Interview

„Wir haben einen Nerv getroffen“

Interview mit zwei Aktivist*innen des Bündnisses ´Gemeinsam gegen die Tierindustrie´ anlässlich einer Aktion bei Tönnies in Rheda-Wiedenbrück

| Siyah Yeşil (Interviewer)

Graswurzelrevolution (GWR): 
Am 4. Juli habt ihr die Tönnies-Schlachtfabrik im Kreis Gütersloh blockiert und ein Banner mit der Aufschrift „Shut down Tierindustrie“ entrollt. Die Fabrik, die ihr euch als Aktionsziel ausgesucht habt, war da bereits fett in den Medien: Über 1.500 Mitarbeiter*innen waren positiv auf COVID-19 getestet worden und die miserablen Zustände bei Tönnies wurden öffentlich Thema. Ihr habt nachgesetzt und über eure Aktion hat sogar die New York Times berichtet, Gratulation! Wie geht es euch denn heute?

Kit: Ich bin immer noch in Hochstimmung, weil die Aktion so gut gelaufen ist: Technisch verlief alles reibungslos und das Presseecho war überwältigend!

Cora: Nur schade, dass der Schlachthof so schnell wieder in Betrieb gehen konnte. Andererseits war es ein gutes Gefühl, zu erleben, dass auf unsere Aktion weitere Aktionen gefolgt sind – Blockaden und Demos, an Schlachthöfen an verschiedenen Orten in Deutschland.

Kit: Ich glaube, dass mit dieser Aktion wirklich ein Nerv getroffen wurde.

GWR: Ein paar von Euch waren für den Bannerdrop auf dem Dach der Fabrik. Gab es da gefährliche Situationen? Wie habt ihr die Security-Leute und die Polizei erlebt?

Kit: Wir sind unbemerkt aufs Dach gekommen. Vermutlich haben die Secus und Polizei bis heute keine Ahnung, wie wir aufs Gelände gekommen sind, jedenfalls würde ich das aus den Fragen schließen, die sie uns gestellt haben. Als wir dann entdeckt wurden, sind mehrere Secus aufs Dach gekommen und wollten das Transpi abnehmen. Wir haben gesagt, dass das Sachbeschädigung wäre, und sie haben das Banner dann erst einmal hängen lassen. Nachmittags waren wir dann drei Stunden in der Gefangenensammelstelle (GeSa). Niemand hat seine Personalien angegeben.

GWR: Was wolltet ihr mit dieser Aktion an diesem Tag vor allem erreichen?

Kit: Mir ging es an dem Tag vor allem um mediale Aufmerksamkeit. Ich wollte die Ausbeutung von Mensch und Tier in die Nachrichten bringen und so den Druck auf ausbeuterische Betriebe wie den von Tönnies zu erhöhen. Unsere konkrete Forderung war, dass dieser Schlachthof nie wieder öffnen soll.

Cora: Wir wollten Einfluss auf die Debatte um die Fleischindustrie nehmen, die durch die Corona-Situation neu aufgeflammt ist, mit der wir aber unzufrieden waren. Denn trotz aller Skandale, trotz all der Grausamkeiten ging und geht es in Medien, Wirtschaft und Politik immer noch darum, wie sich diese Industrie reformieren und ein bisschen besser machen lässt. Aber die Tierindustrie ist nicht reformierbar. Sie beruht auf Gewalt und Ausbeutung. Mit der Aktion wollten wir zeigen, dass es ganz andere Maßnahmen braucht und zivilen Ungehorsam, um endlich etwas zu verändern.

GWR: Würdet ihr sagen, dass ihr all dem mit der Aktion ein Stück näher gekommen seid?

Cora: Wir haben viel Medienaufmerksamkeit für das Thema geschaffen und auch unsere radikalen Forderungen wurden berichtet. Es gab Folgeaktionen, das Thema reißt immer noch nicht ab. Außerdem haben sich beim Bündnis „Gemeinsam gegen die Tierindustrie“ nach der Aktion einige Menschen gemeldet, die sich uns anschließen wollten – das ist toll.

Kit: In meinem nicht-veganen Umfeld habe ich mitbekommen, dass sich nach der Aktion viele Gespräche um die Tierindustrie drehten. Dort wurde ich teilweise gefragt, ob die Situation der Arbeiter*innen wirklich so schlimm sei und ob es denn dort keine Kontrollen gäbe.

GWR: Ist die wirklich so schlimm?

Kit: Leider ja. Aktuell beruht in unserer kapitalistischen Gesellschaft die Tierindustrie auf der extremen Ausbeutung von Arbeiter*innen.

Cora: Wir haben eine Podcast-Folge über die Situation der Arbeiter*innen in der Tierindustrie veröffentlicht, den ihr auf unserer Website gemeinsam-gegen-die-tierindustrie.org findet. Extrem lange Arbeitszeiten, hoher Druck und Verletzungsgefahren am Arbeitsplatz, miese Entlohnung, schreckliche Unterbringung in Massenunterkünften, alles ist da unerträglich.

GWR: Wie ist denn jetzt bei Tönnies Rheda-Wiedenbrück der Stand?

Kit: Die Schlachtung ist wieder angelaufen. Nach kurzer Zeit kam es dort allerdings erneut zu mindestens 21 weiteren Corona-Ausbrüchen.

Uhu: Es wurde außerdem bekannt, dass zig Unterfirmen gegründet werden – man kann vermuten, dass Tönnies auf diese Weise das neue Gesetz gegen Werkverträge umgehen will, welches erst für Unternehmen mit mindestens 50 Mitarbeiter*innen Anwendung finden soll.

GWR: Hattet ihr vor oder nach der Aktion Kontakt zum Widerstand vor Ort?

Cora: Wir sind im Austausch mit mehreren Gruppen vor Ort und in der Gegend, so z.B. dem Bündnis gegen die Tönnies-Erweiterung, Fairleben e.V., lokalen Animal Rights Watch – Gruppen und anderen. Am Tag der Blockade fand ja auch noch eine Mahnwache vor dem Schlachthof von mehreren Gruppen statt – das war auch ein schönes Erlebnis, weil sich Teile der Mahnwache mit unserer Blockade solidarisiert und zusammengetan haben, gegen den erklärten Willen und die Einschüchterungsversuche der Polizei.

Kit: Ebenfalls klasse fand ich, dass vor der GeSa lokale Aktivist*innen die Gefangenen begrüßten, als die am Nachmittag rauskamen.

GWR: Apropos Bannerspruch Shut down Tierindustrie: Wie geht das Leben denn eurer Ansicht nach dann weiter – für Arbeiter*innen, Bäuer*innen, Tiere, Konsument*innen und Aktivist*innen – wenn die Tierindustrie tatsächlich abgeschaltet wird? Zugeben, das ist eine umfangreiche Frage…

Cora: Es braucht eine Art Ausstiegsprogramm. Wir wollen ja nicht einfach nur Fabriken stilllegen, sondern die Transformation hin zu einer ökologischen und solidarischen Nahrungsmittelproduktion. Fabriken wie Tönnies sollten enteignet und in eine pflanzenbasierte Produktion unter Selbstverwaltung der Arbeiter*innen umgewandelt werden.

GWR: Was bedeutet das für die Bäuer*innen?

Kit: Für mich gehören die Bäuer*innen mit zu den Arbeiter*innen. Auch diese werden aktuell ausgenutzt. Tönnies verdient an einem Schwein beispielsweise knapp elf Euro. Es dürfte klar sein, dass hier auch die Bäuer*innen nicht viel Gewinn machen werden.

Cora: Es braucht eine umfassende Agrarwende, die auch für die Menschen, die heute in Landwirtschaft und Tierhaltung arbeiten, keine Verschlechterung bedeuten soll, im Gegenteil. Dazu gehört zum Beispiel eine Umschichtung der Subventionen, die heute zum Großteil in flächenstarke Großbetriebe fließen. Die Tierindus
trie bekommt auch direkte Fördergelder. Stattdessen müssen z.B. der ökologische Gemüse- und Getreideanbau gefördert werden und Natur- und Klimaschutz. Für Tierhalter*innen sollte es Ausstiegs- und ggf. auch Entschädigungsprogramme geben. Das sind jetzt allerdings erst einmal meine Vorschläge und nicht unbedingt ausdrückliche Bündnispositionen. Wir unterstützen als Bündnis allerdings den Klimaplan von unten (klimaplanvonunten.de), der einige Maßnahmen zur sozial gerechten Reduktion der Tierhaltung beinhaltet.

GWR: Das Bündnis „Gemeinsam gegen die Tierindustrie“ umfasst laut dem eigenen Selbstverständnis auf der Homepage unterschiedliche Gruppen und Menschen, insbesondere aus den Bereichen Klima, Landwirtschaft und Tierrechte. Seit wann gibt es dieses Bündnis? Was war euer persönliches Motiv, euch dort zu engagieren?

Cora: Das Bündnis gibt es seit dem Sommer 2019. Mich überzeugt, dass die Tierindustrie endlich als Querschnittsthema mehrerer Bewegungen betrachtet und angegangen wird.

GWR: Was hat sich für euch bzw. euren Aktivismus dadurch verändert, dass es nun dieses Bündnis gibt?

Cora: Mein Wissen über die vielfältigen negativen Folgen der Industrie hat sich erweitert – ich wusste gar nicht, dass es noch schlimmer sein könnte als gedacht…

Außerdem habe ich jetzt endlich wieder diese ewig langen Plena an den Wochenenden, die hatte ich fast schon vermisst [lacht].

GWR: Was würdet ihr Menschen sagen, die überlegen, sich dem Bündnis anzuschließen?

Cora: Wir wollen eine gesamtgesellschaftliche Veränderung erreichen, da brauchen wir viele weitere Mitstreiter*innen. Ihr könnt euch mit euren Fähigkeiten und Interessen einbringen und es macht Spaß!

Kit: Es gibt regelmäßige Treffen des Bündnisses (sowohl online als auch offline). Hier können Interessent*innen gerne hinzukommen. Kommt gerne vorbei!

GWR: Es gibt die Kampagne „Wir haben es satt“. Glaubt ihr, dass „Wir haben es satt“ und „Gemeinsam gegen die Tierproduktion“ auch zusammen aktiv werden könnten?

Cora: „Wir haben es satt“ ist meiner Einschätzung nach eher für einen Umbau, nicht für einen drastischen Abbau der Tierhaltung, ist wenig kapitalismuskritisch und setzt bisher auch eher nicht auf zivilen Ungehorsam. Das stimmt mich bezüglich einer engen Zusammenarbeit eher skeptisch. Aber gegenseitige Unterstützung gibt es schon und die kann sicher noch deutlich ausgebaut werden.

Interview: Siyah Yeşil

Mehr zum Thema