Rooble Muse Warsame, Flüchtling aus Somalia, wurde gegen 5 Uhr morgens am 26. Februar 2019 in die Zelle 2 der Polizeiinspektion Schweinfurt eingeschlossen und zweieinhalb Stunden später erhängt aufgefunden.
Mitarbeiter:innen des Wachpersonals vom AnkER-Zentrum am Kasernenweg hatten ihn Polizeibeamt:innen übergeben, weil er sich mit einem oder mehreren Somaliern recht laut und unter Alkoholeinfluss gestritten hatte. Ihm wurden die Arme auf dem Rücken gefesselt, obwohl er sich kooperativ und ruhig verhielt und die Anweisungen der Beamt:innen kritiklos befolgte. Öfter sagte er zu ihnen „Alkohol, zuviel Alkohol“. Der polizeiliche Vorwurf war „Ruhestörung“ und „zur Unterbindung weiterer Straftaten“ nahmen sie ihn in so genannten Sicherheitsgewahrsam.
In der Zelle 2 befanden sich zu der Zeit eine Pritsche, eine Matratze, eine Toilette und eine Sitzgelegenheit. Rooble Muse Warsame musste sich bis auf die Unterhose ausziehen, bekam noch eine braune Polizeiwolldecke und wurde dann kurz nach 5.00 Uhr eingeschlossen.
Bei einem Kontrollgang durch den im Keller gelegenen Zellentrakt fand ein Beamter ihn dann gegen 7.30 Uhr stranguliert vor: „Er war so am Boden gekauert. Man könnte dazu sagen, dass er sich so gekniet oder halb gesessen war mit dem Gesicht Richtung Zellentür.“ Wiederbelebungsversuche der Beamt:innen vor Ort und des gerufenen Notarztes blieben erfolglos. Um 8.10 Uhr wurde Rooble Muse Warsame vom Arzt für tot erklärt. Herr Warsame wäre am 2. März 2019 23 Jahre alt geworden. Soweit die offizielle Version.
Die Nachricht vom Tod im Polizeigewahrsam verbreitete sich schnell über facebook. Sie erreichte so auch einige seiner Verwandten, die zeitnah aus Schweden, Norwegen, Österreich und England anreisten, um sich vor Ort Klarheit zu verschaffen. Sie stießen auf unerwartete Schwierigkeiten. Die Widersprüche in dieser Geschichte wurden für sie immer größer. Zunächst wurde ihnen gesagt, dass Rooble Muse Warsame sich mit einem Laken und einer Bettdecke stranguliert habe. Erst nach beharrlicher Nachfrage bei der Polizei und mehreren Telefonaten innerhalb der Behörde wurde es ihnen gestattet, die Todeszelle anzuschauen.
Muse Warsames Cousin Mohammad Yassin erinnert sich: „Die Zelle war zwei bis drei Quadratmeter groß. Wir untersuchten alles. Doch es war nicht möglich, in diesem Raum Suizid zu begehen. Außer man schlägt seinen Kopf immer wieder gegen die Wand, oder erwürgt sich mit den eigenen Händen. Es gab kein Material in dem Zimmer … keinen Haken, keine Seile, keine Öffnung, an der man etwas hätte befestigen können.“
Die Angehörigen konnten sich eine Selbsttötung überhaupt nicht vorstellen. Er pflegte einen engen Kontakt zu seiner Familie. Sie sagten, dass Rooble Muse Warsame keinerlei psychische Probleme gehabt habe, weder depressiv war, noch jemals Andeutungen gemacht hätte, dass er sich umbringen wolle. Aus ihrer Sicht sei ein Suizid auch undenkbar, da sein sunnitischer Glaube ihm dieses verbiete. Es gab auch keinen ersichtlichen Grund zum Suizid im Zusammenhang mit seinem Asylverfahren, denn er war im Besitz einer Aufenthaltsgestattung, so der Rechtsanwalt der Familie H.-Eberhard Schultz.
Die von den Behörden geplante Einäscherung des Toten konnte mit Hilfe der Moscheegemeinde in Schweinfurt verhindert werden. Am 4. März fand die rituelle Waschung des Gestorbenen nach islamischem Brauch in Anwesenheit eines Imams statt. Die Angehörigen waren erschüttert über das, was sie sahen: frische Wunden am Körper, Schrammen an seinem Hals, eine Verletzung an seinem Knie und Hämatome am Hals und an den Beinen.
Dann wurde Rooble Muse Warsame auf einem Bereich des Schweinfurter Friedhofs beigesetzt, der von der Moscheegemeinde genutzt wird. Circa 40 Personen gaben ihm das letzte Geleit. Neben Freund:innen, Mitbewohner:innen und Gemeindemitgliedern war bemerkenswerterweise auch die Polizei mit mehreren zivilen und uniformierten Einsatzkräften vor Ort.
Offene Fragen
Im April 2019 teilte die Staatsanwaltschaft Schweinfurt mit, dass die Obduktionsergebnisse darauf hindeuten würden, dass der Gefangene sich mit einem Stoffstreifen selbst stranguliert habe, weil Hinweise auf Fremdverschulden nicht vorlägen.
Rooble Muse Warsame starb durch so genanntes atypisches Erhängen: Da das eine Ende des Stoffstreifens in der Höhe von 1,50 Meter an einem Zellengitter verknotet war, Herr Warsame jedoch eine Körpergröße von 1,78 Meter hatte, war er in hockender Haltung mit vollem Bodenkontakt vorgefunden worden. Als so genanntes Strangulationswerkzeug wird ein von einer bräunlichen Polizeidecke abgetrennter sechs Zentimeter breiter und 1,95 Meter langer Streifen identifiziert.
Der Beamte, der den Toten fand und noch am Todestag verhört wurde, antwortete auf die Frage, ob er sich erklären könne, wie es Herrn Muse Warsame möglich war, diesen Streifen von der Wolldecke abzutrennen, mit „Nein“. Ebenso sein Kollege, der erst zwei Wochen später verhört wurde. Der dritte Kollege, der Rooble Warsame in die Zelle eingewiesen und eingeschlossen hatte, ihn also eventuell als letzter lebend gesehen hat, wurde drei Wochen später lediglich zehn Minuten lang telefonisch befragt und ihm wurde diese Frage gar nicht erst gestellt.
Tatsächlich ist bis heute nicht geklärt, wie dieser Streifen von der Wolldecke abgetrennt werden konnte. Die Wolldecke der Marke Ibena ist speziell für den Einsatz in Haftzellen entwickelt worden, das heißt, sie ist so stabil, dass Gefangene sich nicht damit verletzen oder töten können.
Die Verletzungen, die Muse Warsames Verwandte bemerkten, wurden vom Institut für Rechtsmedizin der Universität Würzburg nach der Obduktion teilweise bestätigt. Es wurden „diskrete“ Blutergüsse im Bereich der linken Schläfe und des Jochbeinbogens und eine „relativ kräftige Einblutung“ im Bereich des rechten Jochbeins, andere Hämatome an der Außenseite des linken Unterarms und im Bereich des rechten Ellenbogens beschrieben. Auch eine schürfartige Verletzung am linken Unterarm und „frisches sowie angetrocknetes Blut“ im rechten äußeren Gehörgang – weitere Blutspuren in der Nase, an den Wangen und Händen.
Abschließende Beurteilung der Rechtsmediziner:innen: „Aufgrund der Sektionsbefunde und der von Seiten der Polizei mitgeteilten Auffindesituation ist im vorliegenden Fall von einem atypischen Erhängen in suizidaler Absicht auszugehen. Anhaltspunkte für eine darüber hinausgehende todesursächliche Gewalteinwirkung ergab die Obduktion nicht.“
Die Blutergüsse am linken Unterarm wie auch die Einblutungen an der linken Schläfe und dem linken Jochbein werden von den Rechtsmediziner:innen als „Anschlagsverletzungen“ interpretiert. Da stellt sich die Frage, wie es zu diesen Verletzungen kommen kann, wenn ein Mensch bei dem Vorgang des atypischen Erhängens in die Knie und zu Boden sinkt, weil er durch Sauerstoffmangel ohnmächtig wird. Tatsächlich kann es bei akutem Sauerstoffmangel durch Strangulieren zu so genannten tonisch-klonischen Krämpfen mit ungeordneten Bewegungen der Extremitäten kommen, wodurch Blutergüsse entstehen könnten. Theoretisch wäre aber auch eine andere Möglichkeit denkbar: nämlich dass Herrn Muse Warsame von einer anderen Person (Rechtshänder:in) kräftig ins Gesicht geschlagen wurde und daraufhin weitere Schläge durch eine Abwehrbewegung des linken Unterarms abwenden wollte.
Noch eine andere Merkwürdigkeit fällt beim Studium der Akten auf: Während der Beamte, der ihn vorfand, aussagte, dass er und seine Kollegen die Matratze von der Pritsche gezogen hatten, um eine härtere Unterlage für die Reanimationsversuche des Erhängten auf der Pritsche zu haben, steht im Bericht der Schweinfurter Spurensicherung: „Eine Matratze befindet sich nicht in der Zelle.“
Fahrlässigkeit oder Absicht?
Obwohl es zu den Aufgaben der Beamt:innen der Morgenschicht gehört, zu Beginn der Schicht um 6.00 Uhr Haftzellen und deren Insass:innen zu überprüfen, machte der diensthabende Beamte den Kontrollgang erst eineinhalb Stunden später. Er rechtfertigte es damit, dass ihm bei der Schichtübergabe gesagt wurde, dass keine Auffälligkeiten bei den derzeit einsitzenden Gefangenen vorlägen. Stellt sich allerdings die Frage, warum Herr Muse Warsame seine Kleidung bis auf die Unterhose abgeben musste – eine Regelung, die eigentlich eher bei Suizidgefährdeten angewendet wird.
Zum Zeitpunkt des Todes von Rooble Muse Warsame waren auch die Zellen 1 und 3 mit jeweils einem Somalier – auch Bewohner aus dem AnkER-Zentrum – belegt. Einer von ihnen, der nach Aussagen eines Beamten erst während des Schichtwechsels gegen 6 Uhr eingeschlossen worden war, wurde am Morgen des 26. Februar entlassen, ohne als Zeuge von der Polizei verhört worden zu sein.
Dieser Mann berichtete dann den Angehörigen von Rooble Muse Warsame, dass er im Zellentrakt Schreie gehört habe, die plötzlich abbrachen. Er sagte auch, dass er große Angst vor der Polizei habe und äußerte die Befürchtung, dass sich das, was er wusste beziehungsweise in der Nacht erlebt hatte, negativ auf sein Asylverfahren auswirken könne. Nach einigen Tagen verschwand er aus dem Lager, ohne jemandem Bescheid zu sagen. Mitbewohner:innen vermuteten damals, dass es entweder durch behördlich angeordnete Umquartierung geschah oder dass er sich entschlossen hatte, unterzutauchen.
Auch der dritte Somalier, der sich in der Nacht zum 26. Februar im Zellentrakt befand, wurde nicht verhört. Dieser ebenfalls wichtige Zeuge befand sich, laut Aussage des Staatsanwalts Axel Weihprecht, in Abschiebungshaft und wurde am 7. März 2019 entsprechend dem Dublin-Verfahrens abgeschoben.
Im Laufe der weiteren Ermittlungen stellt sich heraus, dass Herr Muse Warsame bereits am 5. Februar wegen Missbrauchs von Notrufen festgenommen worden war. In der Zelle der Polzeiinspektion Schweinfurt habe er – laut Aussagen der Beamt:innen – seinen Kopf mehrfach gegen Zellengitter geschlagen und geäußert, man möge ihn umbringen, sonst täte er es selber. Daraufhin war er wegen „Selbstgefährdung“ ins Krankenhaus für Psychiatrie nach Werneck gebracht worden, aus dem er am nächsten Morgen wieder entlassen wurde. Die Ärzt:innen sahen keine Selbst- oder Fremdgefährdung.
Dieser Vorgang war den Beamt:innen nach seiner Festnahme am 26. Februar nicht bekannt, weil unterschiedliche Eintragungen seines Nachnamens in den behördlichen Akten und Dokumenten existierten: Während in seinem Ausweis für das AnkER-Zentrum als Nachname „Warsame“ und als Vornamen „Rooble Muse“ verzeichnet waren, wurde er im Ausländerzentralregister mit dem Nachnamen „Muse Warsame“ geführt. Wäre der Name korrekt eingetragen gewesen, dann hätte der Gefangene nach dem Einschluss wahrscheinlich öfter kontrolliert werden müssen.
Trotz aller Widerprüche und Ungereimtheiten hat die Staatsanwaltschaft Schweinfurt die Ermittlungsakte zum Tode von Rooble Muse Warsame im Oktober 2019 geschlossen. Offensichtlich aufgrund immer lauter werdender Kritik und Nachfragen vonseiten der Öffentlichkeit und Presse nahm der leitende Staatswanwalt Axel Weihprecht die Ermittlungen dann allerdings Anfang Juli 2020 wieder auf. Gegenüber der taz kommentiert er dies wie folgt: „Es ist nicht so, dass ich etwas auffällig oder verdächtig fände …. Aber ich möchte da einfach nichts mehr im Raum stehen haben.“
Weitere Ermittlungsergebnisse stehen noch aus. Die zentrale Frage, wie ein angetrunkener Mann (1,2 Promille), der nur eine Unterhose trägt, in einer verletzungssicheren Ausnüchterungszelle in der Lage war, den 6 Zentimeter breiten und 1,95 Meter langen Streifen von einer Sicherheitswolldecke abzutrennen, ist noch nicht beantwortet. Untersuchungen, die dies klären würden, wären z.B. der Nachweis von DNA-, Speichel- oder sonstigen Spuren an der Decke und am Wolldecken-Streifen. Auf die Frage, wie Rooble Muse Warsame den Streifen abgetrennt haben soll, erwiderte Staatsanwalt Weihprecht jetzt gegenüber der Antirassistischen Initiative Berlin am Telefon: „Das wird wohl nie geklärt werden können.“
Kein Einzelfall!
Diese Geschichte vom Tode des Rooble Muse Warsame ist eine von vielen aus der aktuellen Dokumentation „Bundesdeutsche Flüchtlingspolitik und ihre tödlichen Folgen“, die jährlich von der Antirassistischen Initiative Berlin fortgesetzt wird. Im Focus der Pressemitteilung zur Fertigstellung der 27. Auflage der Dokumentation steht das Thema: Todesfälle in Polizeigewahrsam und Polizeigewalt (Death in Custody).
Nur selten gelingt es tatsächlich, Licht in dieses behördliche Dunkelfeld zu bringen. Bei Todesfällen in Polizeigewahrsam oder durch direkte Polizeigewalt werden Ermittlungen gegen Polizist:innen entweder gar nicht erst eröffnet oder schnell eingestellt. Zeug:innen werden nicht vernommen oder Personen ohne gültigen Aufenthalt bewusst abgeschoben. Beweise verschwinden, Akten werden gefälscht – oft kommt es sogar zu einer Täter-Opfer-Umkehr, um Tötungen glaubwürdig zu machen.
Dies ist nur möglich, weil keine unabhängigen Kontroll-Mechanismen existieren. Die Polizei ermittelt in solchen Fällen gegen sich selbst. Im Falle des Todes von Rooble Muse Warsame übernahm das Bayerische Landeskriminalamt (BLKA), Abteilung Interne Ermittlungen, die operative Führung und wies die Kriminalpolizei Schweinfurt an, die Tatortarbeit und Leichenschau vor Ort zu machen. Bei der Obduktion waren jeweils ein Beamter der Kripo Schweinfurt und einer vom BLKA anwesend. Der offizielle Schriftverkehr zwischen den verschiedenen Ebenen der Behörde lässt erkennen, dass sich die Kollegen gut kennen sollten, denn sie duzen sich.
Eine externe Überprüfung der Zusammenhänge ist dringend nötig, um die vielen Widersprüche und unbeantworteten Fragen aufzuklären. Die Angehörigen von Rooble Warsame sammeln derzeit Geld für ein solches unabhängiges Gutachten.
Antirassistische Initiative Berlin
Dokumentationsstelle
Geflüchtet aus Elend und Verfolgung
Rooble Muse Warsame wurde im März 1996 in einem Dorf in Somalia geboren, das so klein ist, dass es keinen Namen trägt. Nachdem sein Vater 2010 von zwei Mitgliedern der islamistischen al-Shabaad-Miliz getötet wurde, übte Rooble Muse Warsames Onkel, der Bruder seines Vaters, Rache und tötete 2014 einen der Täter. Der Onkel musste daraufhin die Familie verlassen. Als einziges männliches Familienmitglied blieb der 14-jährige Rooble mit seiner Mutter, seiner 5-jährigen und der 16-jährigen Schwester zurück und wurde schließlich von der Familie des getöteten Islamisten mit dem Tode bedroht. Die Mutter verkaufte das Haus und finanzierte so seine Flucht aus Somalia in Richtung Europa. Als zweiten Grund für die Flucht nannte Rooble Muse Warsame später den Hunger, unter dem die Familie litt: „Es gab nichts zu essen und die Tiere waren schon alle gestorben.“
Er verließ das Land im Juni 2014 und kam über Äthiopien, Sudan, Libyen, Italien nach Österreich, wo er im Mai 2015 einen Asylantrag stellte. Obwohl Rooble Muse Warsame nie eine Schule besucht hatte, nahm er an einem Deutschkurs teil und konnte sich in dieser Sprache fortan immer besser verständigen. Im Oktober 2017 erfuhr er, daß seine Großmutter und sein Onkel bei einem Bombenanschlag der al-Shabaad-Miliz in Mogadischu getötet worden waren.
Die Perspektivlosigkeit in Österreich, vor allem durch das absolute Arbeitsverbot für Asylbewerber:innen, und letztlich auch die Ablehnung seines Asylantrags trieben ihn nach dreieinhalb Jahren zu dem Entschluss, nach Deutschland weiterzureisen. Am 9. Dezember 2018 stellte er in Bayern einen Asylantrag und wurde im AnkER-Zentrum Schweinfurt untergebracht.
Rooble Muse Warsame starb am 26. Februar 2019 in einer Arrestzelle der Schweinfurter Polizei durch atypisches Erhängen – drei Tage vor seinem 23. Geburtstag.
Spendenkonto: ARIBA e.V./ ReachOut Bank für Sozialwirtschaft BIC: BFSWDE33BER Stichwort: Gutachten Rooble Muse Warsame
Dies ist ein Beitrag aus der aktuellen Druckausgabe der GWR. Schnupperabos zum Kennenlernen gibt es hier.