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(Gar) keine Politik ist auch keine Lösung

Eine Anregung zur Diskussion über Anarchismus, Parlamentarismus und Wahlen

| Emilian Schottenau, Peter Seyferth

Beitragpolitik
Fotos: Jürgen Matern, CC BY-SA 3.0 , via Wikimedia Commons, Linuxerist, Froztbyte, Arcy, Public domain, via Wikimedia Commons, Montage: graswurzel.net

Vor einiger Zeit diskutierten der Politikwissenschaftler Peter Seyferth aus München und Emilian Schottenau, Student und ehemals in der linksjugend-[´solid] organisiert, über die Staatsfrage im Anarchismus. Ausgangspunkt dazu war der von Emilian erschienene Artikel „Die Krise des Antiparlamentarismus“ im „Untergrundblättle“ vom 6.9.2018. Davon ausgehend beschlossen sie, zusammen einen dialogischen Artikel zu veröffentlichen. Die folgenden Gedanken sollen keine ausgearbeitete Theorie darstellen, sondern nur Ausgangspunkt für eine mögliche Diskussion sein.

Emilian: Der gegenwärtige Rechtsruck scheint nicht nur die bürgerliche Mitte in eine Krise zu treiben, sondern auch die schärfsten Feinde des Parlamentarismus zur Verzweiflung zu bringen: nicht wenige Anarchist*innen entschieden sich dazu, ihre Souveränität plötzlich auf den Wahlzettel zu übertragen, um wenigstens das Schlimmste zu verhindern. Nun haben in den letzten Jahren einige anarchistische Theoretiker*innen eingeräumt, dass es durchaus sinnvoll sein kann, an den Staat Forderungen, auch nach Reformen, zu stellen. Andere wiederum lehnen jegliche Politik, die an den Staat gerichtet ist, noch immer mit verelendungstheoretischen Argumenten ab: Jegliche Verbesserung der Lebensumstände stabilisiere letztlich nur die politische Herrschaft, egal ob durch ein Grundeinkommen oder höhere Mindestlöhne. In einem Punkt sind sich aber quasi alle Anarchist*innen nach wie vor einig: Forderungen zu stellen ist die eine Sache, was aber ein Tabu bleiben muss, ist die aktive Einbringung im Staat selbst.

Wenn wir anfangen, unser Verhältnis zum Staat pragmatisch zu sehen, können wir gewinnen und verlieren.

Doch lassen wir uns einmal auf ein Gedankenspiel ein: Nehmen wir an, die Mitglieder der deutschen Linkspartei nähmen die Thesen des Anarchismus beim Wort und entschieden sich, in einem nie dagewesenen Akt geistiger Erleuchtung plötzlich, die gesamte Partei aufzulösen und sich den libertären Ortsgruppen anzuschließen. Was würde passieren? Werfen wir dazu einen Blick nach Italien. Dort verzeichnete 2013 die 5-Sterne-Bewegung ihren ersten Triumph. Die Partei, die anfangs als linkspopulistischer Akteur gefeiert wurde und mittlerweile offen als „Querfront“ bezeichnet wird, konnte ihre Stärke nur dadurch gewinnen, weil die parlamentarische Linke vor dem Wahlantritt 2013 praktisch zerschmettert war. Sind die linken Parteien also zu schwach, entsteht eine Lücke im parlamentarischen System, die Einfallstor für regressive Kräfte zu werden droht. Es wäre sehr wahrscheinlich, dass im Falle der Auflösung der deutschen Linkspartei sich eine Gruppe bürgerlicher Linker finden würde, die die entstandene Lücke nicht akzeptieren und schlichtweg eine neue Partei gründen würden – nur diesmal unter noch affirmativeren Vorzeichen. Um solche Szenarien zu vermeiden, halte ich es mit dem Marxisten Nicos Poulantzas: was wir brauchen ist eine Doppelstrategie, eine Gleichzeitigkeit von Bewegung und progressiven Parteien.

Peter: Wenn wir anfangen, unser Verhältnis zum Staat pragmatisch zu sehen, können wir gewinnen und verlieren. Wer ist denn, historisch gesehen, der effektivste Staatszerstörer? Das ist der Staat selbst. Anarchist_innen, die den Staat zerstören wollen, um in seinen Ruinen etwas Besseres aufzubauen, sollten sich daher nüchtern überlegen, welches Werkzeug sich am ehesten dazu eignen würde. So haben z.B. Anarchisten wie Proudhon, Bakunin und Kropotkin bei Gelegenheit gefordert, mit dem existierenden Staat zusammenzuarbeiten bzw. einen anderen Staat zu gründen, um einen Schritt weiterzukommen auf dem Weg in die Herrschaftsfreiheit. Das mag vielleicht auch damit zusammenhängen, dass diese Anarchisten beizeiten mit der gewalttätigen Methode geliebäugelt haben, und was wäre schon gewalttätiger als ein Staat?

Dabei waren sich alle drei bewusst, dass der Staat kein unproblematisches oder gar neutrales Werkzeug ist. Sie sind nicht dem Staatsfetischismus verfallen, der so attraktiv für Marxisten war. Aber Proudhon versuchte als Abgeordneter der Nationalversammlung, eine bessere Verfassung zu schaffen; Bakunin plädierte für die „Vereinigten Staaten von Europa“, um Kriege zwischen den Nationalstaaten (die durch die Vereinigung ersetzt werden sollten) zu verhindern; und Kropotkin versuchte nach der Russischen Revolution auf der Staatskonferenz in Moskau, für eine Verfassung nach kanadischem Modell zu plädieren – um sowohl die Rückkehr zum Zarismus als auch den Absturz in die Bolschewistendiktatur zu verhindern. Dies geschah jeweils in Situationen, als sich die Anarchisten in einer Position mit Einfluss und Verantwortung sahen. Ähnlich dürften die Entscheidungen weiterer Anarchist_innen zu erklären sein, die etwa in der Bayrischen Räterepublik oder in der Spanischen Republik Minister_innenposten annahmen. Sie sind nicht vom Anarchismus abgefallen oder plötzlich Staatsfanatiker_innen geworden – sie haben vielmehr die Vor- und Nachteile der ihnen zur Verfügung stehenden Handlungsoptionen abgewogen.

Auch der Hambacher Forst wäre wohl nie bewahrt worden, wenn das Oberlandesgericht nicht den Stopp der Rodung angeordnet hätte – weder die Bewegung allein, noch die Richter*innen haben den Wald gerettet, ausschlaggebend war das Zusammenspiel.

Wenn das bedeutet, dass man eine nichtfaschistische Partei wählt, um ein bisschen was an der Zusammensetzung eines Parlaments zu ändern, dann bin ich gerne Wahlbefürworter. Beim Wählengehen gibt man seine Stimme ab, heißt es – und danach sei man stimmlos, lautet der zu simple Slogan. Ich meine, es ist andersherum: Wer seine „Stimme abgibt“, macht in Wirklichkeit ein Kreuz in einen Kreis und verliert dabei etwas Zeit an einem Sonntag, kann aber hinterher wieder so antistaatlich agieren und agitieren wie zuvor. Man verliert die Stimme (als Fähigkeit, sich zu äußern) nicht durch das Wählen; durch Wahlverzicht verliert man aber ein Stück Einfluss auf die Zusammensetzung der staatlichen Organe. Das auch noch „Wahlboykott“ zu nennen, ist großspurig. Es ist richtig, dass repräsentativ-demokratische Staaten an Legitimität gewinnen, wenn die Wahlbeteiligung hoch ist. Persönlich mag sich das ganz rebellisch und richtig anfühlen – aber wie groß müsste ein Wahlboykott sein, damit der Staat tatsächlich ins Wanken kommt? Ein Unterschied um 20 Prozentpunkte zwischen der höchsten (1972: 91,1 %) und der niedrigsten (2009: 70,8 %) Wahlbeteiligung hat an der Fähigkeit des Bundestages, gültige Gesetze zu verabschieden, überhaupt nichts verändert.

Falls wir tatsächlich mal auf außerparlamentarischem Wege den Staat überwinden wollen, müssen wir ihn während dieses revolutionären Prozesses möglichst schwächen. Ich meine, dass die Schwächung des Staates jedes Mittel umfassen sollte, das uns weiterbringt. Das bedeutet, dass es schon vor der Revolution taktische Berührungen mit dem Staat geben muss. Daher plädiere ich dafür, instrumentell und kaltschnäuzig mit Staaten umzugehen, ob sie nun schon oder noch existieren, oder nicht.

Emilian: Ich denke, die Staatsfrage wieder aufzunehmen wäre kein Einknicken, sondern ein Gewinn für den Anarchismus. Wir begegnen heute einem hochgradig durchtheoretisierten Neomarxismus, der sich über Jahrzehnte auf Konferenzen, an Schreibtischen und in Universitäten weiterentwickelt hat. Wenn der Anarchismus ihm als eine ernstzunehmende Alternative auf Augenhöhe begegnen will, braucht er eine erneuerte Staatstheorie.

Ich begrüße es, dass du, Peter, unsere Überlegungen mit deinem historischen Wissen ergänzt. Ein weiteres historisches Faktum, das für Anarchist*innen von Interesse sein sollte, war die spanische Parlamentswahl von 1936: Monate vor der Wahl schlug die rechte Regierung einen von der UGT angeführten Bergarbeiter*innenaufstand blutig nieder, bei dem etwa 3000 Arbeiter*innen getötet und mehr als 30.000 verhaftet wurden. Aus diesem Anlass traten im Februar 1936 verschiedene Spektren der politischen Linken als gemeinsames Volksfrontwahlbündnis an, das die sofortige Freilassung aller verhafteten Bergarbeiter*innen forderte. Es war der erste historische Moment, an dem Anarchist*innen massenhaft zur Beteiligung an der Wahl aufriefen. Und das mit Erfolg: Das Wahlbündnis POUM gewann haushoch und die tausenden von Gefangenen wurden befreit. Auch wenn unsere marginale Minderheit im Jahr 2019 auf dem Wahlzettel nichts ausrichten wird, so sieht das in Zeiten einer progressiv-revolutionären Phase anders aus: Von den 4,8 Millionen abgegebenen Stimmen für die POUM stammten historischen Schätzungen zufolge rund eine Million von Anarchist*innen…

 

GWR-Mitherausgeber Bernd Drücke und Carsten Schmitz diskutieren Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen Anarchiamus und Marxismus – Quelle: Youtube

Poulantzas meinte, dass jenseits des Postulats der Doppelstrategie keine konkreteren Angaben über die realen Kämpfe gemacht werden könnten. Ich würde ihm an dieser Stelle widersprechen. Ich denke, dass für eine Mitarbeit in Parteien zwei konkrete Bedingungen gegeben sein sollten. Erstens muss die jeweils „favorisierte“ Partei in einer inhaltlichen, personellen oder anderweitigen Krise sein. Eine solche inhaltliche Krise wäre etwa, wenn der nationalistische Flügel um Wagenknecht um weitere einflussreiche Prominente an Zuwachs gewinnen würde. Ein massenhafter Eintritt in die Partei könnte dann, langfristig, einen innerparteilichen Gegenruck ermöglichen. Eine personelle Krise hingegen könnte sich in Mitgliederschwund ausdrücken und eine anderweitige Krise etwa in Form von Finanzproblemen oder in behördlichen Repressalien. Zweitens käme eine Beteiligung in Parteien nur dann in Frage, wenn die Bewegung im selben Moment nicht selbst in einer tiefen Krise ist und daher ausreichend Kräfte hat, um die schwächelnde Partei zu unterstützen. Darüber hinaus können noch weitere konkrete Aspekte diskutiert werden. Auch wenn ich prinzipiell von einer Gleichzeitigkeit von Bewegung und Parteien ausgehe, denke ich, dass Bewegung und Parteien strukturell voneinander getrennt arbeiten sollten und dass eine linke Partei sich tendenziell in der Opposition befinden sollte. All das könnten erste Bausteine für ein Staatsverständnis werden, das ich als „Primat der Bewegung“ bezeichnen würde. Unsere Aufgabe muss es sein, eine Position links von Poulantzas zu entwickeln.

Des Weiteren unterlag das anarchistische Staatsverständnis viel zu lange einer simplifizierten Ja-Nein-Binarität. In Wahrheit zeigen sich die Facetten staatlicher oder staatsbezogener Politik in einer deutlich komplexeren Vielfalt. Dass Lena Rackwitz etwa in der Jungle World eine linke Infiltrierung der Bundeswehr forderte, um einer dortigen Faschisierung entgegenzuwirken, mag zunächst streitbar sein. Doch dass in revolutionären Momenten der Geschichte, wie etwa in der portugiesischen Nelkenrevolution oder 2011 in Ägypten, Bewegungen oft auf die Allianz mit Teilen des Militärs angewiesen waren, lässt sich nicht von der Hand weisen. Auch der Hambacher Forst wäre wohl nie bewahrt worden, wenn das Oberlandesgericht nicht den Stopp der Rodung angeordnet hätte – weder die Bewegung allein, noch die Richter*innen haben den Wald gerettet, ausschlaggebend war das Zusammenspiel. Und dass Staatsbedienstete in Stadtplanungsämtern rechtlich und praktisch lokale Wohnprojekte unterstützen können, darf auch nicht vergessen werden – auch wenn sie nicht basisdemokratisch legitimiert worden sind. Das heißt nicht, dass all diese genannten Optionen staatlicher Beteiligung auch angegangen werden sollten. Sie sollten aber zumindest auf einer analytischen Ebene kritisch reflektiert und diskutiert werden.

Es heißt, bis ein neues theoretisches Paradigma in den Sozialwissenschaften akzeptiert würde, brauche es rund zehn bis zwanzig Jahre. Auch der von uns unterbreitete theoretische Vorschlag wird nicht in offene Arme rennen. Denn Politik ist ein vertracktes und verführerisches Ding. Denn es ist ja tatsächlich die anti-politische Bewegung, aus der sich die eigentliche soziale Schlagkraft entwickelt. Aber gar keine Politik ist auch keine Lösung.

Dies ist ein Beitrag aus der aktuellen Druckausgabe der GWR. Schnupperabos zum Kennenlernen gibt es hier.