drei Ausgaben gelungen, ein deutliches Zeichen zu setzen.
In den letzten Jahrzehnten hat sich die Zusammensetzung der Bevölkerung in der BRD ebenso wie der auf 200.000 Menschen angewachsenen jüdischen Gemeinschaft durch Migration stark verändert. Die Redaktion stellt in ihrer zweiten Ausgabe dazu fest, dass die bisherige Vorstellung von „Deutschsein“ überholt sei und den Ausschluss von Minderheiten bedeuten würde.
Desintegriert Euch!
In ihrem Kampf gegen Antisemitismus und Rassismus setzen die AutorInnen nicht darauf, durch Anpassung mehr Akzeptanz und Anerkennung bei der „christlich-biodeutschen“ Mehrheitsgesellschaft zu erlangen. Vielmehr kommen in Jalta auch Muslime oder beispielweise eine Sinteza und eine Vietnamesin mit ihren eigenen, manchmal überraschenden Beobachtungen, Erfahrungen und Deutungen zu Wort. Mit dem vielbeachteten Buch „Desintegriert Euch!“ brachte der Mitherausgeber Max Czollek 2018 diese Haltung auf den Punkt. Auf die ihnen im öffentlichen Diskurs oftmals zugedachte Rolle als „Opfergruppe“ will die selbstbewusste neue Generation jüngerer Jüdinnen und Juden nicht reduziert werden.
In den sieben bisher erschienen Ausgaben wird von den AutorInnen deutlich gemacht, dass das bisherige Gedenken an den Holocaust beim „Erinnerungsweltmeister“ Deutschland nur deswegen so stark ausgeprägt ist, weil zuvor zahllose kleine Initiativen und Einzelpersonen durch Bühnenbesetzungen (Fassbinder), Hungerstreiks und vielerlei Aktionen Druck gemacht haben. Dem heute oft praktizierten ritualisierten Gedenken, einmal als „Gedächtnistheater mit Klezmermusik“ bezeichnet, können die meisten AutorInnen weniger abgewinnen. Sie verweisen auf eine Einfühlungsverweigerung und Distanz der Mehrheitsgesellschaft gegenüber den Holocaustopfern und ihren Nachkommen. Der Verlust des großen jüdischen Anteils an der Kultur in Deutschland wird kaum wahrgenommen.
Konflikte in den Gemeinden
Das enorme Wachstum der jüdischen Gemeinden ist eine Herausforderung. Jüngere Erwachsene, die sich mit unkonventionellen und progressiven Ideen in den vielfältigen jüdischen Gemeindestrukturen einbringen wollen, haben mit Schwierigkeiten und Widerständen zu kämpfen, die hier diskutiert werden. Jalta bindet aber auch jüdische Menschen ein, die mit der konventionellen Verbandsarbeit nichts anfangen können, sich lieber in emanzipatorischen linken Gruppen und Zusammenhängen bewegen oder ihren ganz eigenen Weg gehen wollen.
Dass die Auseinandersetzung mit konservativen und ultraorthodoxen JüdInnen auch zu körperlicher Gewalt und Bedrohungen führte, mussten die „Women of the Wall“ erleben. Sie setzen sich seit 30 Jahren für pluralistische Gebetsformen und einen Zugang für Frauen zur Kotel („Klagemauer“ in Jerusalem) ein. Deshalb mussten sie sich heftigen Angriffen von rechten Eiferern und der Staatsgewalt erwehren, wie Jalta in ihrer Erstausgabe berichtete.
Die Auseinandersetzung mit feministischen Themen nimmt breiten Raum ein und wird auch durch den Namen der Zeitschrift betont. Denn Jalta ist nicht nur der Ort, an dem im Februar 1945 nach der Niederringung des Faschismus die Nachkriegsordnung durch die Alliierten verhandelt wurde, sondern auch eine durch den Talmud überlieferte rebellische und eigensinnige Frau, die sich gegen die Macht der Männer auflehnte. In dem Beitrag „Kann Zorn gerecht sein?“ in Ausgabe fünf wird diese Frauengestalt Jalta, die nach der sexistischen Beleidigung eines Mannes die kostbaren 400 Weinkrüge im Weinkeller zerstörte, ausführlich dargestellt.
Probleme, über die öffentlich nicht so gerne geredet wird, wie sexuelle Ausbeutung und Abhängigkeiten in den Gemeinden oder die Rolle von Männerbünden thematisiert Jalta und unterstreicht die Notwendigkeit für ein feministisches Empowerment in den etwa hundert jüdischen Gemeinden in der BRD.
Im halachischen Sinne jüdisch ist nur, wer eine jüdische Mutter hat. Wie mit der steigenden Anzahl von „Vaterjuden“ und ihren Angehörigen bei gemischt jüdisch-nichtjüdische Ehen umgegangen wird und welcher Status ihnen die liberalen und orthodoxen Gemeinden zusprechen ist eine umstrittene Problematik, die Jalta ausführlich diskutiert.
Jüdisch-muslimischer Dialog
Bei den großen Themen Antisemitismus, Nazis und rechte Gewalt während der letzten Jahrzehnte in der BRD greift die Redaktion auf die Erfahrungen und Erkenntnisse von Ralf Giordano, Fritz Bauer und Michel Friedmann zurück.
Welche Möglichkeiten und Perspektiven für einen jüdisch-muslimischen Dialog bestehen, ist bei den AutorInnen umstritten. Bemerkenswert finde ich den Beitrag „Nahostalgie“ von Lianne Merkur, indem sie beschreibt, wie iranische und jüdische MusikerInnen sich trotz der gegenseitigen feindlichen Haltung ihrer Heimatstaaten in der BRD auf neutralem Boden näher kommen, weil sie dem Herkunftsland nicht mehr politisch loyal bleiben müssen und gemeinsame Vorlieben entdecken.
Demgegenüber verweist Sigmount Königsberg, Antisemitismusbeauftragter der Jüdischen Gemeinden, auf tiefgreifende Dissonanzen zwischen den beiden Religionsgemeinschaften und wertet verschiedene Dialogformate zur Abhilfe aus. Er stellt fest, dass viele jüdische Menschen speziell von Muslimen bedroht werden und zitiert hierbei den Bericht des Unabhängigen Expertenkreises Antisemitismus des Deutschen Bundestages aus dem Jahr 2019: „Besonders häufig wurden muslimische Personen als Täter angegeben: 48 Prozent der versteckten Andeutungen, 62 Prozent der Beleidigungen und 81 Prozent der körperlichen Angriffe gingen nach dieser Einschätzung von muslimischen Personen aus.“
Andere Autorenbeiträge formulieren als Gegenposition, dass man es der „kartoffeldeutschen“ Mehrheitsgesellschaft nicht durchgehen lassen sollte, mit dem Hinweis auf migrantische Muslime von der eigenen Hauptverantwortung für den hausgemachten Antisemitismus abzulenken.
Babylon
In dem generationenübergreifenden Zeitungsprojekt Jalta wird engagiert diskutiert. Von der älteren Generation ist Mitherausgeber Micha Brumlik dabei und gibt seine Erfahrungen weiter. Er hat nicht nur Bücher zu vielfältigen Themen geschrieben (1) , sondern arbeitete in den 70er Jahren im linkssozialistischen Netzwerk „Sozialistisches Büro“ (SB) mit und war Mitherausgeber von Jaltas Vorgängerzeitung „Babylon. Beiträge zur jüdischen Gegenwart“ (2). In den Jahren 1986 bis 2010 erschienen insgesamt 23 Ausgaben. Brumlik schrieb in der vierten Ausgabe von Jalta rückblickend: „Uns prägten sozialwissenschaftliche Themen mit Blick auf Israel, den Zionismus und das Judentum. Und natürlich Deutschland. (…) Zum Antisemitismus in der Linken haben wir uns damals kritisch positioniert“.
Neben der Suche nach neuen postmigrantisch geprägten Allianzen unterscheidet sich Jalta von Babylon auch durch eine Vielzahl von unterschiedlichen kulturellen und künstlerischen Beiträgen, die ihren Ausdruck in Fotostudien, Bildcollagen, Plakaten, dadaistischen Bizarrerien, Gedichten, Ausstellungsexponaten und Hörstücken finden. Hinzu kommen noch kuriose Erlebnisse der Puppenspielerin Shlomit Tulgan, ein Bilderessay über den Judenhut und ein provokatives Plakat mit der Frage, ob womöglich in Zukunft das Schwein koscher wird …
Mirjam Wenzel, Direktorin des jüdischen Museums Frankfurt, betont in dem Interview in Ausgabe drei, dass sie „jüdische Kulturen immer im Plural“ und begleitet von einer offenen Diskussion über die Gegenwart darstellen will. Das kann durchaus zu heftigen innerjüdischen Konflikten führen.
Die Aktualität der Halbjahreszeitung beim Aufgreifen von Diskursen zeigt sich in der sachlichen Besprechung eines religionsphilosophischen Buches („Zwei Götter im Himmel“) des renommierten Wissenschaftlers und Leiters des jüdischen Museums in Berlin, Peter Schäfer. Gut ein Jahr später musste ein vom Museum auf Twitter weitergeleiteter Link als Leseempfehlung für einen taz-Artikel über BDS (Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen) dazu herhalten, den unliebsamen Leiter loszuwerden. Jalta-Redaktionsmitglied Brumlik kommentierte diese Ausgrenzung im Deutschlandfunk am 24. Juni 2019: „Ich spreche von McCarthyismus – Herrschaft des Verdachts und Kontaktschuld.“
Der Inhalt der sieben bis zu 204 Seiten umfassenden Ausgaben und einer Literatur-Sondernummer ist nicht nur kritisch und streitbar, sondern erweitert das Blickfeld der LeserInnen für überraschende und unerwartete Perspektiven. Jalta ist damit ein Lichtblick in einer Medienlandschaft, die immer mehr verflacht und nach rechts abdriftet. Im Vorwort der soeben erschienenen siebten Ausgabe lese ich, dass sich die umtriebige Redaktion zusätzlich zur Printausgabe auf die Suche nach neuen Begegnungsräumen für zukünftige Debatten und Interventionen macht. Wir dürfen also gespannt sein.
Horst Blume
Jalta. Positionen zur jüdischen Gegenwart. Neofelis Verlag, Berlin, Einzelheft 16 Euro. https://neofelis-verlag.de/verlagsprogramm/zeitschriften/jalta
Anmerkungen:
1) Ich empfehle insbesondere das Buch: Micha Brumlik „Wann, wenn nicht jetzt? Versuch über die Gegenwart des Judentums“ Neofelis Verlag, 2016, 132 Seiten, 10 Euro
2) Babylon. Beiträge zur jüdischen Gegenwart, Verlag Neue Kritik – https://www.neuekritik.de/zeitschriften/babylon.html