Im Frühjahr 1981 ahnte wohl noch keiner, dass bis Ende des Jahres mitten im Ruhrgebiet einer der größten Zusammenhänge der bundesweiten Haus-besetzer*innenbewegung entstehen würde.
Das Heusnerviertel – oder BRONX, wie das 2500 Quadratmeter große Gebiet von den Besetzer*innen genannt wurde, entstand am westlichen Rand der Bochumer Innenstadt. Zwar hatte das Wohngebiet rund um die Heusnerstraße, bestehend aus 40 Häusern, eine längere Vorgeschichte. Im Kern wirkte es aber, so berichtete ein ehemaliger Bewohner, immer wie ein Dorf, dass man unmittelbar neben die Bochumer Innenstadt gestellt hatte. Das Gelände selbst war weder gut erschlossen noch gut erreichbar; wer im Viertel lebte verließ es auch meist nicht.
Diese Angelegenheit sollte sich aber ab Sommer 1981 drastisch ändern. Im Zuge der Bochumer Jugendzentrumsbewegung rund um die sogenannte bo-fabrik und den studentischen Bemühungen um bezahlbaren Wohnraum geriet das Viertel in den Fokus der Aktivist*innen. Das Viertel, welches ursprünglich als Wohngebiet der Arbeiter*innen der umliegenden Zeche Engelsburg und dem Bochumer Verein gebaut wurde, bot ausreichend Wohnraum. Dieser stand aufgrund der Schließung der Zeche Engelsburg sowie unterschiedlichen Bemühungen der Stadt leer. Schuld an dieser Entwicklung waren die Planung und später auch die Umsetzung der sogenannten Westtangente, einem Teilstück des Bochumer Außenrings, welcher die gesamte Stadt miteinander verbinden und das Verkehrsaufkommen in der Innenstadt senken sollte.
Die Ideen für diese Verbindungsstraße stammten zwar teilweise noch aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg (ca. 1928) und wurden in den Folgejahren immer wieder aus unterschiedlichen Gründen gestoppt; die Stadt Bochum hatte aber dieses Mal beschlossen, am Bau festzuhalten. Dies hatte dramatische Folgen für die noch vor Ort lebenden Menschen; so wurde Infrastruktur im Heusnerviertel zurück gebaut und Schulen geschlossen, die Lebensqualität im Viertel sank ab, da auch kleine Geschäfte schließen mussten und der Verlust in der Versorgungssicherheit nicht wie andernorts durch Supermärkte abgefedert werden konnte. Spätestens ab 1976 verstärkte die Stadt diese Entwicklung hin zu einem Leerzug des Viertels nochmals, sie begann mit der Auszahlung von sogenanntem Umzugsgeld sowie Entschädigungszahlungen für Mieter*innen, die das Viertel verließen. Hausbesetzer*innen bot sie an, ihnen die Häuser abzukaufen, sodass immer mehr Häuser des Viertels rechtlich betrachtet der Stadt Bochum gehörten. Bei den verbleibenden Einwohner*innen regte sich hingegen Widerstand.
Währenddessen versuchten in der Bochumer Innenstadt Jugendliche, ein autonomes Zentrum zu erkämpfen. Eine Konsequenz dieser Bemühungen war das Angebot der Stadt, sicherlich auch aus Angst vor weiterem Protest und Hausbesetzungen in der Innenstadt, einer Zwischennutzung des Gebietes rund um die Heusnerstraße. Und so füllte sich, auf unterschiedlichen Wegen, das Heusnerviertel mit Personen, die auf der Suche nach bezahlbarem Wohnraum waren. In einer Zusammenarbeit des in Bochum sitzenden Studentenwerks AKAFÖ (Akademisches Förderungswerk) und der Stadt wurden Nutzungsverträge aufgesetzt und die teils bereits für unbewohnbar erklärten Wohnungen von den neuen Mieter*innen renoviert. Dem AKAFÖ gelang es hier, die Nutzungsdauer auf fünf beziehungsweise zehn Jahre festzulegen, wobei erwähnt werden muss, dass es sich nicht um geregelte Mietverhältnisse mit Schlüsselübergabe handelte. Eine ehemalige Besetzerin erzählte mir, dass sie während ihrer Suche nach einem möglichen Wohnort mit einem Angestellten der Stadt telefonierte, der sie auf das Heusnerviertel verwies und ihr sagte, sie könne sich dort einfach eine Wohnung aussuchen, die Tür „öffnen“ und einziehen. In den folgenden Monaten zog das Heusnerviertel neben Studierenden auch Punks und Arbeitslose an, welche ebenfalls auf der Suche nach bezahlbarem Wohnraum waren. Durch diese Entwicklung ergab sich eine sehr heterogene Masse an Bewohner*innen des Viertels; so lebten alteingesessene Bewohner*innen Haus an Haus mit Studierenden, Punks, politischen Aktivist*innen und Arbeitslosen. Zwar stand man sich zunächst skeptisch gegenüber, die Wiedererrichtung des Viertels sowie die Möglichkeit auf bezahlbaren Wohnraum schienen aber als gemeinsame Zukunftsaussichten zu reichen. Die Folgemonate bestanden für die Bewohner*innen darin, die Wohnungen und Häuser wieder bewohnbar zu machen.
Im Oktober 1983 erschien ein Zeitungsartikel, dem zufolge der Weiterbau der sogenannten Westtangente fortgesetzt werden sollte und mit diesem auch der Abriss des Heusnerviertels angekündigt wurde. Daraufhin kam es zu unterschiedlichsten Arten von Protest, sei es im Viertel selbst, im städtischen Parlament oder auch in der Innenstadt. Es wurde eine Bürgerinitiative ins Leben gerufen, Informationsstände in der Stadt aufgebaut und Demonstrationen organisiert. Weiter wurden Flugblätter verteilt und auch die Presse, egal ob kleinere studentische Blätter oder größere, wie die TAZ, berichteten über die Verhältnisse in Bochum. Zudem wurde ein Anwalt eingeschaltet, der die Interessen der Mieter*innen, deren Mietvertrag, egal ob Mieter*innen der Stadt oder des AKAFÖs, bis zum Ende des Jahres 1984 gekündigt worden waren, vertreten sollte. Spätestens ab diesem Zeitpunkt wandelte sich auch das Erscheinungsbild des Viertels, es verlor seinen friedlich-dörflichen Charakter und wurde zur Projektionsfläche des Protestes. Zwar blieben die Protestaktionen auf städtisch-politischer Ebene erfolglos, ungesehen waren sie aber keinesfalls, wie beispielsweise die Einweihungszeremonie für einen Tunnel unter der Hattinger Straße in Bochum zeigt. Dieser Tunnel steht für eine Ungleichbehandlung von Bochumer Bürger*innen, da dieser unter einem Stadtteil gebaut wurde, der ebenfalls der Westtangente hätte weichen sollen. Hier war der bürgerliche Protest aber erfolgreich. Daher wurde ebendiese Einweihungszeremonie mit ca. 450 Personen gestört.
Zeitgleich begann die stadteigene Wohnungsbaugesellschaft (VBW) Wohnungen und Häuser im Heusnerviertel wieder unbewohnbar zu machen, durch das Zumauern von Türen und Fenstern, die Zerstörung von Waschbecken und Toiletten oder auch durch das Entfernen von Stromkabeln. Der Einsatz dieser Demolierungstrupps führte zu einer weiteren Welle an Besetzungen im Viertel. Während die Bewohner*innen des Viertels abermals versuchten, den Wohnraum zu erhalten und die Wohnungen winterfest zu machen, wurde Mitte 1984 eine Normenkontrollklage in Münster eingereicht, welche die Ausmaße der Straßenplanung der Westtangente nochmals zur Diskussion stellen sollte. Im gleichen Zeitraum, nach der Kommunalwahl 1984, schien aber die politische Schonfrist des Heusnerviertels endgültig abgelaufen zu sein; zwar erreichte die Normenkontrollklage einen Aufschub, der Abriss des Viertels selbst schien aber eine beschlossene Sache zu sein. Und so fiel, eine Woche vor Weihnachten, das erste besetzte Haus des Heusnerviertels der Abrisskugel zum Opfer.
Räumung und Abriss des Viertels zogen sich über fast zwei Jahre, immer wieder gelang es den Aktivist*innen Räumungen zu verhindern. Besonders zu erwähnen ist hier der 12. Februar 1986, das eigentliche Räumungs- und Abrissdatum der Pestalozzi-Schule sowie einiger weiterer Wohnhäuser. Da der Termin, durch eine unbekannte Quelle, den Aktivist*innen bekannt war, organisierten diese eine große Protestaktion mit Unterstützung aus ganz Westdeutschland. Ein ehemaliger Aktivist wird mir viele Jahre später erzählen, dass der Protest damals fast schon paramilitärische Züge angenommen habe. So gab es strategische Sitzungen, an denen besprochen wurde, welche Personengruppe wo zu stehen hat, wo Gegenstände unterschiedlichster Art zu finden seien, um die anrückende Polizei abzuwehren und wo gegebenenfalls neue Sammelpunkte zu finden seien. Aufgrund dieses akribisch geplanten Widerstands konnten die Schule und die Wohnhäuser einen weiteren Monat bestehen. Unter massivem Polizeischutz wurden Teile der Pestalozzi-Schule sowie Häuser in der Pestalozzistraße und Bahnstraße am 12. März 1986 dennoch abgerissen. Die letzten verbleibenden elf Häuser in unterschiedlichen Straßenzügen wurden am 20. November 1986, ebenfalls durch ein massives Polizeiaufgebot, zunächst geräumt und noch am gleichen Tag abgerissen. In der rechtlichen Aufarbeitung der Räumung des Heusnerviertels stellte sich nicht nur heraus, dass der Abriss des ersten Hauses bereits rechtswidrig war, sondern auch die Verfügung des Oberstadtdirektors Herbert Jahofer, welche den Besetzern verbot, ihre Habseligkeiten aus den zum Abriss vorgesehenen Häusern zu retten.
Was in dieser, sich an Zahlen und Daten orientierten Erzählung fehlt, sollte meine Masterarbeit erschließen. Die grundlegende Frage war hier, wie erinnern die unterschiedlichen Akteure an die Besetzung des Heusnerviertels? Das wie meint hier sowohl die Form der Erinnerung als auch deren Inhalt. Geteilt wurden diese Erinnerung in eine Außen- und eine Innenperspektive. Die Außenperspektive, bestehend aus Zeitungs- und Blogartikeln unterschiedlicher Plattformen wie der WAZ, dem MieterForum Ruhr, der Studenten Zeitung bsz oder auch bo-alternativ.de zeigte, wie diffus die Erinnerung an die Besetzung des Heusnerviertels ist. Während die WAZ die Geschichte des Heusnerviertels zusammenstaucht und lediglich das kulturelle Erbe des Viertels mit dem Thealozzi (dem letzten verbleibenden Haus des Viertels, Teil der ehemaligen Pestalozzi-Schule) als bedeutsam sieht, erklärt beispielsweise bo-alternativ.de sie zu einer der heftigsten gesellschaftlichen Auseinandersetzungen der modernen Bochumer Geschichte. Besonders in der linken Erinnerung spielen hingegen die Lebensumstände, der Protest und der Versuch des Aufbaus einer gesellschaftlichen Utopie eine Rolle. Zudem verweisen diese immer wieder auf die Innenperspektive, auf die später noch eingegangen wird. Erwähnt wird hier immer wieder der von einem Teil der Besetzer*innen erstellten Film ‚Tanz auf dem Vulkan‘, welcher in seiner restaurierten Form auf YouTube zu finden ist (1). Die Räumung und der Abriss des Viertels werden hingegen überall bedacht, wenn auch unterschiedlich gewichtet. In der WAZ liegt der Fokus auf dem Polizeischutz der Abrissarbeiter und der von den Besetzer*innen ausgehenden Gewalt, in der bsz hingegen spielt die Schikanierung der Besetzer eine zentrale Rolle. Auch die gewählte Wortwahl offenbart die Position der Erinnerungsakteure, so beschreibt die WAZ über die Demografie des Viertels, dass neben Studenten dort auch „andere Zeitgenossen“ leben würden. In einem 2016 veröffentlichten Interview des MieterForums Ruhr wird die Heterogenität des Viertels wiederum als äußerst positiv bewertet. All dies zeigt, dass die Art der Erinnerung von außen stark von den Ansichten ihres Akteurs abhängt.
Für die Innenperspektive der Erinnerung an die Besetzung des Heusnerviertels wurden unterschiedlichste Materialien betrachtet, darunter Flyer, Demonstrationsaufrufe, der Film Tanz auf dem Vulkan so wie die von ehemaligen Besetzer*innen erstellte Broschüre BRONX. Während die bearbeiteten Flyer vor allem die Wut und Enttäuschung über den Abriss des Heusnerviertels zum Ausdruck bringen und die Aktivist*innen in die Opferrolle setzt, zeigt die Broschüre Bronx, dass ein differenziertes Bild der Geschehnisse rund um das Viertel durchaus möglich ist. Die Broschüre ist, und dies soll an dieser Stelle besonders betont werden, ein sehr wichtiges, aber wenig beachtetes Dokument zur Geschichte des Heusnerviertels. Anders als die Flyer ermöglicht sie eine mehrdimensionale Lesart der Geschehnisse. Sie zeigt sich bezüglich des Narratives aber immer noch sehr verfangen in einer Mischung aus Opferrolle und Verschwörung, aber auch Zufriedenheit mit dem Erschaffenen.
Während das schriftliche Material eher beschreibt, dass es einen Konflikt gab und wie sich dieser abspielte, beschreibt der Film Tanz auf dem Vulkan worum es in diesem Konflikt überhaupt ging: ein freies, bezahlbares Zusammenleben unterschiedlichster Personen mit unterschiedlichsten gesellschaftlichen und politischen Ansichten. Natürlich werden hier auch Themen wie die Normenkontrollklage, die Organisation des Viertels durch eine Art Besetzerrat, die Straßenfeste, welche die Besetzer*innen organisierten, sowie die oft negative Berichterstattung beschrieben. Eine besondere Rolle neben dem Abriss nimmt aber die Polizeigewalt gegenüber den Besetzer*innen ein. Gezeigt wird hier, und dies wird durch die Berichte der Interviewten gedeckt, dass die Bochumer Polizei einen sehr harten Kurs gegenüber der Besetzung fuhr. So war bei Protestaktionen in der Innenstadt neben einem großen Aufgebot an Polizisten auch allerhand technisches Gerät sowie ein schwarzer Wagen mit einer auf dem Dach montierten Kamera (vermutlich der Staatsschutz) zugegen. Bezüglich des von der Polizei erbrachten Aufwands sagte mir ein ehemaliger Aktivist, es habe sich angefühlt, als wolle die Bochumer Polizei an den Besetzer*innen eben diese technischen Geräte ausprobieren, um sie dann beispielsweise an der Frankfurter Startbahn West einsetzen zu können.
Eine Veranstaltung Anfang 2020, welche der Erinnerung an das Heusnerviertel gewidmet war, zeigte weiter, wie persönlich die Erinnerung an die Besetzung für ehemalige Aktivist*innen sein kann. Bezeichnend für die Erinnerung von innen zeigte sich die Übereinstimmung aller Fakten; dies könnte aber auch den Film zurückzuführen sein der in fast allen Erinnerungsformen als Referenz genannt wird. Die Narrative der Interviews, welche für diese Arbeit geführt wurden, zeigten sich sehr differenziert. Während für die einen die Zeit der Besetzung sehr politisierend gewesen sei und sie die Wurzel ihrer politischen Aktivität dort sehen, spielt die Politisierung für andere keine Rolle oder bestand schon vorher. Auch sind sich die Befragten überwiegend einig, dass das Heusnerviertel Einfluss auf die weitere Entwicklung der Bochumer Linken genommen habe; vor allem die Folge- und Nebenprojekte, die heute noch existieren wie der Bahnhof Langendreer, werden hier besonders hervorgehoben. Das Zusammenleben im Viertel soll zwanglos und frei gewesen sein, diesbezüglich scheinen sich die Befragten ebenfalls einig zu sein.
An dieser Stelle wird auch erwähnt, zu welchen Problemen das Zusammenleben führte. Auf Ebene der Organisation im Viertel zeigen sich aber auch gegensätzliche Erinnerungen; die einen sahen in der Selbstorganisation des Viertels eine gute Möglichkeit, Veranstaltungen und Ähnliches zu organisieren, für die anderen wirkte diese gelebte Unprofessionalität zu improvisiert. Während in den meisten Interviews die Nutzungsverträge zwar benannt, aber nicht erläutert werden, beschreibt eine der Befragten ebendiese als eines der wenigen juristisch wirksamen Mittel der Besetzer*innen und gewichtet sie damit völlig anders. Auch sprachen die Befragten über Unterstützung für das Viertel von außen. Während einige die Unterstützung eher aus der Stadt selbst heraus, in Form von Mitarbeiter*innen bei Ämtern, Teilen der Bevölkerung und politischen Aktivist*innen aus Bochum beschreiben, verweisen manche auch auf die Unterstützung aus anderen Besetzerzusammenhängen in unterschiedlichen Städten.
Mehr Einigkeit zeigt das Themenfeld Polizei, die Beziehung zwischen Polizei und Besetzer*innen wird durchgehend als schlecht beschrieben. Vor allem die Gewalttätigkeit der Polizisten sei ein Grund dafür gewesen. Bezüglich der Gewalt aus dem Heusnerviertel heraus wird ebenfalls ein sehr einheitliches Bild gezeichnet; zwar sei man militant gewesen, habe Gewalt aber nur gegen Sachen angewendet, nicht gegen Menschen. Der gravierendste Unterschied in der Erinnerung an die Militanz zeigt sich in der Erinnerung an die Intensität von Gewalt. Auch der Kontext, in dem das Viertel stand, wird erinnert; hier gibt es aber Unterschiede. Die Erinnerung reicht hier von einem organisierten linken Widerstand bis hin zur Karikatur einer Hausbesetzung. Bezüglich der Räumung und des Abrisses zeigen sich ebenfalls Unterschiede in der Erinnerung. So erinnert das Geschwisterpaar, das bereits vor der Besetzung im Viertel wohnte, an das Heusnerviertel als Heimat; einer der beiden beschreibt den Abriss sogar als traumatischen Verlust. Seitens der Besetzer*innen führten die Abrissaktionen hingegen häufig zu dem Gefühl von Ohnmacht und zu Frustration. Von einigen wird der Abriss sogar als finale Machtdemonstration der Stadt wahrgenommen. Die Besetzung sei aber nicht nur ein Kampf gegen die Politik der Stadtregierung gewesen, sondern auch gegen die Berichterstattung in den Medien. Die Befragten scheinen sich hier einig zu sein, dass die Bochumer Bevölkerung zu schlecht informiert war und die eigene Öffentlichkeitsarbeit des Viertels wichtig gewesen sei. Die Interviews zeigten weiter, dass der Widerstand und der Protest als gut und richtig betrachtet werden, die Stadt sich aber mit allen Mitteln gegen die Besetzung gewehrt und sich schlussendlich durchgesetzt habe.
Die unterschiedlichen Narrative, seien sie aus der WAZ, dem städtischen Parlament oder von Besetzer*innen, unterscheiden sich maßgeblich voneinander. Diese Aussage ist sowohl augenscheinlich als auch bedeutsam. Bezüglich des Heusnerviertels findet sich keine sogenannte Meistererzählung, also die Idee, dass es eine Wahrheit zur Besetzung gebe, die jemand aufgeschrieben hat. Dies ermöglicht aber durch die Betrachtung unterschiedlichster Akteure eine Kritik der unterschiedlichen Positionen ohne eine vorgefertigte, gesellschaftlich etablierte Vorannahme. Weder das Narrativ des Steine werfenden Besetzers, noch das des friedliebenden Heusnerbewohners oder das des gewalttätigen Polizisten ist hundertprozentig zutreffend, es sind vielmehr alle diese Narrative, die zusammen ein Gesamtbild vermitteln können. Ansätze dieser Idee finden sich beispielsweise im Ausbau einer sogenannten Gegenöffentlichkeit durch die Besetzer*innen des Heusnerviertels, in der auch eigene Fehler zugegeben werden. Bedenkt man, dass der Fortbestand einer Hausbesetzung auch von der Akzeptanz der Bürger*innen der Stadt abhängt, erscheint eine eigene Pressearbeit als sehr sinnvoll.
Die diesem Artikel zugrunde liegende Masterarbeit zeigte insgesamt nicht nur das und von wem an die Besetzung des Heusnerviertels, sondern auch was genau erinnert wurde. Genau das was erinnert wurde, ist, was uns wieder in die Gegenwart führen soll, während oft über Mangel an bezahlbarem Wohnraum und auch über dem dazugehörigen Protest gesprochen wird, während Häuser besetzt und geräumt werden, spricht kaum einer über die Bedeutung dieser Häuser. Sie sind nicht nur,im Oktober 2020 geräumte Berliner Hausprojekt Liebig34 (vgl. GWR 453) Ort von persönlicher Entfaltung und Freiheit. Sie sind auch Ort von Kultur, sei es als Punkrock-Konzert, Theater oder Diskussion. Besonders aus den Besetzungen der 1980er Jahren sind eine ganze Reihe an kulturellen, und mittlerweile etablierten, Orten hervorgegangen, wie beispielsweise der Bochumer Bahnhof Langendreer, das Autonome Jugendzentrum oder der Ringlockschuppen in Mülheim, das Drucklufthaus in Oberhausen, um nur einige zu nennen. Aber nicht nur die Kultur profitiert von Hausbesetzerprojekten, auch die Stadtpolitik kann von ihr profitieren. Dies zeigt die Entwicklung der Bochumer Grünen, in der sich viele der Gesichter der Jugendproteste und Hausbesetzerbewegung wiederfanden und sich politisch organisierten. Und nicht zuletzt schaffen sie bezahlbaren Wohnraum, wie beispielsweise das Projekt RiWeTho in Oberhausen zeigt.
Tobias Fetzer
(1) Siehe: https://www.youtube.com/watch? v=SkHh-ow0N0s
Tobias Fetzer schreibt derzeit an einer Dissertation über die Hausbesetzer*innenbewegung im Ruhrgebiet.