Das Recht umgibt uns. Man stelle sich vor, wie kleine §-Zeichen sich in Richtung Gegenstand, Mensch oder Natur bewegen und von dem jeweiligen Objekt wieder zurück geworfen werden. Es gibt kaum einen gesellschaftlichen Bereich, der nicht auch verrechtlich ist. Aus diesem Grund sind Begriffe wie „rechtsfreie Räume“ völliger Unfug. Was aber, wenn man sich des Rechts bedient, um insbesondere staatliches Handeln zu legitimieren, welches bei „genauerer“ Betrachtung Unrecht darstellt?
Diesen Widerspruch wollte Gustav Radbruch durch die nach ihm benannte Formel auflösen. Gustav Radbruch gilt als einflussreichster Rechtsphilosoph des vergangenen Jahrtausends. Der 1878 in Lübeck geborene Radbruch war Professor für Strafrecht, Abgeordneter der SPD, Reichsjustizminister unter Stresemann und freundschaftlich mit dem Anarchisten Erich Mühsam verbunden. Beide kannten sich aus der gemeinsamen Schulzeit in Lübeck.
Die Formel, die ihn zumindest in juristischen Kreisen überproportional bekannt machte, verfasste er zum ersten Mal im Jahre 1946. Man ist sich bis heute uneins, ob die Formel Ergebnis der Auseinandersetzung mit den Erfahrungen des Nationalsozialismus war, oder aber bereits zuvor als Idee bei Radbruch vorhanden gewesen ist. Ziel der „Radbruchschen Formel“ ist die Auflösung einer Spannung zwischen Gerechtigkeit und geschriebenen Recht. In der Vergangenheit wurde sie angewandt bei der juristischen Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und der Aufarbeitung der Schüsse an der innerdeutschen Grenze.
Die Formel richtet sich nicht etwa an den Gesetzgeber, sondern an das Recht sprechende Organ und der mit dieser Position einhergehenden Verpflichtung Gerechtigkeit zu schaffen.
Was beinhaltet nun Radbruchs Formel?
- Nach Radbruch ist grundsätzlich die geschriebene Norm anzuwenden, auch wenn sie ungerecht erscheint. Dies soll nach Radbruch der Rechtssicherheit dienen.
- Sollte jedoch der Widerspruch des geschriebenen Rechts zur Gerechtigkeit ein „unerträgliches Maß“ erreicht haben, muss es als ungerechtes Recht weichen und darf nicht angewandt werden.
- Ein unerträgliches Maß ist insbesondere erreicht, wo „Gerechtigkeit nicht einmal erstrebt wird, wo die Gleichheit, die den Kern der Gerechtigkeit ausmacht, bei der Setzung positiven Rechts bewußt verleugnet wurde“.(1) Wobei das Wort insbesondere darauf schließen lässt, dass es sich um ein Beispiel handelt und die Fälle nicht abschließend sind.
Die Kernbegrifflichkeit in diesem Zusammenhang ist das „unerträgliche Maß“. Diese Bezeichnung ist, wie man sich denken kann, unscharf und nur schwer zu erkennen. Die Formel wurde trotz dieser „Offenheit“ in der Vergangenheit von verschiedenen Bundesgerichten angewandt und zitiert. Unter anderem wurde vom Bundesverfassungsgericht, die sogenannte Verordnung zum Reichsbürgergesetz, die die Zwangsausbürgerung von jüdischen deutschen Staatsbürger*innen vorsah, für nichtig erklärt. Auch wurde im Zusammenhang mit den sogenannten Mauerschützenprozessen festgestellt, dass der § 27 des Grenzgesetzes der DDR, der vorsah Schusswaffen nutzen zu können, „um die unmittelbar bevorstehende Ausführung oder die Fortsetzung einer Straftat zu verhindern“, als Rechtfertigungsgrund nicht anwendbar sei.
In dieser Situation versuchen die Aktivist*innen mit ihren Aktionen das größtmögliche Bewusstsein zu schaffen und im besten Fall den Betrieb des Kohlekraftwerks, die Rodungsarbeiten für Autobahnen, den Transport für Atommüll für einige Zeit aufzuhalten. Für sie spricht nicht nur das Naturrecht, sondern Naturgesetze (Physik/Chemie).
Die genannten Beispiele haben gemein, dass sie Recht nicht gelten lassen, welches mit einer liberal bürgerlichen Rechtsauffassung nicht konform ist. Sie legen somit die Schwäche der Formel selbst bzw. die Interpretation der selbigen dar. Denn eine Anwendung erfolgte bislang nur im Verhältnis zu einem anderen rechtlichen Außen. Die Anwendung des Rechts des Nazi-Staates, des Rechts des DDR-Staates ist Unrecht etc.. Wie Foucault in Wahnsinn und Gesellschaft beschrieb, dass das eigene Verständnis von Kultur durch das Zurückweisen von außerhalb Liegenden entsteht, nutzt hier der Staat das Zurückweisen des Außen (NS-Recht, DDR-Recht) um sich selbst als gerecht zu definieren.
Was aber, wenn wie Hardt und Negri meinen, nur ein Empire existiert und dadurch kein Außen mehr vorhanden ist. Ist die Rabruchsche Formel dann obsolet (überflüssig)? Wohl kaum und das aus folgenden Gründen: Radbruch selbst hat in seinem Aufsatz niemals von einem Außen gesprochen, sondern den Gesetzesanwender, also Richter, Staats- und Rechtsanwälte, in die Pflicht genommen, nicht aber den Gesetzgeber. Er muss somit davon ausgegangen sein, dass es Fälle gibt, die durch die klassischen Rechtsüberprüfungsverfahren nicht gelöst werden können. Das bedeutet, dass klassische Überprüfungsmechanismen wie Normenkontrollanträge (ein Richter hält ein Gesetz für verfassungswidrig und legt es dem Bundesverfassungsgericht vor) oder eine Verfassungsbeschwerde (ein Individuum fühlt sich durch staatliches Handeln wie Verwaltung/Gericht in seinen Rechten verletzt und klagt) nicht gemeint sein können.
Aber welche Fälle sind dann denkbar? Es sind Fälle, die aus dem „Empire“ heraus selbst entstehen. Es sind Fälle die, als „ziviler Ungehorsam“ definiert werden, also auch Aktivist*innen, die Tagebaue, Kohlebahnen oder Bäume besetzen. Einen lesenswerten Aufsatz zum zivilen Ungehorsam in Theorie und Praxis hat dazu Lena Herbers in der Zeitschrift Forum Recht verfasst.(2) Die Aktivist*innen erfüllen meist Straftatbestände wie Sachbeschädigung, Hausfriedensbruch und Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte. Delikte wie Sachbeschädigung und Hausfriedensbruch können nicht als verfassungswidrig (durch Normenkontrolle oder Verfassungsbeschwerde) erklärt werden. In jeder Gesellschaft, auch in einer libertär-sozialistischen, möchte ich, dass es allgemeine Regeln gibt, die erklären, dass mein Kram nicht von anderen kaputt gemacht wird und nicht alle ungefragt in Wohnung oder Haus hereinplatzen. Die Norm selbst kann somit nicht angegriffen, aber ihre Anwendung in Frage gestellt werden.
Wir erinnern uns, eine Anwendung der Norm ist ausgeschlossen, wenn das Verhältnis zwischen Gerechtigkeit und geschriebenem Recht ein „unerträgliches Maß“ erreicht hat. Ist dieses Maß erreicht? Bei der Frage, ob das „unerträgliche Maß“ erreicht ist, muss bei der Abwägung zwischen geschriebenem Recht (positiven) und dem Naturrecht (wir sind von Geburt an mit Rechten ausgestattet, egal ob Staat oder nicht Staat) ein deutlicher Überhang für das Naturrecht oder anders, des übergesetzlichen Rechts gegeben sein. Lena Herbers spricht in ihrem Artikel davon, dass der Staat im Kontext des zivilen Ungehorsams Normen anwendet, ohne sie in einen größeren Kontext zu setzen, noch die gesellschaftliche Herausforderung, die mit dem Klimawandel einhergeht, erkennt. Dies beinhaltet die gesamte Misere. Der Staat verabschiedet Klimaprogramme durch Gesetze und appelliert an das Verantwortungsgefühl des Individuums. Erfolge wollen sich aber nicht einstellen.(3) Insofern ist es auch nicht verwunderlich, wenn das Staatssystem, welches mit Aktivist*innen konfrontiert ist, die heißen Tipps ausgibt, sich doch bitte in der Politik oder aber in der Forschung zu engagieren, so geschehen durch die Staatsanwältin im Prozess um die Besetzung eines RWE-Kohlekraftwerkes.(4) Das diese Bemühungen in der Realität in Absurdistan landen, zeigt das Beispiel Winfried Kretschmann, der als „Grüner“ die Autokaufprämie fordert.
In dieser Situation versuchen die Aktivist*innen mit ihren Aktionen das größtmögliche Bewusstsein zu schaffen und im besten Fall den Betrieb des Kohlekraftwerks, die Rodungsarbeiten für Autobahnen, den Transport für Atommüll für einige Zeit aufzuhalten. Für sie spricht nicht nur das Naturrecht, sondern Naturgesetze (Physik/Chemie). Es gehört mittlerweile zum „Common Sense“, dass, sollten wir den Co2-Ausstoß nicht drastisch verringern, die Meeresspiegel steigen, die extremen Wetterlagen zunehmen und die Temperaturen weltweit steigen. Die Folgen, die daraus resultieren, sind Tod, Hunger, Obdachlosigkeit und Flucht.
Leben, Nahrung, Obdach und Lebensraum sind Rechte, die jedes Lebewesen für sich beanspruchen können muss. Es sind unabänderliche Kernrechte, deren Verstöße es zu ächten gilt und deren Schutz und Schutzversuche aus sich selbst heraus gerecht sind. Sollten wir diese Rechte nicht achten, ist die Zeit für uns auf diesem Planeten abgelaufen. Darum, liebe Aktivist*innen, beruft euch auf die Radbruchsche Formel, denn die Zeit des „unerträglichen Maßes“ ist erreicht.
Advocado
(1) Gustav Radbruch: Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht.SJZ 1946, 105 (107)
(2) „Wo Unrecht zu Recht wird …“ Ziviler Ungehorsam in Theorie und Praxis, https://www.forum-recht-online.de/wp/?p=1866#_ftn4
(3) https://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/uno-bericht-ueber-klimaziele-auf-dem-weg-zu-drei-grad-erderwaermung-a-05ecdcdb-2f84-4aa0-84b6-a7a2d8c71c80
(4) https://www.spiegel.de/panorama/justiz/eschweiler-das-urteil-gegen-fuenf-umweltaktivisten-die-ein-kraftwerk-lahmlegten-a-1299736.html
Advocado fühlt sich bei Wärme wohler, ist aber dennoch davon überzeugt, dass hohe Temperaturen in den Sommer gehören.
Dies ist ein Beitrag aus der aktuellen Druckausgabe der GWR. Schnupperabos zum Kennenlernen gibt es hier.