Es war in den 1970er Jahren, als das Kollektiv des Libertad Verlags und das Verlegerpaar Karin und Bernd Kramer sich gemeinsam das Foto Kropotkins auf dem Cover einer Broschüre der Reihe „anarchistische texte“ ansahen. Irgendjemand rief, dass dieser ja wie der liebe Gott aussehen würde! Darauf entgegnete Bernd, dass der ja auch der liebe Gott sei!
Wir lachten alle einmal mehr über seine satirischen Anwandlungen. Alle verstanden sein Bonmot aber auch als besondere Wertschätzung Kropotkins und des kommunistischen Anarchismus‘, die damals zu Zeiten der antiautoritären Revolte in der Anarchoszene bestand. Seine Popularität bei den Junganarchos speiste sich aus dem größeren humanistischen Mehrwert, den sein kommunistischer Anarchismus versprach, gegenüber dem Marx’schen – aber auch Bakunin’schen – Kollektivismus, der uns zu sehr dem bürgerlichen Leistungsprinzip verhaftet schien. Der Anarchismusforscher Heinz Hug bemerkt, dass Kropotkin der anarchistische Theoretiker sei, dessen Gedanken über die anarchistische Bewegung hinaus (nicht nur) in der Arbeiterbewegung am meisten verbreitet seien.(1) Sein guter Ruf ist auch eine Folge der authentischen Lebenspraxis eines Libertären, der ein überaus kreativer und charismatischer Mensch gewesen sein muss: Ein Angehöriger des russischen Hochadels, dem die Karriere für eine Militärlaufbahn schon mit in die Wiege gelegt schien, der sich dann aber für ein individuelles und interessengeleitetes Leben als Geograf, Reisender, revolutionärer Philosoph und politischer Autor entschieden hat.
Aus Naturbeobachtungen auf ausgedehnten Reisen (4) und wissenschaftlichen Studien zieht Kropotkin den Schluss, dass Gesellschaftlichkeit und solidarisches Zusammenwirken allgemeine Konstanten in der Entwicklung der Arten schlechthin sind. Keine Entwicklung innerhalb derselben Art gehe auf Perioden gegenseitigen Kampfes zurück – im Gegenteil – sondern sei das Ergebnis der Erfahrung von Kooperation und einer damit einhergehenden Moral.
Ökologie und Tierrechte
Kropotkins Perspektive der konstruktiven Entwicklungsgrundlagen sozialen Lebens von Tieren und Menschen wirkt geradezu modern. Sein undogmatischer Blickwinkel einer auf Beobachtung und Glaubensfreiheit beruhenden vergleichenden Methode besitzt aktuelle Relevanz im Bereich der Ökologie- und Tierrechtsbewegung. Heutzutage ist das Wissen über den Zusammenhang von Klimawandel, Ausbeutung der Naturressourcen, dem Rückzug von Flora und Fauna auf schwindende Naturräume und steigendem Druck auf die sozial Schwachen weit verbreitet. Medienberichte über den Kontext von Umweltzerstörung, Fleischkonsum und daraus entwickelter Virusmutationen zeigen allen die Destruktivität tradierter Wirtschafts- und Ernährungsweisen auf. Der im Corona-Lockdown geübte Verzicht auf gewohntes Freizeit- und Konsumverhalten zwingt zum Nachdenken über Alternativen. Jüngste solidarische Selbsthilfeinitiativen in der Coronapandemie bilden den Hintergrund einer Chance der Überprüfung eines extrem konsumeristischen Gesellschafts- und Lebensmodells. In Kropotkins Schriften „Die gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt“ (2) und „Anarchistische Moral“ (3) werden die Formen von Geselligkeit, Solidarität und Empathie menschlicher und tierischer Gesellschaften analysiert und verglichen. Aus Naturbeobachtungen auf ausgedehnten Reisen (4) und wissenschaftlichen Studien zieht Kropotkin den Schluss, dass Gesellschaftlichkeit und solidarisches Zusammenwirken allgemeine Konstanten in der Entwicklung der Arten schlechthin sind. Keine Entwicklung innerhalb derselben Art gehe auf Perioden gegenseitigen Kampfes zurück – im Gegenteil – sondern sei das Ergebnis der Erfahrung von Kooperation und einer damit einhergehenden Moral.
Moralisches Handeln
Kropotkin stellt dazu folgendes fest: „Die Moral, die sich aus den Beobachtungen des gesamten Tierreichs entwickelt und welche um vieles die der Christen übertrifft, kann man so resümieren: ‚Tue den anderen, was du willst, das dir in ähnlichen Umständen zu teil wird‘, und sie fügt bei: ‚Es ist bloß ein Rat, den ich dir gebe, aber ein Rat, der die Frucht langer Lebenserfahrungen der in Gesellschaft lebenden Tiere ist; und bei der unendlichen Masse gesellschaftlicher Tiere, den Menschen mit einbegriffen, ist das Handeln nach diesem Prinzip zur Gewohnheit geworden. Ohne diesen Faktor könnte übrigens keine Gesellschaft fortbestehen, keine Rasse (5) könnte all die natürlichen Hindernisse überwinden, gegen welche sie zu kämpfen hat.‘“ (6)
An Kropotkins Begräbnis am 13. Februar 1921 in Moskau nahmen tausende russischer Anarchist*innen teil, die für einen Tag aus dem Gefängnis freigelassen wurden. Es war das letzte Aufbäumen der anarchistischen Bewegung in der Sowjetunion. Viele verloren im real existierenden Kommunismus ihr Leben in den Gulags. Das terroristische Selbstbehauptungsregime à la Lenin und Stalin mündete schließlich im Bankrott des Realsozialismus. Der Realkapitalismus hat uns die Notwendigkeit seines Endes angesichts der Klimakatastrophe aufgezeigt. Mit Kropotkin kann der Schluss gezogen werden, dass nur Empathie und Solidarität mit Anderen – Menschen und Tieren –, unter Einbeziehung konstruktiver Kritik und revolutionären Handelns, das Überleben von Mensch und Tier und den Erhalt der natürlichen Grundlagen sichern kann.
(1) http://dadaweb.de/wiki/Kropotkin,_Pjotr_Alexejewitsch (2) Peter Kropotkin: Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt, Frankfurt/M., Berlin, Wien 1975 (3) Peter Kropotkin: Anarchistische Moral (3. Aufl.), Berlin 1922 (4) ders.: Petr Kropotkin. Memoiren eines Revolutionärs. Frankfurt am Main 1973 (5) Im Bedeutungszusammenhang Kropotkins würde heutzutage der Begriff „Rasse“ durch „Art“ ersetzt werden (der Verf.) (6) In: Peter Kropotkin: Anarchistische Moral, S. 17.
Dies ist ein Beitrag aus der aktuellen Druckausgabe der GWR. Schnupperabos zum Kennenlernen gibt es hier.