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Mit Seifenkiste und Malerpinsel

Die radikale Gewerkschaftsbewegung in den USA und das faszinierende Leben des Anarchisten Sam Dolgoff

| Oliver Steinke

Anatole Dolgoff: Links der Linken. Sam Dolgoff und die radikale US-Arbeiterbewegung, Verlag Graswurzelrevolution, Heidelberg 2020, 426 Seiten, 24 Fotos, ISBN 978-3-939045-40-3, 24,90 Euro

Die Geschichte der „Industrial Workers of the World“ (IWW) ist hierzulande nicht allzu bekannt. Diese sozialrevolutionäre Gewerkschaft, deren Mitglieder sich Wobblies nennen, spielte in den USA Anfang des 20. Jahrhunderts eine maßgebliche Rolle bei vielen spektakulären Streiks. Heute sind die Wobblies vor allem in den USA, Großbritannien, Australien und Kanada einflussreich. Die IWW versteht sich als basisdemokratische, von Arbeiter*innen geführte weltweite Gewerkschaft für alle Arbeiter*innen. „Wir organisieren uns als Kolleg*innen, als Nachbar*innen, als Erwerbslose, als Geflüchtete, als Studierende auf der Arbeit und in unserem sozialen Umfeld.“(1)

Anatole Durruti Dolgoff (*1937), viele Jahre Physik- und Geologie-Lehrender in New York, begibt sich mit „Links der Linken“ nun mitten hinein in diese ungewöhnlich kämpferische Gewerkschaft. Eine andere Wahl hatte er auch nicht, als er beschloss seine warmherzige und dennoch kritische Biographie über seinen Vater Sam Dolgoff (1902-1990) und damit indirekt natürlich auch über seine Mutter Esther (1901-1986) und ihre ganze Familie zu schreiben.

Die Dolgoffs kamen 1902 aus Weißrussland nach New York. Ihr Umfeld, ebenso wie das anderer armer jüdischer Einwandererfamilien, waren die Mietshäuser, Fabrikhallen, Kneipen der Bronx und anderer Immigrant*innenviertel. Zu jener Zeit kam es in den USA vielerorts zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen Arbeiter*innen und Unternehmern, in deren Verlauf sich 1905 die IWW gründete, der Sam Dolgoff 1922 beitrat.

Die Biographie verbindet meisterhaft die Klassenkämpfe eines ganzen Jahrhunderts mit der Gegenwart der USA. Dies in wenigen Zeilen nachzuzeichnen scheint hingegen kaum möglich und soll hier denn auch nur ansatzweise versucht werden. Fangen wir bei der IWW an: Ihr Ziel ist die sozialistische Gesellschaft. Ihre Mittel Streik und andere direkte Aktionen, sie lehnt Bürokratie ab, auch den Parlamentarismus, eine Kaderpartei wie die etwa zeitgleich entstehende Bolschewiki in Russland sowieso. Bald nach ihrer Gründung wurde die IWW zum Staatsfeind Nr. 1 erklärt, auch, weil sie sich weigerte, während des Ersten Weltkrieg in den patriotischen Taumel einzustimmen und ihre Streiks für bessere Arbeitsbedingungen einzustellen. Zu jener Zeit wurden die meisten der Organisator*innen verhaftet, hunderte manchmal für viele Jahre weggesperrt, einige verbannt. Andere, wie der Schwede Joe Hill (1879-1915) waren fingierten Mordanklagen ausgesetzt. 1917, als die Mitgliederzahl der IWW mit 150.000 ihren Höchststand erreichte, wurden etwa 1300 streikende Minenarbeiter in Bisbee Arizona für 36 Stunden fast ohne Wasser in der Wüste ausgesetzt und anschließend deportiert. In Everett, im Bundesstaat Washington, wurden bei einer Schießerei fünf Wobblies getötet. Insgesamt starben in den Klassenauseinandersetzungen von 1907 bis 1921 mehr als hundertfünfzig Aktivist*innen.(2) Bekanntere Wobblies dieser Zeit sind u.a. Mary Harris „Mother“ Jones (1837-1930), der einäugige, über 1,90 Meter große Big Bill Haywood (1869 – 1928) oder auch James Connolly, der zurück in Irland 1916 den Osteraufstand gegen die englische Kolonialherrschaft anführte.

Lange vor der Bürgerrechtsbewegung sah die IWW die Aufhebung der Klassengesellschaft und die Überwindung des Rassismus als untrennbar an. Anatole Dolgoff beschreibt, wie Big Bill Haywood 1912 eine Versammlung weißer Holzarbeiter Louisianas aufforderte, zu ihren schwarzen Kollegen zu gehen, die sich wegen der rassistischen Rassentrennungsgesetze in einer benachbarten Halle treffen mussten : „Ihr arbeitet in demselben Sägewerk, (…) manchmal arbeitet ihr zusammen, um den gleichen Baum zu fällen. (…) Wäre es nicht sinnvoller die Schwarzen bei diesen Treffen mit einzubeziehen? Wenn das gegen das Gesetz ist, müsst ihr diesmal das Gesetz brechen!“

Das taten die Männer und traten gemeinsam der Gewerkschaft bei. Nach dem Zweiten Weltkrieg, in der McCarthy-Ära (1947-1957), folgte eine weitere erdrückende Phase der Verfolgung. Die Wobblies waren geschwächt, aber völlig zerschlagen wurden sie nie, was – und nun kommen wir wieder zur eigentlichen Biographie – an dem Engagement einiger weniger wie Sam und Esther Dolgoff lag. Sam, der bereits als Kind zu arbeiten begann, brauchte zunächst einmal seinen Malerpinsel, um den Lebensunterhalt für seine Familie zu verdienen. Und dann war da die Seifenkiste aus Holz, von der aus er, wie andere auch, unangemeldete Reden an Straßenecken abhielt. Zu seinen Freunden zählten der charismatische Ben Fletcher (1890 – 1949), der als Schwarzer bei einer solchen Rede einmal fast gelyncht wurde, und Carlo Tresca (1879 – 1943), der sich in den Gassen der Bronx mit Faschisten und Mafia anlegte und von letzterer ermordet wurde.

Sam Dolgoff fiel besonders durch seine Beharrlichkeit auf, er, seine Frau und seine Freunde gründeten ein halbes Dutzend Gruppen und Zeitschriften wie „Vanguard“. Zudem schrieb er als „Arbeiterintellektueller“ wegweisende Werke: „Die Illusion der Arbeiterpartei“ (erschienen 1961), „Bakunin über Anarchismus“ (1971) „Anarchistische Kollektive in der spanischen Revolution 1936–1939“ (1974), „Leuchtfeuer in der Karibik“ (1974) über Kuba oder seine fragmentarischen Erinnerungen, die er denn auch sinnigerweise „Fragmente“ (1986) nannte. Letztere werden mit „Links der Linken“ durch seinen Sohn erweitert.

In 71 Kapiteln, die sich meist auch gut einzeln lesen lassen, werden viele Weggefährt*innen vorgestellt, unter ihnen auch Exil-Anarchist*innen aus Spanien und Italien. Anatole Dolgoff verliert dabei nie den roten Faden, wobei er sich manchmal auch mit wunderbar schrägen Überleitungen zu helfen weiß: „Nachdem wir hier über Sozialismus, Anarchismus, die Wobblies, über Wanderarbeit, den bolschewistischen Verrat der Russischen Revolution, den Horror des Zweiten Weltkriegs gesprochen haben, kommen wir nun zum Sexualleben von Sam.“

Neben Eigenheiten seines Vaters wie zum Beispiel, dass er äußerst ungern Hemd und Schuhe trug, schildert Anatole Dolgoff auch dessen Alkoholsucht, die über viele Jahre das Leben der Familie überschattete, bis er sie mit etwa 50 in den Griff bekam.

1954 gründeten Sam und Esther Dolgoff gemeinsam mit Russel Blackwell die „Libertäre Liga“, die zwar nie über zwanzig Mitglieder hinauskam, jedoch der geschrumpften Bewegung über Jahre wichtige Impulse geben konnte. Blackwell hatte im Mai 1937 in Barcelona auf den Barrikaden gegen die Stalinisten gekämpft, der kurzsichtige Sam konnte von seinen Freunden 1936 gerade noch so abgehalten werden, ebenfalls in den Bürgerkrieg nach Spanien zu ziehen.

Klasse, dass der Autor auch versucht, den nicht gerade wenigen Anarchist*innen gerecht zu werden, deren Verhalten er persönlich seltsam oder gar abstoßend fand. Denn natürlich tauchen menschliche Unzulänglichkeiten in allen aktiven Gruppen auf. Wenn in „Links der Linken“ solche Konflikte geschildert werden, gibt uns das Hinweise, wie sie in Zukunft vielleicht besser gelöst werden können. Schließlich gibt es ja hierzulande ein Milieu mit dutzenden Gruppen der anarchosyndikalistischen Freien Arbeiter*innen Union (FAU) 
und der IWW, das dem der historischen Wobblies ähnelt.

Fazit

Gekonnt und spannend schildert Anatole Dolgoff, oft als direkter Augenzeuge, das vielschichtige und faszinierende Leben seiner Eltern und ihrer Genoss*innen der IWW. Immer wieder aufblitzender Humor, Wahrheitsliebe und schriftstellerisches Können machen „Links der Linken“ zu einer wahren Freude. Nur jemand mit tiefem Wissen, Einfühlungsvermögen und nicht zuletzt großer Liebe zu seinem Vater konnte dieses Buch schreiben.

Oliver Steinke

Anmerkungen:

1) https://www.wobblies.org/

2) IWW historical Project https://depts.washington.edu/iww/map_killed.shtml