Rezension

Gewaltfreies Handeln heute

„Und wenn wir wenige sind, so werden wir klein beginnen, aber wir werden beginnen.“

| Johann Bauer

Ullrich Hahn: Vom Lassen der Gewalt. Thesen, Texte, Theorien zu gewaltfreiem Handeln heute. Hrsg. von Annette Nauerth und Thomas Nauerth. Norderstedt: BoD, 2020, 340 S. (edition pace 10), 14,80 Euro, ISBN 978-3-75194442-7

Radikaler Pazifismus und eine, in diesem Fall christlich begründete, Entscheidung gegen Gewalt muss in ihrer Konsequenz immer die Frage nach einer herrschaftslosen Gesellschaft oder zumindest der Verwirklichung von ausbeutungslosen und nicht-hierarchischen Gemeinschaften stellen. Das zeigt sehr gut eine Sammlung von Vorträgen, Diskussionsbeiträgen und Schriften, die Ullrich Hahn zu verschiedenen Gelegenheiten vorgetragen und veröffentlicht hat. Vielen LeserInnen der Graswurzelrevolution ist Ullrich ein alter Bekannter, der bereits Anfang der 70er Jahre in der Gewaltfreien Aktion Freiburg aktiv war, später immer wieder Kriegsdienstverweigerer und Totalverweigerer als Anwalt vertreten hat, Aktionen zivilen Ungehorsams verteidigte, aber auch die anarchosyndikalistische Freie ArbeiterInnen Union (FAU) über Tücken des Arbeitsrechts beriet. In vielen Verfahren trat er für Arme und Flüchtlinge ein: Ein Anwalt, der das Recht des Staates, zu strafen, bezweifelt und in der Bergpredigt, in Gandhi, Tolstoi, Landauer, Martin Luther King, in Leonard Ragaz, Simone Weil und Albert Camus Leitlinien und -bilder sieht, in Meister Eckhard, Kant, Hannah Arendt wichtige Anregungen findet.

Bei den Jahrestagungen des Internationalen Versöhnungsbundes, deutscher Zweig, hat Ullrich immer wieder Arbeitskreise angeboten, die sich mit prinzipieller Gewaltlosigkeit beschäftigten, und das Prinzipielle beinhaltet auch die Gewalt der Strukturen und die Staatsgewalt. Oft waren die Themen auch direkt anarchistisch. Offenbar hat ihm das dort nicht geschadet, denn er wurde Vorsitzender und Ehrenpräsident. Auch in der Evangelischen Kirche und in Diskussionen über Militäreinsätze („Responsibility to protect“) hat Ullrich immer wieder im Sinn radikaler Kriegsdienstverweigerung und nicht nur eines „Vorrangs für Gewaltlosigkeit“, hinter dem dann der große Knüppel der Interventionsfähigkeit legitimiert und vorbereitet wird, interveniert. Das dokumentieren viele Beiträge des Buchs.

Dabei hatte er eine grundsolide militärische Ausbildung beim Bundesgrenzschutz in Coburg erfahren, nachdem er sich um 1968 – gerade aus der Schule entlassen – freiwillig verpflichtet hatte. Der Grenzschutz war kaserniert und mit Kriegswaffen ausgerüstet. In der Kaserne las er viel, auch das Neue Testament, aus einem kulturellen Interesse. Er war nicht etwa besonders christlich sozialisiert, das Gymnasium war deutschnational orientiert, der Vater gar Nationalsozialist. Er hatte auch kein christliches „Erweckungserlebnis“, sondern fand einleuchtend, dass es besser sei, Gewalt nicht mit Gewalt zu vergelten, also ein eher rationaler Zugang, ähnlich Tolstoi. So fing alles an.

Auch seine Texte sind in einem rationalen Stil verfasst. Bei allen Zuspitzungen und Provokationen in der Sache ist der Ton nie eifernd, sondern unaufgeregt begründend. Inhaltlich könnte einiges, verglichen mit dem, was für gesellschaftliche Mehrheiten „realistisch“ ist, „fundamentalistisch“ genannt werden, aber stets werden menschliche Grenzen, Schwächen, unlösbare Probleme benannt, zur Geduld und Beharrlichkeit gemahnt, zum gemeinschaftlichen Beginnen auch im Kleinen. Das als richtig Erkannte kann sich keiner Erfolge gewiss sein und darf sich auch am Erfolg nicht orientieren. Die radikal gewaltlosen Minderheiten dürfen sich auch Erfolgsmaßstäbe anderer nicht aufdrängen lassen. Das Nachwort von Egon Spiegel erwähnt die Gefährdung durch eine „unbarmherzige Prinzipientreue“, die radikale PazifistInnen rigoros überfordern kann. Denn ein anspruchsvolleres Programm als ohne Gewalt zu leben, ist kaum vorstellbar, deshalb muss es durch Lebensklugheit, Gelassenheit und eine Erkenntnis wo unsere Verantwortung endet, kritisch begleitet werden. Der Titel ist gut gewählt, denn Kritik der Gewalt in ihren vielfältigen Dimensionen ist der Schwerpunkt dieser Sammlung. Schon, was als „Gewalt“ wahrgenommen wird, ist durch Staat, Eigentumsordnung und Massenmedien verzerrt.

Ullrich legt aber auch Wert darauf, dass Gewaltlosigkeit nicht in erster Linie in spektakulären Aktionen zivilen Ungehorsams gesehen werden darf, sondern dass ein „Lassen der Gewalt“ ein anspruchsvolles und mühsames Programm der Veränderung von Lebensweisen, Strukturen, Selbstverständlichkeiten, Beziehungen ist. Ein Beginnen, das immer wieder auch an Grenzen stößt. Gewaltverzicht hat auch einen Preis, und es gibt Situationen der Hilflosigkeit gegenüber der Gewalt. Aber: „Alle können beim Unterlassen mitmachen.“

Gewaltlosigkeit – Ullrich schließt sich stark an Gandhis Verständnis an – hat immer mehrere Dimensionen, die auf die vielen Aspekte von Gewalthandlungen und -strukturen antworten. Das „Lassen der Gewalt“ geschieht aber nicht in einer evolutionär zu denkenden Schrittfolge, in Eskalationsstufen oder einfachen Ursache-Wirkung-Zusammenhängen, sondern in schwierigen und widersprüchlichen Herausforderungen: „Für mich besteht der Gegensatz zum Freizeitpazifismus nicht in der hauptamtlichen Tätigkeit von Friedensfachkräften, sondern darin, dass die Nichtzusammenarbeit mit der strukturellen Gewalt Teil unserer ganzen Existenz wird.“

Nicht zu verletzen und nach Gerechtigkeit zu streben, entfaltet sich in folgenden Dimensionen:

  1. Nicht Unrecht tun (auch nicht für den guten Zweck);
  2. Nichtzusammenarbeit mit dem Unrecht: dazu gehören für Ullrich Verzicht auf Zinsen ebenso wie kritischer Konsum oder staatliche Strukturen nicht zu legitimieren, etwa indem man Ehrungen annimmt, sich an Wahlen beteiligt oder durch Treueeide. Er selbst hat zunächst keine Zulassung als Anwalt erhalten, weil er den Eid verweigert und dem Justizministerium mitgeteilt hatte, dass er seinem Gewissen eher folgen werde als dem staatlichen Gesetz; das Bundesverfassungsgericht ermöglichte ihm schließlich doch, Anwalt zu werden. Diese Konsequenz in der urchristlichen Tradition, die das Schwören verbietet („Dein Wort sei ja, ja, nein, nein, alles andere ist von Übel“) wurde durch die Täufer und den radikalen Flügel der Reformation im 16. Jahrhundert erneuert und war – neben der Verweigerung der Kindertaufe und Kriegsdienste – kennzeichnend für christliche Verwerfung der (Staats-)Gewalt. Damit an dieser „fundamentalistischen“ Stelle kein Irrtum entsteht: Ullrich fordert das keineswegs als notwendige Konsequenz oder allgemeine Pflicht, betont auch die unvermeidbaren Kompromisse und ein dialogisches Vorgehen. Aber an bestimmten Stellen eben auch „Experimente mit der Wahrheit“ zu machen.
  3. Widerstand gegen das Unrecht, auch wenn dieser Widerstand nicht aus sich heraus verhindern kann, was er ablehnt; oft geht es um Parteinahme und die persönliche Entscheidung, „ob wir bei denen sind die draußen stehen, oder bei denen, die drinnen die Tür zumachen“.
  4. Formen eines gerechten Lebens, Gemeinschaften, Kultur der Gewaltfreiheit. Diese vier Dimensionen stützen einander. Kämpfe gegen „Unrecht“ setzen bei Ullrich ein Rechts-Verständnis voraus, das sich von staatlichen Gesetzen nichts vorschreiben lässt und sich gerade gegen Zwang und Gewalt wendet: „Das Recht ist oft ohnmächtig und wird mit Stiefeln getreten.“

Immer wieder begründet er seinen Skeptizismus, Recht könnte etwa mit militärischer Gewalt durchgesetzt werden: dort siegt der Stärkere, nicht das Recht. Das Recht stellt sich – in seiner Perspektive – vielmehr der Gewalt und Staatsmacht entgegen, wirksam ist es besonders, wenn Recht aus zwangloser Einsicht und geteilten Überzeugungen entsteht.

Es ist hier nicht möglich, noch weitere Aspekte des gedankenreichen Buches zu diskutieren; es verdient festgehalten zu werden was auch Egon Spiegel in seinem „biographischen Rückblick“ auf die gemeinsamen Diskussionen und Erfahrungen mit seinem Freund Ullrich festhält: „Gandhis ‚Ent-deckung‘ der Gewaltfreien Aktion als eine politisch hoch wirksame Methode der Konfliktlösung impliziert die Ent-deckung des Anarchismus, des herrschaftsfreien Zusammenlebens auf allen Ebenen unseres sozialen Kosmos.“

Johann Bauer