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Vorwort zur „Antologija Anarhizma“

Vorabdruck aus Noam Chomsky: „Über Anarchismus. Beiträge aus vier Jahrzehnten“

| Noam Chomsky

Voraussichtlich im Dezember 2020 erscheint im Verlag Graswurzelrevolution in Heidelberg das Buch von Noam Chomsky: „Über Anarchismus. Beiträge aus vier Jahrzehnten. Ausgewählt, übersetzt und kommentiert von Rainer Barbey“ ca. 270 Seiten, 17,90 Euro, ISBN 978-3-939045-42-7. Der folgende Text erschien ursprünglich als Vorwort zur zweibändigen, von Rudolf Rizmann herausgegebenen Antologija anarhizma. Knjizica revolucionarne teorije (Ljubljana 1986). Im neuen Buch bildet er Kapitel 6. Für diesen Vorabdruck wurde er vom Übersetzer stark gekürzt. (GWR-Red.)

Der anarchosyndikalistische Denker Rudolf Rocker beschrieb den modernen Anarchismus als das Zusammentreffen der „zwei große[n] Strömungen …, die vor und nach der Französischen Revolution einen sehr großen Ausdruck im geistigen Leben Europas gefunden haben: Sozialismus und Liberalismus“. Dementsprechend gingen die konstruktivsten Elemente des modernen Anarchismus, sowohl in der Theorie als auch in der Praxis, aus einer Kritik des liberalen Kapitalismus und aus anderen Tendenzen hervor, die sich selbst als sozialistisch beschreiben.

Die liberalen Ideale der Aufklärung konnten in der entstehenden kapitalistischen Ordnung nur auf sehr partielle und eingeschränkte Weise verwirklicht werden: „Demokratie mit ihrem Motto der ‚Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz’, und der Liberalismus mit seinem ‚Recht des Menschen auf seine Person’ scheiterten beide an den Realitäten der kapitalistischen Wirtschaft“, stellte Rocker zutreffend fest. Denjenigen, die gezwungen sind, sich an die Kapitalbesitzer zu verkaufen, um zu überleben, wird eines der wichtigsten Grundrechte geraubt: das Recht auf produktive, schöpferische und erfüllende Arbeit, selbstbestimmt und in Solidarität mit anderen. Und unter den ideologischen Zwängen der kapitalistischen Demokratie ist es oberstes Gebot, die Bedürfnisse jener zu befriedigen, die in der Position sind, über Investitionen zu entscheiden; wenn deren Forderungen nicht erfüllt werden, wird es keine Produktion, keine Arbeit, keine Sozialleistungen, keine Überlebensgrundlage geben. Notgedrungen stellen alle sich selbst und ihre Interessen zugunsten des vorrangigen Bedürfnisses zurück, den Interessen der Eigentümer und Führungskräfte in der Gesellschaft zu dienen, die darüber hinaus aufgrund ihrer wirtschaftlichen Möglichkeiten ohne weiteres in der Lage sind, das ideologische System (die Medien, Schulen, Universitäten und so weiter) in ihrem Interesse zu formen, die Rahmenbedingungen des politischen Geschehens, seine Parameter und Grundsatzprogramme zu bestimmen und bei Bedarf über die Mittel staatlicher Gewalt zu verfügen, um jeglichen Angriff auf die etablierten Mächte zu unterbinden. In den Anfängen der liberaldemokratischen Revolutionen wurde dies durch John Jay, den Präsidenten des Kontinentalkongresses und ersten Obersten Richter des Obersten Gerichtshofes der Vereinigten Staaten, prägnant auf den Punkt gebracht: „Die Menschen, denen das Land gehört, sollten es regieren“. Und dies tun sie selbstverständlich auch, egal welche politische Fraktion jeweils an der Macht sein mag. Die Dinge könnten kaum anders sein, wenn sich wirtschaftliche Macht auf engstem Raum konzentriert und die wesentlichen Entscheidungen über die Lebensqualität, die Investitionsentscheidungen, grundsätzlich der demokratischen Kontrolle entzogen sind.

Ebenso kann das Prinzip der Gleichheit vor dem Gesetz in der kapitalistischen Demokratie nur teilweise verwirklicht werden. Rechtsstaatlichkeit existiert in unterschiedlichen Abstufungen, aber allzu oft wird Freiheit im wirklichen Betrieb wie alles andere in einer kapitalistischen Gesellschaft zu einer Art Ware: Man bekommt soviel, wie man sich leisten kann. In einer reichen Gesellschaft kann ein Großteil der Bevölkerung Freiheit in einer nicht unerheblichen Menge erwerben, aber für diejenigen, denen die wirtschaftlichen Mittel fehlen, sie in Anspruch zu nehmen, haben die formalen Rechtsgarantien wenig Bedeutung.

Im Allgemeinen können die Ideale der Aufklärung nur auf eine Art und Weise verwirklicht werden, die ein schwacher Abglanz ihrer humanen Bedeutung ist. Der Begriff „kapitalistische Demokratie“ ist eigentlich ein Widerspruch in sich, wenn wir unter „Demokratie“ ein System verstehen, in dem einfache Bürger die Mittel besitzen, tatsächlich an den Entscheidungen mitzuwirken, die ihr Leben bestimmen und ihre Gemeinden betreffen.

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Eine große Errungenschaft des 18. Jahrhunderts war es, die Idee und teilweise sogar die Grundformen der politischen Demokratie zu konzipieren, die den Schutz der Persönlichkeitsrechte gegen autoritäre Herrschaft miteinschließen. Aber es bleibt ein unerreichtes Ziel, die Demokratie über den eng umgrenzten Schauplatz hinaus, in dem sie halbwegs funktioniert, auf alle Bereiche des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens auszudehnen, mit echter Kontrolle der Produzenten über Produktion und Investitionen und der Beseitigung von Hierarchien und Herrschaftsstrukturen innerhalb des Staatswesens, der Privatwirtschaft und weiter Teile des gesellschaftlichen Lebens. In den meisten Ländern der Welt wurden die revolutionären Ideen des 18. Jahrhundert noch nicht verwirklicht, ganz zu schweigen von der Überwindung von Not, Hunger und Versklavung durch einheimische oder ausländische Mächte. Konstruktive Anstrengungen, Elend und Unterdrückung zu überwinden, werden naturgemäß von denjenigen blockiert, die von deren Fortbestehen profitieren, die nicht endende Tragödie der Moderne. Die Grundsätze des wahren Sozialismus bleiben eine Vision und ein großes Ziel für zukünftige Kämpfe. Um sie anzugehen oder auch nur die Probleme zu verstehen, die angesprochen werden müssen, muss man in der Lage sein, sich aus einem Netz aus Lüge und Entstellung zu befreien, in dem der Gebrauch des Begriffs „Sozialismus“ zur Bezeichnung eines Systems, das seinen Grundprinzipien eine energische Absage erteilt, nur einen wichtigen Baustein darstellt.

Die Tradition anarchistischer Ideen und, mehr noch, der inspirierenden Kämpfe der Menschen, die sich von Herrschaft und Unterdrückung zu befreien suchten, muss bewahrt und erhalten werden, nicht um Gedanken und Vorstellungen in neuer Form einzufrieren, sondern als Basis für das Verständnis der gesellschaftlichen Wirklichkeit und das Engagement, sie zu verändern. Es gibt keinen Grund anzunehmen, dass die Geschichte an ein Ende gekommen ist, dass die autoritären Herrschaftsstrukturen der Gegenwart in Stein gemeißelt sind. Auch wäre es ein großer Fehler, die Stärke der gesellschaftlichen Kräfte zu unterschätzen, die für den Erhalt von Macht und Privilegien kämpfen werden.

Die heutige Wissenschaft ist weit davon entfernt, diesen Sachverhalt beweisen zu können, aber wir können nur hoffen, dass Bakunins „Freiheitsinstinkt“ wirklich ein zentraler Bestandteil der menschlichen Natur ist, und zwar einer, der nicht lange von autoritären Glaubenslehren und der durch sie verursachten Hoffnungslosigkeit, von den Machtverhältnissen und den durch sie angerichteten Verheerungen unter Wasser gehalten und beherrscht werden kann.