Peter Samol: Die Leistungsdiktatur. Wie der Konkurrenzdruck unser Leben zur Hölle macht.Black Books, Schmetterling Verlag, Stuttgart 2021, 231 Seiten, 16,80 Euro, ISBN 3-89657-196-6
Peter Samol hat als Leistungsdiktatur ein Phänomen beschrieben, das das Leben in den hochindustrialisierten Ländern so sehr beherrscht, dass es inzwischen schon zum Mythos und somit unsichtbar geworden ist. Samol verfolgt in seinem Buch unter diesem Aspekt das Leben der durchschnittlichen Deutschen von der Wiege bis zur Bahre. Seine Darstellung der fortdauernden Konkurrenzsituation ist bedrückend, sie hebt manches ans Licht, was viele Menschen hinnehmen, ohne es zu hinterfragen. Dazu gehört das sattsam bekannte Thema des Wettbewerbs unter Eltern bei der Entwicklung ihrer kleinen Kinder. Für die Schulzeit ist das besonders die Notengebung nach dem Schema der sogenannten Gaußschen Normalverteilung. „Im Bildungssystem wird diese Verteilung missbräuchlich angewendet, indem sein Verteilungsschema als Ziel gesetzt wird, dass erreicht werden muss.“ Es wird also nie die objektive Leistung gemessen, sondern immer nur der Vergleich zwischen den Schülern und Schülerinnen einer einzigen Klasse angestellt, wodurch diese in eine fortdauernde Konkurrenz gezwungen werden. Diese Denkungsart setzt sich in Universität und Arbeitswelt fort, wenn dort etwa Ranglisten am Schwarzen Brett veröffentlicht werden. Durch eine immer weiter sich steigernde Arbeitsverdichtung wird den Mitarbeitenden das Letzte abgezwungen bis hin zum Zusammenbruch. Die Drohung des Rausschmisses schwebt über allen, auch den Erfolgreichen. Wer aber einmal raus ist, fällt schnell in die Sozialhilfe, sprich Hartz IV, und muss sich von ihrerseits unterbezahlten und überlasteten Mitarbeiter*innen des Jobcenters runterputzen lassen. Aber die meisten derjenigen, die es bis zum Ende der verordneten Arbeitszeit im Alter von 67 Jahren durchhhalten, haben inzwischen nur noch eine minimale Rente zu erwarten: Menschen, die nichts mehr leisten, zählen nicht.
Samol wirft ein grelles Licht auf verschiedene Erscheinungsformen unserer Gesellschaft, wie etwa die Castingshows: Er stellt Leute wie Dieter Bohlen oder Heidi Klum als Charaktermasken dar, die ihr zynisches Spiel nur spielen können, weil der Sender es so will. Wertvoll und informativ sind u. a. der Exkurs über die Entstehung des dreigliedrigen Schulsystems in Deutschland und Österreich (S. 31), die Darstellung der Gründe für die Einführung des TvÖD (Tarifvertrag Öffentlicher Dienst, S. 78) sowie das Kapitel „Die Demontage der gesetzlichen Rentenversicherung“ (S. 173). Dagegen ist das Hartz IV-Kapitel etwas zu lang und detailreich geraten.
Der Autor, der den sogenannten Wertkritikern nahesteht, einer Gruppe von Marx inspirierter Wissenschaftler (es ist keine Frau dabei), nutzt deren analytische Werkzeuge eigentlich nicht, er bleibt im Allgemeinen bei einer Beschreibung der Phänomene. Es scheint, dass er die marxistischen Deutungen inzwischen als hohl empfindet. Nur ganz kurz widmet er im Schlusskapitel dem Leistungsbegriff einige Sätze, in denen er darlegt, dass dieser Begriff inhaltslos ist und auf einem Zirkelschluss beruht.
In einem Punkt ähnelt sein Buch aber dann doch dem 1. Band des „Kapital“ von Karl Marx: Am Ende beider Bücher hat man den Eindruck, dass die Unterdrückung derartig systematisch und umfassend funktioniert, dass sie keinerlei Schlupfloch mehr lässt. Ist die Lage wirklich so hoffnunglos?
Zu den Ursachen für die deprimierende Lage könnte neben der allfälligen Reflexion auf die Mechanismen des Kapitalismus beispielsweise dargelegt werden, wie die deutsche Wirtschaft durch die systematische Senkung der Löhne die von Samol beschriebene Konkurrenzsituation auf die internationale Ebene verlagert hat: Frankreich und andere Länder sind nur deshalb „nicht mehr konkurrenzfähig“, weil Deutschland sich durch die Knechtung der eigenen Arbeiterschaft alle Vorteile gesichert hat. Gefährlich ist die weltweite Hinneigung weiter Teile der Bevölkerung zum faschistoiden Denken aufgrund der erfahrenen Perspektivlosigkeit. Dabei fragt man sich nach einem wichtigen Aspekt, nämlich dem des Widerstandes. Gibt es noch Kräfte, die dem Druck zur Selbstoptimierung widerstehen, Leistungsverweigerer, die arbeiten wollen, um zu leben, statt dass sie leben, um zu arbeiten? Erinnert werden soll an Initiativen der Selbstorganisierung, nicht nur bei Hausbesetzungen. (1) Erinnert werden soll auch an Bewegungen kollektiven Widerstands gegen die Sanktionen von Jobcentern in verschiedenen Städten, die durchaus Erfolge zeitigten und bewiesen, dass die betreffenden Behörden eine große Angst vor der Veröffentlichung ihrer menschenunwürdigen Praktiken haben. Nicht zuletzt gehört zur Kultur des Widerstandes die Punk- und Rapmusik oder die Belletristik, in der sarkastisch oder in Dystopien die Zwangslage der Arbeitslosen angesprochen wird. (2) Alle diese Fragen fordern eigentlich einen zweiten Band heraus, in dem über Ursachen und die weitere Entwicklung nachgedacht werden müsste.
(1) Vgl. das Buch: Alles verändert sich, wenn wir es verändern. Die Offene Arbeit Erfurt im Wandel der Zeiten (1979-2014), Verlag Graswurzelrevolution, Heidelberg 2014.
(2) Genannt seien hier nur aus der ersten Zeit nach der Einführung von Hartz IV: Thomas von Steinäcker: Das Jahr, in dem ich aufhörte mir Sorgen zu machen und anfing zu träumen. S. Fischer 2012. - Thomas Mahler: In der Schlange. Mein Jahr auf Hartz 4. Goldmann Verlag, München 2011. - Anna Weidenholzer: Der Winter tut den Fischen gut. Residenz Verlag, St. Pölten – Salzburg – Wien, 3. Aufl. 2012.