Die Pressekonferenzen von Lothar Wieler, dem Leiter des Robert-Koch-Instituts (RKI), haben für informierte Zuhörerinnen und Zuhörer zurzeit einen bitteren, um nicht zu sagen: toxischen Beigeschmack. Denn während Professor Wieler vor einer drohenden Überlastung der Krankenversorgung warnt und die Bevölkerung zu Achtsamkeit, Abstand und Solidarität aufruft, lässt sein unmittelbarer Vorgesetzter, Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU), munter weiter Krankenhäuser schließen.
Schon seit Jahren verfolgt die Regierung Merkel das Ziel, die öffentliche Gesundheitsversorgung in einem sogenannten „kalten Strukturwandel“ drastisch zu verkleinern und/oder in private Hand zu überführen. Eine 2019 veröffentlichte Studie der Bertelsmann-Stiftung, die diese neoliberale Politik wesentlich beeinflusst, drängt darauf, 800 bis 1400 Plankrankenhäuser in Deutschland zu schließen – zwei Drittel aller noch verbliebenen Einrichtungen. Und seit 2016 läuft das staatliche Förderprogramm zum Abbau von Kapazitäten in der stationären Versorgung, das jährlich mit 750 Millionen Euro ausgestattet wird. Die Bürgerinnen und Bürger dieses Landes bezahlen also mit ihren Steuern den Abbau ihrer eigenen öffentlichen Gesundheitsversorgung. Der erste Lockdown war noch kaum vorbei, da setzte Spahn die Schließung von Krankenhäusern auch schon fort. Am 1. August 2020 beispielsweise wurde eine Corona-Schwerpunkt-Klinik im Bayrischen Vohenstrauß geschlossen. Es war die fünfte Schließung innerhalb von 18 Monaten. Auffällig häufig tauchen in Talkshows und Radiosendungen nun wieder neoliberale Professoren und Krankenhausmanager auf, die raunend weitere Schließungen als „alternativlos“ darstellen. Ihnen entgegen setzen Redaktionen und Intendanzen meist Medizinisch-Technische MitarbeiterInnen oder anders Betroffene, nicht etwa Profs und Krankenhausmanager mit abweichenden Meinungen. Meinungsparität sieht anders aus.
Klinikschließungen waren (nicht nur) in Norditalien mitverantwortlich für den katastrophalen Verlauf, den die erste Welle von Covid-19 dort nahm. Infizierte Menschen drängten notgedrungen in die Städte und machten die Kliniken zu regelrechten Hotspots der Pandemie. Wie rasch dort dann die Versorgung überlastet war, ist vielen noch in böser Erinnerung. Aber auch in weniger bedrohlichen Zeiten haben Klinikschließungen häufig verheerende Folgen: Jeder Rettungssanitäter kennt das Gefühl der Ohnmacht, wenn er nach einem Noteinsatz auf dem Lande keine Möglichkeit hat, das nächste Krankenhaus rechtzeitig zu erreichen, und wenn er den Rettungswagen zu Schanden fahren sollte. Wenn er nun, statt der bisher offiziell vorgeschriebenen maximal 30 Minuten, plötzlich 50 oder 60 Minuten bis zur nächsten Klinik braucht, werden sich vermeidbare Todesfälle häufen.
Angesichts von mit Sicherheit drohenden neuen Pandemien ist die Schließung von Krankenhäusern mörderischer Irrsinn – mörderisch für all jene nämlich, die sich eine überteuerte Behandlung in einer privaten Klinik kaum werden leisten können.
Zur Begründung von Krankenhausschließungen werden im Wesentlichen zwei Gründe vorgebracht, die sich auf perfide Weise miteinander verzahnen. Zum einen sei ganz einfach zu wenig Personal da, um alle Krankenhäuser zu betreiben. Das ist wahr. Deutschland verfügt zum Beispiel über die meisten Intensivbetten in ganz Europa, kann aber 20% davon gar nicht nutzen, weil es an Intensivpflegepersonal fehlt. Das Bundesgesundheitsministerium schätzte 2017, dass bis 2025 etwa 110.000 bis 200.000 zusätzliche Kräfte in der Pflege benötigt werden (eine ziemlich unpräzise Schätzung, nebenbei bemerkt). Der Grund für diesen Mangel ist einfach: Die permanente Erhöhung der Arbeitslast bei gleichzeitig stagnierenden oder gar sinkenden Löhnen hat den Pflegeberuf, vorher eine sichere Arbeitsperspektive, denkbar unattraktiv gemacht. Darüber hinaus hat sich die Bundesregierung aus der (einst hochwertigen) Ausbildung von Pflegekräften in Deutschland nahezu völlig zurückgezogen und verwendet stattdessen große Mühen auf die Rekrutierung von im osteuropäischen Ausland geschultem Personal, das dann noch (!) schlechter bezahlt wird und in den eigenen Ländern fehlt. Klinikschließungen verlagern PatientInnenströme lediglich. Den zu ihrer Begründung bemühten Personalschlüssel verschlechtern sie sogar. „Nur mit guter Bezahlung“, schreibt Grit Genster in der Zeitschrift Blätter für deutsche und internationale Politik, „deutlich besserer Personalausstattung, attraktiven und gesundheitsförderlicheren Arbeitsbedingungen, hochwertiger Ausbildung und dem Eingehen auf individuelle Bedürfnisse von Beschäftigten können Fachkräfte gewonnen und gehalten werden“. Der wahre Grund für den Pflegenotstand jedoch liegt in der zweiten Begründung für Klinikschließungen, nämlich, die betroffenen Häuser würden „ineffizient“ wirtschaften. Das Effizienz-Paradigma ist so etwas wie der Hochaltar in der marktradikalen Kirche des Neoliberalismus: das ideologische Herzstück der Anlage. Im Gegensatz zum Begriff der Effektivität geht es beim Effizienz-Paradigma nur um’s Geld: Öffentliche Krankenhäuser werden gezwungen, möglichst geringe Kosten zu verursachen und möglichst hohe Gewinne zu erwirtschaften. Alles andere muss diesem Ziel untergeordnet werden. Man behandelt sie, als seien sie privatwirtschaftliche Firmen auf dem Markt, die Konservendosen, Netzstrümpfe oder Handys herstellen, und nicht staatliche Einrichtungen zur sozialen Grundversorgung. So stammten, um nur ein Beispiel zu nennen, im Jahr 2017, obwohl das Krankenhausfinanzierungsgesetz die Bundesländer zur Finanzierung öffentlicher Krankenhäuser verpflichtet, nur noch 44,3% der Grundinvestitionen, insgesamt 2,8 Milliarden Euro, aus deren Töpfen. Genau den gleichen Betrag, noch einmal 2,8 Milliarden Euro, mussten die Krankenhäuser selber erwirtschaften. Oft waren dazu Kredite nötig. Da 70% der Kosten des Krankenhausbetriebs durch Personalkosten entstehen, verursacht das Effizienz-Paradigma den Notstand beim Pflegepersonal wesentlich mit. Und nicht nur das: Die Just-in-Time-Logistik, die während des ersten Lockdowns bereits zu lebensbedrohlichen Engpässen bei der Medikamentenversorgung führte, weil Unternehmen in Deutschland zur Kostenersparnis keine Lager mehr unterhielten, soll auch für die PatientInnenversorgung gelten: Ein permanenter „Durchfluss“ kranker Menschen ist das Ziel, bei dem es keinerlei Pufferzonen, keine Reserven und damit auch keine Resilienz in Krisenzeiten mehr geben wird. Der Staat soll sparen, die Wirtschaft soll verdienen. Eine jener berühmten Win-Win-Situationen, bei der nur einer verliert: nämlich die eigene Bevölkerung. Die Wirtschaft dagegen profitiert tatsächlich: Die private Asklepios-Kliniken-Gruppe beispielsweise erwirtschaftete 2019 in Deutschland einen Gewinn von 172,3 Millionen Euro – durch Einsparungen beim Personal, Fokussierung auf gewinnträchtige Maßnahmen und höhere Abrechnungen bei den Krankenkassen. Das Wasser der Grundversorgung lassen private Konzerne natürlich weiter die öffentlichen Kliniken schleppen. Längst gilt unter Aktionärinnen und Aktionären der Gesundheitssektor als „konjunkturunabhängiger Wachstumsmarkt“. Die von der neoliberalen Ideologie erzwungene wirtschaftliche Effizienz verursacht also die zunehmende Ineffektivität vieler öffentlicher Krankenhäuser bei der allgemeinen Gesundheitsversorgung. Genau diese Ineffektivität wird dann als Begründung vorgebracht, solche Einrichtungen schließen und/oder privatisieren zu müssen.
In Zeiten von Covid-19 hat das Effizient-Paradigma seine tödlichen Folgen vor aller Augen bewiesen. Trotzdem halten wider alle Vernunft Merkel und Spahn weiter an ihm fest. Angesichts von mit Sicherheit drohenden neuen Pandemien ist die Schließung von Krankenhäusern mörderischer Irrsinn – mörderisch für all jene nämlich, die sich eine überteuerte Behandlung in einer privaten Klinik kaum werden leisten können. Und auch die Corona-Pandemie ist ja noch lange nicht vorüber. Nicht Krankenhäuser müssen geschlossen werden, weil sie den wirtschaftlichen Anforderungen nicht genügen können, sondern die wirtschaftlichen Anforderungen müssen verändert werden, damit Krankenhäuser auch in Zukunft erfolgreich ihre Arbeit tun können. Größere Öffentlichkeit kann helfen, die verfehlte Politik von Merkel, Spahn und der Bertelsmann-Stiftung aufzuhalten. Denn nach einer repräsentativen Umfrage der Initiative Gemeingut in BürgerInnenhand (GiB) sind 88% der deutschen Bevölkerung gegen die Schließung von Krankenhäusern. Bei öffentlichen Auftritten musste Spahn, durch kritische Fragen in die Enge getrieben, bereits zurückrudern. Auch auf kommunaler Ebene war Widerstand bereits erfolgreich: In Oberkirch beispielsweise verhinderten die Bürgerinnen und Bürger am 3. August 2020 erfolgreich die Schließung ihres Krankenhauses. In Peine wurde eine private Klinik rekommunalisiert. „Krankenhäuser“, schreibt Gemeingut in BürgerInnenhand, die neben weiteren Online-Informationen ein hervorragendes Faltblatt veröffentlicht haben, das gegen Spende zu beziehen ist, „sind Daseinsfürsorge, kein Geschäftsmodell“.
Dies ist ein Beitrag aus der aktuellen Druckausgabe der GWR. Schnupperabos zum Kennenlernen gibt es hier.