Dolma, mit Reis und Gemüse gefüllte Weinblätter, sind eine Köstlichkeit, die sowohl in Armenien als auch in Aserbaidschan verbreitet ist. Nach dem Zerfall der Sowjetunion 1991 verschärfte sich der Konflikt zwischen den ehemaligen Sowjetrepubliken Aserbaidschan und Armenien um Bergkarabach zu einem Krieg. Seit dessen Ende 1994 wird die völkerrechtlich nicht anerkannte Republik Bergkarabach im Südkaukasus zum Großteil von Armeniern kontrolliert. Seit Ende September 2020 eskaliert der durch nationalistische Propaganda beider Kriegsparteien geschürte Konflikt erneut. Befeuert wird er durch die militärische Unterstützung des türkischen Erdoğan-Regimes – und auf diese Weise auch mit Waffen aus deutscher Produktion. Aserbaidschans Despot İlham Aliyev betrachtet Armenien als „altes türkisches und aserbaidschanisches Gebiet”. Sein Waffenbruder Recep Tayyip Erdoğan unterstützt den Angriff und strebt eine Wiederauferstehung des Osmanischen Reiches an, das 1915 den Genozid an 1,5 Millionen Armeniern verübt hat. GWR-Autorin Rovshana wurde im multiethnischen Aserbaidschan geboren und lebt in Berlin. In der Graswurzelrevolution 418 erschien ihr Artikel „Frausein in Aserbaidschan. Eine soziokulturelle Analyse einer patriarchalischen Diktatur“(1). Im folgenden Beitrag fordert sie die Menschen beider Seiten auf, sich nicht für den Krieg instrumentalisieren zu lassen, die Waffen nieder zu legen und statt Krieg lieber Dolma zu machen. (GWR-Red.)
Wenn der Krieg um Bergkarabach, der zwischen Aserbaidschan und Armenien stattfindet, thematisiert wird, rückt schnell die Fragestellung sowohl der aserbaidschanischen wie der armenischen Seiten in den Fokus, wem das Gebiet Bergkarabach gehört und wer hier zuerst war. Aserbaidschaner*innen fordern die Implementierung der vier von der UNO verabschiedeten Resolutionen, während Armenier*innen betonen, dass Aserbaidschaner*innen nicht zu den in Bergkarabach wohnenden Völkern gehören und daher kein Recht auf die Region haben. Ein erstes Zeichen für die kommende, jetzt anhaltende kriegerische Auseinandersetzung war es schon, als die Gefechte an der Grenzzone zwischen Aserbaidschan und Armenien im Juli 2020 aufgeflammt sind. Nun tobt der Konflikt seit dem 27. September im Gebiet Bergkarabach wieder ganz dynamisch und unvorhersehbar. Sowohl Armenien als auch Aserbaidschan haben ihre militärische Mobilmachung angekündigt. Der Internet-Zugang ist in Aserbaidschan fast komplett ausgefallen. Schon im Juli gerieten die Nationalist*innen auf beiden Seiten in Euphorie, nach den Schießereien in Tovuz, wobei sie sich über die Nachrichten gefreut haben, dass auf der anderen Seite mehr Menschen getötet und Infrastruktur-Flächen zerstört worden waren. Die vom selben Nationalismus besessenen Menschen versammeln sich vor den Gebäuden der Botschaften im Ausland, auch hier in Deutschland – schwenken Flaggen und beschimpfen sich gegenseitig oder verprügeln sich. Dabei werden in diesem Kriegszustand die organisierte politische Repression gegen die Meinungsfreiheit, die die Menschenwürde verletzenden Gesetze, Arbeitslosigkeit, Polizeigewalt und Korruption schnell vergessen. So spielen die vom Nationalismus aufgehetzten Menschen ihre vorgegebenen Rollen sehr gut, was die beiden Konfliktstaaten als Zwischenergebnis feiern. Das ist die Folge der bis jetzt nicht vorhandenen Beziehungen zwischen den am Konflikt beteiligten Menschen. Weder auf politisch-wirtschaftlicher noch auf soziokultureller Ebene gab es in den letzten Jahren eine Annäherung.
İlham Aliyev ist als Nachfolger seines Vaters seit 2003 amtierender Präsident Aserbaidschans. Ähnlich wie sein Vater lässt er einen Personenkult um sich aufbauen. Er prahlt mit der Militärausrüstung Aserbaidschans, droht der anderen Seite mit einem verheerenden Angriff, der auf der Unterstützung der Bevölkerung basiere. Ein Waffenstillstand sei in dieser Situation, so Ilham Aliyev, dann denkbar, wenn die armenische Armee Bergkarabach verlasse und Armenien Aserbaidschans territoriale Integrität anerkenne. Nikol Paschinjan, Armeniens Premierminister, solle sich beim aserbaidschanischen Volk entschuldigen und Armenien solle eine Landkarte veröffentlichen, die den Abzug seiner Truppen aus Bergkarabach zeigt.
Die Menschen in Aserbaidschan, die sich selbst als oppositionelle politische Aktivist*innen bezeichnen, bringen in dieser Sache zurzeit ihren eindeutigen Kooperationswillen mit Ilham Aliyev zum Ausdruck. Von Philosoph*innen über Oppositionsparteien und Friedenstifter*innen bis hin zu Schauspieler*innen und Journalist*innen feiern fast alle Aliyevs Enthusiasmus bezüglich seiner Kriegsführung. Diese Art „Burgfrieden“ war auch eines seiner ursprünglichen Ziele. Die Menschen, die früher kein gutes Haar an ihm gelassen haben, warten jetzt auf seine Ansagen, die der Frage nachgehen, was als Nächstes in diesem Krieg getan werden soll. Die Türkei unterstützt Aserbaidschan und veröffentlicht unter anderem offizielle Berichte aus den Kriegsgebieten über die Situation in Aserbaidschan, sogar früher als aserbaidschanische Behörden. Armenien ist bis zum heutigen Zeitpunkt in dieser Situation auf sich allein gestellt. Da Georgien nach dem Ausbruch des Krieges aufgrund der Absicht vieler armenischstämmiger Georgier*innen, an den Kämpfen in Bergkarabach teilzunehmen, seine Grenzen zu Armenien geschlossen hat, kann die militärische Ausrüstung aus Russland nur über die Route Kaspisches Meer-Iran-Armenien geliefert werden. Die aserbaidschanische Minderheit im Iran hat die Wege gesperrt, damit der Rüstungsexport aus Russland nach Armenien nicht stattfinden kann. Sie veranstalten darüber hinaus Kundgebungen in Täbris, im İran, die darauf abzielen, Unterstützung für den Bergkarabachkrieg zu erzeugen. Des Weiteren fordern sie die Schließung der iranisch-armenischen Grenze. Armenien gab vor kurzem bekannt, dass die armenische Botschaft aus Israel wegen des Exports israelischer Waffen nach Aserbaidschan zurückgerufen wird. Seit dem 4. Oktober bombardiert Armenien nun die größeren Städte Aserbaidschans. Der Grund dafür ist der Wunsch der armenischen Regierung, dass sich Russland direkt in den Konflikt einmischt, was bis jetzt nicht gelungen ist. Russland hat ein militärisches Abkommen mit Armenien geschlossen, das bis zum Jahr 2044 gültig ist. Es besagt, dass die Sicherheit Armeniens von Russland gewährleistet wird. Bergkarabach ist ein autonomes Gebiet, aber aus Sicht von UNO und Europarat Teil des aserbaidschanischen Staatsgebietes und kein Teil von Armenien. Russland wäre laut Beistandsvertrag allerdings verpflichtet, in den Krieg einzugreifen, wenn Aserbaidschan armenisches Territorium angreifen sollte. Wenn Aserbaidschan also auf die von Armenien durchgeführten Bombenangriffe auf die aserbaidschanischen Gebiete Ganja, Barda, Tartar, Beylagan, Khizi, Aghjabedi mit einem Angriff auf armenisches Staatsgebiet antworten sollte, wäre Russland „verpflichtet“, militärisch zu intervenieren.
Der Wunsch, Frieden und Freiheit durch Krieg zu erreichen, ist widersprüchlich. Denn Frieden kann nicht durch Krieg erreicht werden. Der Friedensbegriff wird hier instrumentalisiert, um den Krieg zu rechtfertigen und weiterzuführen. Bisher sind laut Spiegel, zwischen 27. September und 11. Oktober, mindestens 250 Menschen auf beiden Seiten Opfer einer sinnlosen kriegerischen Auseinandersetzung geworden.
Ich appelliere an alle freiheitsliebenden, antimilitaristischen Kräfte in Aserbaidschan und Armenien – wir sollten uns nicht von der herrschenden Propaganda instrumentalisieren lassen! Ich bedauere zutiefst, dass unschuldige Menschen auf beiden Seiten in einem sinnlosen Krieg ums Leben gekommen sind. Ich, als antiautoritäre Feministin, lehne den auf der nationalistischen Ideologie basierenden Krieg auf beiden Seiten ab! Ich bin mir sicher, dass es auf beiden Seiten Menschen gibt, die die militaristische Politik Armeniens und Aserbaidschans nicht unterstützen, sondern ablehnen, und ich stehe diesen Menschen bei und unterstütze ihre Stimme. Als Jugendliche aus beiden Gesellschaften müssen wir uns jetzt auf den Kampf gegen hierarchische, klassistische Werte, autoritäre Institutionen sowie alle sozialpatriarchalen Gräueltaten in Aserbaidschan und Armenien fokussieren, in denen patriarchalische Überzeugungen vorherrschen, in denen eine soziale Klassenlücke besteht und in denen der Wohlstand in wenigen Händen einer sehr kleinen Gruppe von zutiefst korrumpierten Menschen konzentriert ist. Ich möchte keinen Frieden durch Krieg, sondern fordere die sofortige Beendigung des kriegerischen Zustands.
Rovshana
(1) Siehe: https://www.graswurzel.net/gwr/ 2017/04/frausein-in-aserbaidschan/
Siehe auch: Zehn Jahre Knast für ein Graffiti. Die Diktatur in Aserbaidschan geht brutal gegen die beiden Anarchisten Giyas und Bayram vor. Artikel von Rovshana und Sven, aus: GWR 416, Februar 2017, https://www.graswurzel.net/gwr/2017/02/zehn-jahre-knast-fuer-ein-graffiti/
Dies ist ein Beitrag aus der aktuellen Druckausgabe der GWR. Schnupperabos zum Kennenlernen gibt es hier.