Bea Davies, Patrick Spät: Der König der Vagabunden. Gregor Gog und seine Bruderschaft avant-verlag, Berlin 2019 160 Seiten, 25 Euro ISBN 978-3-96445-015-9
Seit den 1980ern werden erzählerisch und künstlerisch vielschichtige Erwachsenen-Comics im aufwendig gemachten Buchformat als Graphic Novel bezeichnet. Dieser Fachbegriff ist umstritten. Er „stellt den Versuch dar, längere und häufig als thematisch anspruchsvoll beworbene Comics von herkömmlichen westlichen Comicheften und -alben abzugrenzen“, heißt es auf Wikipedia.
Tatsächlich lassen sich grafische Romane nur schwer unter dem Begriff Comic fassen. Das gilt nicht nur für „Der nasse Fisch“, die auf Grundlage des gleichnamigen Romans des Autors Volker Kutscher von Arne Jysch gezeichnete und 2016 bei Carlsen veröffentlichte Graphic Novel. Es gilt ebenso für das 2013 bei Edition Moderne erschienene, bedeutende Anti-Kriegs-Buch „Grabenkrieg“ des französischen Anarchisten Tardi, und für das im Verlag Graswurzelrevolution 2012 herausgegebene Werk Robert Kriegs und Daniel Daemgens „…und über uns kein Himmel“, in dem exemplarisch die erschütternde Odyssee eines Jungen durch Heime der öffentlichen Fürsorge ab 1936 erzählt wird.
Meine persönliche Lieblings-Graphic-Novel ist „B. Traven – Portrait eines Unbekannten“ von Golo, die die spannende Geschichte des unter dem Pseudonym B. Traven bekannt gewordenen Anarchisten Ret Marut nachzeichnet und 2007 im avant-verlag herausgekommen ist. Eben dort ist zur Frankfurter Buchmesse 2019 auch „Der König der Vagabunden“ erschienen. In diesem von Patrick Spät geschriebenen und von Bea Davies gezeichneten Prachtband wird die Geschichte des Anarchisten Gregor Gog und seiner Bruderschaft spannend und mit großartigen Zeichnungen erzählt.
Gog, geboren am 7. November 1891, heuerte 1910 als Matrose an und kam schon bald in Kontakt mit anarchistischen Schriften von Leo Tolstoi, Michail Bakunin, Pjotr Kropotkin und Gustav Landauer. Nach drei Weltkriegsjahren meuterte er 1917 und wurde inhaftiert. 1918 beteiligte Gog sich am Matrosenaufstand und gründete im November zusammen mit anderen Anarchist*innen die „Kommune am grünen Weg“ in Bad Urbach bei Stuttgart. Diese lebensreformerisch-anarchistische Kommune entwickelte sich zu einem Treffpunkt von Nonkonformist*innen. Zu ihren Gästen gehörte auch der 1934 von den Nazis ermordete Anarchist Erich Mühsam, der schon ab 1909 versucht hatte, das von Bürgern und Marxisten gleichermaßen verachtete „Lumpenproletariat“ für die Idee der herrschaftslosen Gesellschaft zu begeistern.
Gogs Lebensgeschichte wird im Nachwort auf Seite 146 ff. genauer erzählt als im graphischen Teil des Buches. Schade ist, dass beispielsweise Zeichnungen zur Reise fehlen, die die Familie Gog 1924 nach Brasilien machte, um dort nach dem Vorbild des anarcho-pazifistischen Schriftstellers Tolstoi eine Siedlung zu gründen.
Gog wurde Herausgeber und Redakteur der im Frühjahr 1927 gegründeten, legendären Zeitschrift „Der Kunde“. Der Name dieses anarchistischen, pazifistischen und antifaschistischen Organs beruht auf der rotwelschen Bezeichnung für „wandernder Handwerksbursche, Bettler, Landstreicher“. Diese etwa viermal im Jahr mit einer Auflage von 1000 erschienene, von Hand zu Hand weitergereichte „Zeit- und Streitschrift der Vagabunden“ (Untertitel) war die erste Straßenzeitung Europas und verstand sich als Sprachrohr der „Bruderschaft der Vagabunden“.
Mitte der 1920er Jahre waren rund 70.000 Vagabunden in Deutschland unterwegs. „Etwa ein Fünftel von ihnen tippelte freiwillig – aus Abenteuerlust oder um der bürgerlichen Gesellschaft zu entfliehen“, heißt es auf Seite 48. Die Zahl der Obdachlosen stieg bedingt durch die Weltwirtschaftskrise bis 1933 auf über 500.000 an. Die maßgeblich durch Gog und den „Kunden“ inspirierte Bruderschaft der Vagabunden war antifaschistisch, anarchistisch und pazifistisch. Sie propagierte die gegenseitige Hilfe und betrachtete alle Menschen – unabhängig von Herkunft, Hautfarbe oder sexueller Orientierung – als ihre Schwestern und Brüder. „Sie solidarisierten sich mit Homosexuellen und ‚Zigeunern‘ und lehnten Kriege ebenso rigoros ab wie Staatsgrenzen und autoritäre Hierarchien.“ (S. 149)
Gregor Gogs Versuche, die Tippelschwestern und -brüder mit Hilfe des „Kunden“ anarchosyndikalistisch zu agitieren und zu organisieren fand 1929 einen Höhepunkt. Zu Pfingsten 1929 mobilisierte er erfolgreich mit Hilfe seiner Zeitschrift viele Obdachlose zum ersten Internationalen Vagabundenkongress nach Stuttgart. Allen Straßensperren, Polizeischikanen und der Hetze in den rechten Massenmedien zum Trotz fand der Kongress statt und wurde ein Symbol für eine selbstorganisierte, freiheitlich-sozialistische Vagabundenbewegung. Gog rief den „Generalstreik ein Leben lang“ aus und erlangte als Bürgerschreck und „König der Vagabunden“ Bekanntheit in ganz Deutschland. Schwer nachvollziehbar bleibt auch nach Lektüre des Buches, warum er sich nach einer Reise nach Moskau ab 1930 zum autoritären Marxisten wandelte.
Kurz nach der Machtergreifung der Nazis 1933 beschlagnahmte die Gestapo das Archiv der Bruderschaft. Gog saß mehr als sieben Monate im KZ und wurde gefoltert, bevor er im Dezember 1933 über den zugefrorenen Bodensee in die Schweiz fliehen konnte und bald darauf über die Niederlande mit dem russischen Schiff Oka in die Sowjetunion emigrierte, wo er am 7. Oktober 1945 starb.
Der Zeichnerin Bea Davies und dem Autor Patrick Spät ist es mit „Der König der Vagabunden“ anschaulich gelungen, das abenteuerliche, durch Armut und Hoffnung auf eine freiheitlich-sozialistische Gesellschaft geprägte Leben des wenig bekannten Gregor Gog zugänglich zu machen. Sie haben ein Stück antifaschistische Geschichte von unten geschrieben und gezeichnet.
In der NS-Zeit saßen tausende Vagabunden stigmatisiert als „Asoziale“ in den KZs. Und heute? Im September 2020 warnte Möchtegernkanzlerkandidat Friedrich Merz davor, dass sich die Deutschen in der Corona-Krise an ein Leben ohne Arbeit gewöhnen könnten und wetterte somit kaum verklausuliert gegen „Arbeitsscheue“. Heute ist Gewalt gegen Obdachlose alltäglich und Neonazis machen sich einen Spaß daraus schlafende „Penner“ anzuzünden. Um so wichtiger ist es, der zunehmenden gesellschaftlichen Kälte und Menschenfeindlichkeit etwas entgegenzusetzen. Dieses warmherzige Buch sorgt für Empathie. Es sollte gerade auch jungen Menschen in die Hand gedrückt werden. Für mich einer der besten Erwachsenen-Comics des 21. Jahrhunderts. Mitfühlend. Mitreißend! Begeisternd! Anarchistisch.
Bernd Drücke
Anmerkung:
Zum Thema Vagabunden und Gog siehe auch die Rezension von Jochen Knoblauch auf dieser Seite und die GWR-Artikel auf graswurzel.net: https://www.graswurzel.net/gwr/2005/01/der-freiheit-nach-dem-hunger-davon/ und https://www.graswurzel.net/gwr/2010/06/das-traurig-in-der-zelle-gepfiffne-lustige-lied/