Am 18. August 2020 haben Militärs in Mali den Präsidenten, den Premierminister und weitere führende Politiker festgenommen, die Regierung zum Rücktritt gezwungen und aus ihren Reihen ein „Nationales Komitee zur Rettung des Volkes“ gebildet, das die Regierungsgeschäfte übernahm. Ähnlich wie beim letzten Putsch 2012 stieß auch diese Machtübernahme der Militärs zunächst bei der Bevölkerung in der Hauptstadt Bamako auf große Zustimmung, denn die Unzufriedenheit mit der amtierenden Regierung unter Ibrahim Boubacar Keïta (IBK) war groß.
Neben allgemeiner Unfähigkeit und Korruption wurde ihr vor allem vorgeworfen, die Sicherheitslage nicht in den Griff zu bekommen, die sich in den letzten Jahren kontinuierlich und zuletzt auch im Süden, wo die Hauptstadt liegt, dramatisch verschlechtert hat.
Die Verantwortung hierfür trägt zumindest in Teilen auch das malische Militär. Im März 2012 hatte es geputscht, nachdem bewaffnete Tuareg-Gruppen mit Waffen aus dem Krieg in Libyen zurückgekehrt waren und das Militär und Vertreter*innen der Zentralregierung aus dem Norden Malis vertrieben. Dabei kam es zu heftiger Gewalt. Der Putsch in der Hauptstadt führte damals zur weiteren Destabilisierung: Die Tuareg im Norden riefen einen unabhängigen Staat aus, verloren jedoch vor allem in den Städten die Kontrolle an islamistische Gruppierungen. Die Hoffnung der Putschisten bestand im Wesentlichen darin, aus dem Ausland, insbesondere der EU, militärische Unterstützung zu erhalten, um den Norden „zurück zu erobern“ (s.u.).
Diese militärische Unterstützung dauerte zwar etwas länger, als erhofft, fiel dann aber umfangreich aus. Frankreich intervenierte Anfang 2013 mit mehreren tausend Soldaten aus den Nachbarstaaten Niger, Côte d‘Ivoire und Burkina Faso aus – allesamt ehemalige französische Kolonien, aus denen das französische Militär nie wirklich ganz abgezogen war. Deutschland und andere NATO-Staaten unterstützten daraufhin den Aufbau einer „Friedensmission“, indem sie in Windeseile tausende Soldaten aus anderen afrikanischen Staaten nach Mali einflogen. Recht schnell baute die EU in der Nähe von Bamako eine Trainingsmission (EUTM Mali) auf, die mittlerweile nach eigenen Angaben etwa 90% der malischen Armee fortgebildet hat und zu deren Aufgaben auch die Beratung des malischen Verteidigungsministeriums zählt. Außerdem ist Mali seit 2016 Schwerpunkt der sogenannten „Ertüchtigungsinitiative“ der deutschen Bundesregierung, mit der in Drittstaaten militärische Infrastruktur aufgebaut und deren Streitkräften kostenlos Rüstungsgüter zur Verfügung gestellt werden. Weitere EU- und NATO-Staaten und sogar Russland unterhalten ähnliche bilaterale Programme, Frankreich und die USA sind in der Region aktiv an der Bekämpfung von Terrorismus beteiligt – unterstützt von Drohnen, Kampfhubschraubern und -Flugzeugen.
Das hat natürlich nichts zur Verbesserung der Lage beigetragen. Die vierteljärlichen Berichte des UN-Generalsekretärs enthalten seit Jahren wiederkehrend gleichlautende Formulierungen zur Sicherheitslage, wonach sich diese „im Berichtszeitraum entschieden/deutlich/dramatisch verschlechtert“ habe. Dazu beigetragen hat auch, dass die malischen „Sicherheits- und Verteidigungskräfte“ nicht nur in der Anfangsphase der französischen Intervention oft Bevölkerungsgruppen im Zentrum und Norden des Landes pauschal der Kollaboration mit den Islamisten verdächtigt und ihrerseits Massaker angerichtet, Menschen verschleppt und gefoltert haben. Diese Gruppen haben sich daraufhin entweder zum Schutz, oder um „Vergeltung“ zu üben, ihrerseits bewaffnet. Die Islamisten nutzen und eskalierend diese Konflikte geschickt und rekrutieren dabei immer mehr Anhänger*innen.
Diese Militarisierung und ihre Folgen bleiben derweil längst nicht auf Mali beschränkt. Frankreich hat den Barkhane-Einsatz in Mali auf die Länder Mauretanien, Niger, Burkina Faso und Tschad ausgedehnt. Neben Frankreich und den USA stützt z.B. auch Deutschland seine militärischen Aktivitäten auf die Nachbarländer ab. Die USA errichten aktuell ihre dritte Drohnenbasis in Niger, Frankreich und Deutschland unterhalten bei der dortigen Hauptstadt Niamey einen gemeinsamen Luftwaffenstützpunkt – Frankreich im Rahmen seiner Mission Barkhane zur Terrorbekämpfung, Deutschland im Rahmen der UN-“Friedensmission“ MINUSMA. Beide essen in der gleichen Kantine und nutzen die gleichen Kapazitäten zur medizinischen Versorgung. Auch Kampfschwimmer der Bundesmarine sind im Niger, um dort Spezialeinheiten auszubilden. Im März weitete zunächst die EU, später auch der Bundestag das Mandat der EU-Trainingsmission aus. Die Soldat*innen u.a. der Bundeswehr sollen zukünftig auch in den sogenannten G5-Staaten (außer Mali Mauretanien, Niger, Burkina Faso und Tschad) Kräfte einer gemeinsamen Eingreiftruppe (Force Conjointe G5 Sahel) ausbilden – teilweise bis auf die „taktische Ebene“, also in unmittelbarer Nähe zum Kampfgeschehen.
Die Vielfalt internationaler Militärinterventionen überzieht die Region mit einer kaum vorstellbaren militärischen Logistik. Wo auch immer z.B. deutsche Soldat*innen zum Einsatz kommen, muss eine sogenannte „Rettungskette“ gewährleistet sein, welche Verwundete zunächst mit dem Hubschrauber schnell ins nächste Feldlazarett, von dort gegebenenfalls nach Niamey und von dort wiederum nach Deutschland bringen kann. Diese ganze Logistik sorgt für eine große Sichtbarkeit der internationalen Truppen, die einerseits falsche Erwartungen weckt: So viele bewaffnete Kräfte müssten doch eigentlich für Sicherheit und Ordnung sorgen können – was sie natürlich nicht können.
Auf der anderen Seite ruft die privilegierte Anwesenheit der Militärs auch Unmut hervor. Zuletzt bietet die ausgedehnte militärische Logistik eine Vielzahl von Angriffspunkten für verschiedene bewaffnete Gruppen. Als 2016 der erste Angriff auf das Hauptquartier der EUTM in Bamako erfolgte, galt die Hauptstadt noch als ziemlich sicher. Bei solchen Attacken sterben vor allem die schlechter ausgerüsteten und geschützten afrikanischen Kräfte, während die Bundeswehr – 1.100 Kräfte sind für MINUSMA und 450 für EUTM mandatiert – neben der Ausbildung relativ gut geschützt Funktionen wie die Aufklärung mittels Drohnen und das militärische Nachrichtenwesen übernimmt.
Der aktuelle Putsch wurde von Beobachter*innen als gut vorbereitet, „ruhig und geordnet“ beschrieben. Der Vertreter der Friedrich-Ebert-Stiftung in Bamako, Christian Klatt, ließ sich gar zu der Einschätzung hinreißen: „Ich denke, da spürt man schon auch den Einfluss der Trainings, welche das malische Militär mit internationaler Unterstützung durchläuft“. Tatsächlich wurden auch die führenden Köpfe der Junta fast ausnahmslos in oder von den USA, Frankreich, Deutschland und auch Russland ausgebildet – ihr Anführer, Assimi Goita, hat vor dem Putsch eng mit den US-Kräften bei der Terrorbekämpfung in Mali zusammengearbeitet, davor war er 2008 und 2016 mehrfach zur Fortbildung bei der Bundeswehr in Deutschland und hat dort auch deutsch gelernt. Im Militärlager Kati, wo der Putsch seinen Ausgang nahm, fanden zu diesem Zeitpunkt Maßnahmen im Rahmen der Ertüchtigungsinitiative statt: Die Modernisierung eines Munitionsdepots, der Aufbau eines Zentrallagers und einer Werkstatt. Erst am 16. Juli 2020 waren hier von Deutschland laut ZDF „den malischen Streitkräften in Kati 29 gepanzerte Fahrzeuge vom Typ ‚Casspir‘, Tausende Schutzwesten und Helme“ übergeben worden.
Es erscheint erklärungsbedürftig, dass ranghohe malische Militärs unter den Augen tausender internationaler Streitkräfte einen Putsch vorbereiten und ausführen konnten, ohne dass die Oberkommandos in Paris, Potsdam und Stuttgart (US-AfriCom) hiervon irgendetwas mitbekommen haben. Wenn es so war, dann unterstreicht es, wie unkontrolliert die Aufrüstung der Region erfolgt. Denkbar ist auch, dass die Anzeichen wahrgenommen, aber nicht reagiert wurde. Wie auch: hätte z.B. die Bundeswehr gegen die malische Armee intervenieren sollen, um eine ungeliebte Regierung an der Macht zu halten und was für eine Auswirkung hätte dies auf die Akzeptanz der Präsenz der internationalen Truppen gehabt, die längst eine Art Selbstzweck geworden ist?
Nachdem der Putsch international zunächst einhellig verurteilt wurde, hat es nur eine Woche gedauert, bis sich die Staats- und Regierungschefs der EU darauf festgelegt hatten, trotzdem im Land zu bleiben und die Ausbildung der malischen Truppen – die aktuell coronabedingt ohnehin auf Sparflamme läuft und sich wegen des neuen, robusteren Mandats in einer Phase der Umstrukturierung befindet – so schnell wie möglich wieder aufzunehmen. Zu jenem Zeitpunkt hieß es noch, dass die Junta drei Jahre an der Macht bleiben wolle. Mittlerweile hat sie angekündigt, dass sie eine Übergangsregierung bilden und innerhalb von 18 Monaten Wahlen vorbereiten wolle. Bereits in ihrer ersten Stellungnahme hatten die Putschisten jedoch angekündigt, weiter mit den internationalen Truppen – einschließlich der in der zivilen Opposition zunehmend verhassten Barkhane-Mission – zusammen arbeiten zu wollen. Unter diesen Umständen macht es für Frankreich, Deutschland und EU offenbar keinen großen Unterschied oder hat es sogar Vorteile, mit einer halbwegs stabilen Putschregierung statt einer ungeliebten zivilen Regierung zusammen zu arbeiten. Die öffentliche Kritik daran, dass Frankreich unter einer Putschregierung den Terror bekämpft und die EU deren Militär ausbildet und aufrüstet, fällt bisher eher verhalten aus (vgl. GWR 451). Stattdessen wurde gerade in Deutschland auch von linker Seite mit Verweis auf den Jubel in Bamako Kritik daran geübt, dass der Putsch zunächst verurteilt wurde – auch wenn es sich dabei schlicht um ein Lippenbekenntnis zur Einhaltung internationaler Sprachregelungen gehandelt hat.
Was aber bedeutet der Putsch für Mali?
Dass eine zweite Machtübernahme des Militärs innerhalb von acht Jahren zur „Stabilisierung“ beiträgt, scheint bereits auf abstrakter Ebene unwahrscheinlich. Dass die Sicherheitslage sich weiter verschlechtert, ist denkbar, auch wenn man sich das kaum vorstellen mag. Ob der Putsch tatsächlich eine Zäsur darstellt, wird sich zeigen.
Die Eskalation im Mali der letzten zehn Jahre hat viel damit zu tun, einen Staat nach europäischem Vorbild schaffen zu wollen. Bei vierfacher Fläche Deutschlands weist Mali nur etwa ein Viertel der Bevölkerung und ein Hundertstel des Bruttoinlandsproduktes auf. Eine flächendeckende Präsenz des Staates etwa durch „Sicherheitskräfte“ ist hier nur durch hoch mobile, militarisierte Einheiten möglich, deren Kosten sicherlich den Staatshaushalt um ein Vielfaches übersteigen würden – oder durch „internationale Partner“, die letztlich ihre eigenen Interessen verfolgen. Und trotzdem laufen die Versuche zur „Stabilsierung“ bereits seit über zehn Jahren stets auf eine verstärkte Zentralisierung, eine intensivere Kontrolle der Peripherie durch das politische Zentrum in Bamako hinaus.
Auch die Zivilbevölkerung der Hauptstadt unterstützt in weiten Teilen die „Rückeroberung des Nordens“, obwohl sich dieser nie wirklich unter der Kontrolle des postkolonialen Staates oder der vorangegangenen Kolonialmacht befand. Nötig wäre stattdessen eine Dezentralisierung und die Herausbildung eines Gemeinwesens, das mehr durch Wohlfahrt, Gesundheit, Bildung etc. in Erscheinung tritt. Ob das ausschließlich aus Militärs, Männern, bestehende „Nationale Komitee zur Rettung des Volkes“ dieses Umdenken voranbringt, kann bezweifelt werden. Ob dies den Interessen der „Internationalen Partner“ – im Falle der EU v.a. Migrationskontrolle und ungehinderter Rohstoffzugang – entgegenkommt, ebenso.
Christoph Marischka ist Mitarbeiter und Referent der Informationsstelle Militarisierung (IMI Tübingen)
Dies ist ein Beitrag aus der aktuellen Druckausgabe der GWR. Schnupperabos zum Kennenlernen gibt es hier.