Stadtpläne ganz in Schwarz, ver- wirrende Straßengeflechte, in denen jeweils nur ein einziger Straßenname in Rot, alle anderen in Schwarz geschrieben stehen. Auch die Holzrahmen sind rot, die die schwarzen Bilder umranden. Der jeweilige Name ist der eines italienischen Anarchisten (oder, im Falle von Sacco & Vanzetti, von zweien). Die Künstlerin Lavinia Raccanello hat, indem sie alle nach Anarchisten – Anarchistinnen sind nicht darunter – benannten Straßen in Italien in solche schwarzlackglänzenden Bilder verwandelt hat, eine Toponymie des italienischen Anarchismus geschaffen („Ritratto Anarchico d´Italia“, 2016). (1)
Sie bedient sich dabei einer Methode, die auch vielen emanzipatorischen sozialen Bewegungen nicht fremd ist: das vom Mainstream Verdrängte hervorholen, das von den Mächtigen Totgeschwiegene wiederbeleben. Parallelen in der Methode, wie diese, haben Anarchist*innen wie Kulturtheoretiker*innen immer wieder dazu veranlasst, eine Wesensverwandtschaft zwischen Kunst und emanzipatorischen Bewegungen zu behaupten: Unter dem Eindruck der großen Beteiligung von Künstler*innen an der Occupy-Bewegung von 2011ff. schrieb die Künstlerin und Kulturtheoretikerin Martha Rosler von einer künstlerischen Revolution, die wegen ihres Anspruchs auf „direkte Demokratie, ohne Repräsentation“ (2) anarchosyndikalistische Züge trage.
Müller-Guttenbrunn schrieb 1928 in ironischer Abgrenzung zum Bild vom Anarchisten als Mörder und Chaot, der einzige Mord, den er auszuüben gedenke, sei der „Mord am Schwachsinn“
Doch so einträchtig in der Wahl der Mittel, wie bei Raccanello und wie von Rosler hervorgehoben. sind Bewegungen und Kunstpraktiken nicht immer. Im Gegenteil, während emanzipatorische Protestbewegungen stets darum bemüht sind, ihre Anliegen möglichst vielen verständlich zu machen und Botschaften klar zu vermitteln, lebt die Kunst von Bedeutungsvielfalt und Undurchsichtigkeit. Es bedarf schon eines Expert*innenwissens, um einen Zugang zu ihr zu finden. Kunst ist oft sperrig, zumindest diejenige, die als solche in Galerien, Museen und Kunstzeitschriften als solche gehandelt, d.h. anerkannt wird. Damit grenzt und schließt sie viele aus. Denn die Zugangshürden zu ihr sind hoch, gebraucht wird Bildung, Zeit und der Glaube daran, dass es überhaupt sinnvoll ist, sich mit künstlerischen Arbeiten zu beschäftigen. Das Kunstsystem ist folglich ein relativ privilegierter Bereich in der Gesellschaft, der von Privilegierten gestaltet wird. (3)
Und gegen Privilegien haben Anarchist*innen selbstverständlich etwas. Die Anarchist*innen standen und stehen der Kunst des Kunstbetriebs wegen dessen Ausschlusscharakters daher oft ablehnend gegenüber. Schon der Mitbegründer des modernen Anarchismus, Michail Bakunin, erhob bereits 1869 den Vorwurf, die Kunst finde „unter Ausschluß und folglich auch zum Schaden der ungeheuren Mehrzahl“ (4) der Bevölkerung statt. Um den Nicht-Eingeweihten nicht weiter zu schaden, wollten auch diverse Akteur*innen der künstlerischen Avantgarden selbst immer wieder „die Kunst“ in „das Leben“ überführen. Diese historischen Versuche sind letztlich alle misslungen, auch wenn und gerade weil die Aufhebung der Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit, die Verbreitung von Kreativität und Flexibilität längst ganz andere als kulturschaffende Milieus erreicht hat. Während die Avantgarde-Forderungen sich unter kapitalistischen Bedingungen zum neoliberalen Imperativ pervertiert haben, erfreut sich der Kunstbetrieb in seiner relativen Abgeschlossenheit bestem Funktionieren.
Trotzdem ist nicht alles verloren. Ohne eine Wesensverwandtschaft zwischen Anarchismus und Kunst zu behaupten, gibt es eine Alternative zur Totalopposition. Sie heißt kritische Partizipation. (Und weil das nicht sehr anarchistisch klingt, nennen wir es eben postanarchistisch. Das ist nicht nur flapsig dahingesagt, sondern beschreibt ein Charakteristikum postanarchistischer Haltung, nämlich in einer von vielerlei Herrschaftsformen geprägten Welt keine rein herrschaftslose Praxis für möglich zu erachten.) Lavinia Raccanellos Arbeit wäre ein Beispiel dafür.
Es gibt viele weitere Beispiele, bei denen anarchistische Inhalte über eine formale Bearbeitung durch KünstlerInnen einem Publikum präsentiert wurden und werden, die sonst nie damit in Berührung gekommen wären. Die Skulptur des Anarchisten Paul Wulf, die die Künstlerin Silke Wagner 2007 gemeinsam mit Graswurzelrevolution-Redakteur Bernd Drücke und weiteren Aktivist*innen rund um das Münsteraner Umweltzentrum-Archiv entwickelt hatte, ist ein weiteres solches Beispiel. Die Skulptur war als Teil einer alle zehn Jahre stattfindenden Großausstellung im öffentlichen Raum platziert worden und sorgt bis heute für Diskussionen weit über die Westfälische Studierendenstadt hinaus. (5)
Im Grazer Kunstverein rotor. Zentrum für zeitgenössische Kunst fand Ende 2019 die Ausstellung „Alphabet des anarchistischen Amateurs“ statt. (6) Darin wurden 51 künstlerische Arbeiten gezeigt, die sich mit dem gleichnamigen Text des Anarchisten Herbert Müller-Guttenbrunn auseinandersetzten. (7) Ohne auf die einzelnen Arbeiten hier eingehen zu können, war diese Schau als Ganze ein weiteres Beispiel für kritische Partizipation, also dafür, mit anarchistischer Kritik am Kunstbetrieb teilzunehmen. Diese Teilnahme am Kunstbetrieb hat, seitdem die impressionistischen Gemälde des Anarchisten Camille Pissarro (1830-1903) im staatlich organisierten Salon de Paris ausgestellt wurden, viele interessante Formen angenommen und diverse Wege eingeschlagen. Die Geschichte dieser Wege gilt es, sich zu vergegenwärtigen, auch und gerade weil sie der im Anarchismus in der Regel propagierten, kollektiven Selbstermächtigung jenseits bestehender Institutionen so gar nicht entspricht.
Müller-Guttenbrunn schrieb 1928 in ironischer Abgrenzung zum Bild vom Anarchisten als Mörder und Chaot, der einzige Mord, den er auszuüben gedenke, sei der „Mord am Schwachsinn“(8). Und dazu, sollte man meinen, lassen sich Kunsträume doch allemal nutzen.
(1) Vgl. https://www.laviniaraccanello.com/selectedworks/ritrattoanarchicoditalia (2016)
(2) Martha Rosler: „The Artistic Mode of Revolution“. In: Dies.: Culture Class. Berlin: Sternberg Press 2013, S. 191-224, hier S. 214. [Übers. O.L.]
(3) Zur Kunst im Anarchismus vgl. auch das entsprechende Kapitel in Jens Kastner: Die Linke und die Kunst. Ein Überblick. Münster: Unrast Verlag 2019, S. 43ff.
(4) Michail Bakunin: „Die vollständige Bildung“ [1869]. In: Ders.: Staat, Erziehung, Revolution. Ausgewählte Texte (1861-1871). Herausgegeben, eingeleitet und kommentiert von Philippe Kellermann. Lich: Edition AV 2015, S. 321-350, hier S. 322.
(5) Vgl. Freundeskreis Paul Wulf (Hg.): „Ich lehre Euch Gedächtnis“. Paul Wulf. NS-Opfer, Antifaschist, Aufklärer. Mit einem Vorwort von Konstantin Wecker, Unrast, Münster, voraussichtlich Frühjahr 2021
(6) rotor. Zentrum für zeitgenössische Kunst: „Alphabet des anarchistischen Amateurs“. 22.9.–21.12.2019, https://rotor.mur.at/frameset_programm-ger.html
(7) Herbert Müller-Guttenbrunn: Alphabet des anarchistischen Amateurs. Herausgegeben von Beatrix Müller-Kampel. Berlin: Verlag Matthes & Seitz 2019.
(8) Zit. n. Beatrix Müller-Kampel: „Der aussichtslose Versuch, den Spiritus zu rektifizieren“. In: Müller-Guttenbrunn 2019, a.a.O., S. 282-293, hier S. 285.
Dies ist ein Beitrag aus der aktuellen Druckausgabe der GWR. Schnupperabos zum Kennenlernen gibt es hier.