Von Argentinien über die USA und Spanien bis nach Polen gehen Frauen auf die Straße, um die Einschränkungen ihres Rechts auf Abtreibung zu bekämpfen. 2016 organisierten Frauen in Polen den „Landesweiten Frauenstreik“, der bis heute andauert. Diese Geschehnisse inspirierten die Regisseurin Joanna Popińska, mit der Technologie VR (virtual reality) eine sogenannte Immersive Dokumentation zum Thema Abtreibung zu entwickeln. Dieses innovative Format ermöglicht uns den Dialog mit Frauen, die über ihre Abtreibungs-Erfahrungen berichten, und lässt uns in ihre Realität eintauchen.
Quelle: Youtube
Herstory
„Ich habe den Menschen hier in Kanada über den Frauenstreik in Polen berichtet. Die Leute hier haben keine Vorstellung davon, was in Polen geschieht. Mir wiederum war neu, wie selbstverständlich man in Kanada offen über Abtreibung sprechen kann“, sagt Joanna. Sie habe mit einer Freundin in Kanada über eine Bekannte in Polen gesprochen, die ungeplant schwanger und in einer schwierigen Lebenssituation war. Joanna: „Wir saßen im Café und sie sagte laut: ‚Kann sie es nicht abtreiben?‘ – Überrascht sah ich sie an und sagte: ‚Und du kannst hier so laut darüber reden?‘ – ‚Warum nicht‘, antwortete sie.“ An diesem Punkt wurde Joanna bewusst, welche Möglichkeiten in dieser selbstverständlichen Offenheit liegen: Die Menschen sind bereit, ihre Erfahrungen offen zu teilen.
In Polen sind Abtreibungserfahrungen tabuisiert, auch wenn der anhaltende Frauenstreik den Diskurs langsam verändert. „Ich habe eine Analyse von Filmen durchgeführt, die sich mit dem Thema Abtreibung befassen, und oft, auch wenn sie als Pro-Choice gelten, gibt es den unterschwelligen Hinweis, dass Abtreibung gefährlich ist, die Frau stirbt oder eine nervöse Störung bekommt. Im Allgemeinen lautet die Botschaft, dass sich der Zuschauer um ihren körperlichen und psychischen Zustand sorgen muss“, sagt Joanna. Im Rahmen ihrer Analyse stellte sie fest, dass es sowohl in Polen als auch in Kanada keine öffentlichen Stimmen von Frauen gab, die beschlossen hatten, die Schwangerschaft abzubrechen. Nur im Internet kann man anonyme Berichte von Frauen finden. „Da beschloss ich, Geschichten öffentlich zu machen, die dir ein Gesicht und einen Namen zeigen“, fügt Joanna hinzu. „Ich glaube, dass persönliche, direkte Geschichten dieser Art äußerst kraftvoll sind und unsere Emotionen beeinflussen. Es ist viel einfacher, eine bestimmte Person zu verstehen und sich mit ihr, wenn auch nur für eine Weile, zu identifizieren.“ Hier erwies sich die VR-Technologie (virtual reality) als hilfreich, die es dem Zuschauer durch VR-Brillen nicht nur ermöglicht, „face-to-face“ Frauen über ihre Erlebnisse sprechen zu sehen, sondern ihnen auch Fragen zu stellen.
Das Besondere am Projekt „The Choice VR“ ist die Schaffung einer interaktiven Situation, die einerseits für die Erzählerin sicher ist und es andererseits dem Zuschauer, der mit einem schwierigen und intimen Thema konfrontiert wird, ermöglicht, sich in die Situation der Erzählerin hineinzuversetzen und ihre Emotionen und Motive zu verstehen. „VR ist eine neue Sprache, eine neue Grammatik und stellt den Zuschauer und den Inhalt (content) in eine völlig neue Beziehung zueinander. Persönliche Beziehungen haben Bedeutung, sie beeinflussen, wie du andere wahrnimmst. Deshalb dachte ich, VR kann dir helfen, mit einer Frau zu sprechen, die eine Abtreibungserfahrung hinter sich hat, und anstatt ein Buch oder einen Artikel zu lesen, anstatt Aktivisten auf beiden Seiten oder dem Priester auf der Kanzel zuzuhören, konzentrierst du dich auf eine persönliche Geschichte, auf einen Menschen“, erklärt Joanna.
Projektteilnehmerinnen
Joanna suchte nach Interview-Teilnehmerinnen online, in Foren über Abtreibung oder in sozialen Medien. Das Hauptproblem war die mangelnde Anonymität – einige der potenziellen Teilnehmerinnen, die generell bereit waren, an dem Projekt teilzunehmen, hatten Angst, ihr Gesicht zu zeigen. Joanna: „Ich wollte, dass du in der VR den Eindruck hast, dass du mit jemandem sprichst, den du kennst, mit einer Freundin oder einem Familienmitglied. Ich wollte nicht, dass du das Gefühl hast, mit irgendeiner Aktivistin zu sprechen, sondern dass dies jemand ist, den du kennst. Und dafür brauchte ich Frauen, die ihre Geschichte noch nicht geteilt hatten, weil ich wollte, dass sie natürlich, emotional sind, und wenn ich ihnen eine Frage stelle, antworten sie genauso als würden sie ihrer Freundin antworten, der sie sich anvertrauen. Und das war eine Hürde, weil es schwieriger ist, jemanden zu überzeugen, der selbst dieses Thema noch nicht bearbeitet und sich niemandem anvertraut hat.“
Erst die Hilfe von Joyce McArthur von „The Abortion Rights Coalition of Canada“, die potenziellen Interessentinnen Informationen über das Projekt weitergab, war erfolgreich. Die Vermittlung durch eine Vertrauensperson, die im Kontakt mit Frauen steht, die sich für eine Abtreibung entscheiden und diese dabei unterstützt, erwies sich als entscheidend, um die erste Teilnehmerin am Projekt zu gewinnen. Es war Marcia aus Toronto, die von ihrer Abtreibung in New York in den 50er Jahren erzählte. Das Gespräch mit ihr war ein Versuch, das Format auszuprobieren, die Fragen und die Gesprächsführung zu testen. Daraufhin meldeten sich immer mehr Frauen bei Joanna, zum Teil auch mit schriftlichen Erfahrungsberichten. Da es vielen Frauen leichter fiel, ihre Erfahrungen aufzuschreiben, als sie per VR zu teilen, beschloss Joanna, diese Berichte auf einem Blog zu veröffentlichen: „Auf die Webseite setze ich Geschichten, die die Frauen selbst schreiben, ich mische mich überhaupt nicht ein, Frauen schicken mir ihre Geschichten und Fotos.“
Einfach ein Mensch sein
Das erste Interview, das mit der VR-Technologie aufgezeichnet wurde, war ein Gespräch mit Elizabeth, einer 18-jährigen Obdachlosen aus Toronto. Sie meldete sich einige Stunden nach der Abtreibung bei Joanna, nachdem sie ein Poster mit Informationen über das Projekt in der Klinik gesehen hatte. Elizabeth hatte eine ungeplante Schwangerschaft. „Und sie hatte nicht das Geld für Essen, für eine Wohnung, für nichts, und da dies Kanada ist, rief sie einen Sozialarbeiter an, der ihr Kontaktinformationen für eine Abtreibungsklinik gab, in der das Verfahren kostenlos war. Derzeit ist Elizabeth in der Schule, hat eine Wohnung und führt ein normales Leben. Später möchte sie Mutter werden, wenn sie geistig, körperlich und materiell dazu bereit ist. Das ist also eine positive Geschichte“, erklärt Joanna.
Die Projekt-Teilnehmerinnen verlassen die Anonymität. Man kann ihre Gesichter, Reaktionen und Emotionen sehen, die die Geschichte begleiten. Deshalb ist es wichtig, zunächst eine Atmosphäre des Vertrauens zu schaffen. Joanna: „Ich rede vorab mit ihnen. Ich habe Elizabeth und ihre Geschichte ein paar Wochen zuvor kennengelernt und eine Liste mit Fragen zusammengestellt: Was ist wichtig, was sind die Stereotypen, Untertreibungen und Zweifel, und was wissen die Leute nicht und welche Fragen trauen sie sich nicht zu stellen? Eine so grundlegende Frage lautet zum Beispiel: Wie hast du diese Entscheidung getroffen? Und wie fühlst du dich mit dieser Entscheidung? Hast du keine Angst davor? Was passiert bei einer Abtreibung? Tut es weh? Diese Art von Fragen. Fragen nach den Mythen über Abtreibung, Fragen zur Lebenssituation und zum Weltbild, zu Themen wie Religion oder Adoption. Daraus entstand eine Datenbank mit ‚allgemeinen‘ Fragen, die ich jeweils an die spezifische Situation meiner Gesprächspartnerin anpasse und an das, was für sie wichtig ist.“
Bevor die Aufzeichnung des Interviews stattfindet, trifft Joanna die Frau nochmals, um alle Fragen gemeinsam durchzugehen und gegenseitiges Vertrauen zu schaffen. „Ich frage, ob sie diesen Fragen zustimmt. Schwierig ist zum Beispiel die Frage, ob die Erzählerin eher in der Kategorie ‚Kind‘ oder ‚Fötus‘ gedacht hat, welche Gefühle und Gedanken sie in diesem Zusammenhang hat, und wie sie sie beeinflusst haben. Ich möchte diese Fragen stellen, weil es darum in dieser ganzen Diskussion über Abtreibung geht. Aber ich frage sie, ob wir darüber reden können oder nicht. Ich möchte, dass sie sich sicher fühlen, dass sie teilen, was sie wollen.“
Kristen hätte nicht einen halben Tag lang einen toten Fötus gebären müssen, wenn der Arzt sie frühzeitig aufgeklärt hätte, dann wäre sie in einem völlig anderen körperlichen und psychischen Zustand. Aber weil ihre Ärzte ‚Lebensschützer‘ waren und das Gesetz in Texas es ihnen erlaubte, haben sie ihr Informationen vorenthalten, um eine Abtreibung zu verhindern.“
Daher entscheiden die Erzählerinnen selbst, was letztendlich veröffentlicht wird. Am Ende erscheinen sie vor der Kamera, um ihre eigene Abtreibungsgeschichte unter ihrem eigenen Namen zu erzählen. Joanna: „Weil sie es zum ersten Mal und mit einem Fremden teilen, ist klar, dass viele Emotionen ausgelöst werden, weil viele Dinge herauskommen, wenn ich sie mit meinen Fragen irritiere, also sage ich ihnen ganz am Anfang, dass sie immer sagen können: ‚stopp‘ oder ‚ich habe zu viel gesagt, schneid das raus.‘ Ich gebe ihnen auch den Kontakt zu einer Psychologin, die sich um Frauen nach einer Abtreibung kümmert. Die Frauen können sie jederzeit anrufen. Ich hatte auch einen Moment des Zweifels, was ich tun sollte, wenn wir während unseres Gesprächs zu viele Wunden oder Emotionen öffnen, mit denen wir beide – die Erzählerin und ich – nicht umgehen können. Ich sprach mit der Psychologin darüber, sie beruhigte mich und unterstützte mich und sagte: ‚Mach dir keine Sorgen, du bist da, um ihnen zuzuhören, mit ihnen zu sprechen. Und das ist deine Aufgabe: für sie ein Mensch zu sein. Und wenn sie noch etwas brauchen, bin ich hier.‘ Es gab mir ein fantastisches Gefühl der Sicherheit und die Frauen, die hörten, dass wir solche Unterstützung haben, entspannten sich und sagten: ‚Danke, dass du daran gedacht hast.‘“
VR-Experience
Im Jahr 2018 führten Joanna und Tom C. Hall ein Crowdfunding (Spendenaufruf) durch, mit dem sie die Arbeit an der Konzeption und Entwicklung einer einzigartigen Technologie finanzieren konnten. Sie wollten einen Effekt, der so realistisch wie möglich ist, damit die Zuschauer die Präsenz der Erzählerin fast physisch spüren. Joanna und Tom nutzen eine innovative Kombination volumetrischer und stereoskopischer Technologie. Die Stereoskopie ermöglicht einen 3D-Effekt, d.h. den optimalen Effekt des räumlichen Sehens. Die volumetrische Technologie ermöglicht wiederum die Erzeugung räumlicher Figuren, z.B. Akteure, die im realen oder virtuellen Raum platziert werden können. Im Fall von „The Choice VR“ wurden die Erzählerinnen in einen virtuellen Raum platziert. Der Zuschauer betritt den dreidimensionalen Raum des Films, um sich „face-to-face“ mit Frauen zu treffen, die seine Fragen beantworten. Dadurch hat der Zuschauer den Eindruck, an einem echten Gespräch teilzunehmen: Der Zuschauer-Empfänger wird zum Zuschauer-Teilnehmer.
„Bei einer normalen Kamera im Telefon oder Fotokamera zeichnet die Kamera das Bild auf, jedoch ohne Informationen über die Tiefe und die Position von Objekten und Punkten im Raum. Volumetrische Kameras zeichnen wiederum nur Informationen über die Tiefe auf. Und wir haben volumetrische VR und stereoskopisches 3D kombiniert. Unsere Technologie ist eine Kombination über Tiefe- und 3D-Informationen. Dies ist sehr wichtig, da du damit nicht nur die Anwesenheit einer Person physisch spüren, sondern buchstäblich den Funken des Lebens in ihren Augen sehen kannst. Die Erzählerin wirkt nicht wie ein Avatar, sondern tritt dir lebendig entgegen“, erklärt Joanna und fügt hinzu: „VR verkürzt die Distanz. Wenn du die VR-Brille auf den Kopf setzt, verschwindet die Realität, in der du dich befindest, aus dem Blickfeld deines Verstandes und du betrittst eine andere Realität. Und dein Verstand, dem beigebracht wurde, dass das, was du vor deinen Augen hast, real ist, beginnt es als real zu fühlen obwohl dein Bewusstsein weiß, dass du einen Film schaust – aber dein Verstand traut mehr deinen Augen als deinem Bewusstsein. Und das unterscheidet VR von jedem anderen Medium darin, dass dein Verstand es wie eine Erinnerung an etwas abspeichert, das dir passiert ist.“ Deshalb wird statt von VR-Filmen von einer VR-Erfahrung (VR-experience) gesprochen. Wenn über VR gesprochen wird, wird häufig ein Schlüsselwort verwendet, das die Essenz dieses Mediums sehr stark widerspiegelt: Präsenz (presence), d.h. Anwesenheit in diesem Raum. Joanna wollte, dass beim Gespräch mit der Erzählerin der Zuschauer sowohl in diesen geschaffenen Raum ‚eintaucht‘ (immerse), als auch die Anwesenheit der Erzählerin sehr stark spürt, damit er das Gefühl hat, direkt mit ihr zu sprechen.
Das Interview wird vor einem schwarzen Hintergrund gefilmt: „Ich wollte, dass die Außenwelt abgetrennt ist, um die Konzentration auf die Gesprächspartnerin zu lenken. Aber genau wie im wirklichen Leben schauen wir jemandem während eines Gesprächs nicht ununterbrochen in die Augen. Ich wollte auch, dass der Zuschauer herumschauen könnte. Nun, die Frage war, wohin sollst du schauen und was sollte deine Aufmerksamkeit erregen? In einer alltäglichen Umgebung konzentriert sich der Zuschauer auf bestimmte Objekte, weil er denkt, dass sie für die erzählte Geschichte wichtig sind. Und so wird der Zuschauer abgelenkt. Das ist wissenschaftlich belegt. Ich wollte aber, dass die Frau im Mittelpunkt steht. Da hatte ich die Idee, Illustrationen zu machen und den Raum damit zu füllen, um die Aufmerksamkeit des Zuschauers so zu lenken, dass er die Möglichkeit hat, seitwärts zu schauen. Die Illustrationen überlasten den Zuschauer weder visuell noch mental zu sehr und geben ihm den mentalen Raum, der für jede Interaktion benötigt wird, insbesondere so eine emotionale und intensive.“
Jede Geschichte ist anders
Die Aufnahmen selbst dauern mehrere Stunden. Das Set besteht aus Joanna als Interviewerin und Tom C. Hall, der mit der technischen Seite der Aufnahme beschäftigt ist. Aufgrund der geringen finanziellen Ressourcen kümmern sich Joanna und Tom – unter dem Namen „Infinite Frame Media“ – um alle Aspekte der Produktion: vom Konzept über die Vorbereitung, Durchführung bis hin zur Postproduktion. Das begrenzte Budget und ein kleines Team wirken sich nicht nur auf die Art des Materials, den Verlauf des Kontakts und des Interviews mit den Projektteilnehmerinnen aus. Auch intensiviert der Ablauf in einer so begrenzten Gruppe den Kontakt mit den Erzählerinnen, was ihnen eine Atmosphäre des gegenseitigen Vertrauens im Produktionsprozess sichert. „Hier haben wir aus der Not eine Tugend gemacht, denn wenn wir mehr Geld gehabt hätten, hätte ich mehr Leute eingestellt und gar nicht gemerkt, was wir dadurch verloren hätten“, erklärt Joanna.
In dieser Nähe wächst das nötige Vertrauen, um auch sehr schwierige Geschichten zu erzählen. Geschichten wie die von Kristen, die eine Abtreibung aus medizinischen Gründen hinter sich hat. „Kristen ist fast 30 Jahre alt, sie plante eine Familie und einen Haufen Kinder.“, erklärt Joanna: „Die Ärzte informierten Kristen zu Beginn ihrer Schwangerschaft nicht über signifikante Missbildungen des Fötus – und auch nicht darüber, dass die Fortführung der Schwangerschaft für Kristen selbst lebensbedrohlich war. Diese Informationen wurden absichtlich zurückgehalten, um eine Abtreibung zu verhindern. Leider erlaubt das Gesetz in Texas dies. Kristen erfuhr es erst von einem anderen Arzt, als sie bereits im fünften Monat schwanger war. Eine Abtreibung so spät in ihrer Schwangerschaft war nicht nur körperliche, sondern auch psychische und emotionale Folter. Aber als wir anfingen zu reden, stellte sich heraus, dass ihre Geschichte zugleich eine Geschichte über die unglaubliche Liebe zwischen ihr und ihrem Ehemann war, über die große Liebe zu diesem Kind und über Einsamkeit und Leere, weil sie nie die Möglichkeit hatte, das Kind zu umarmen, es zu sehen, und dass es keine Zukunft für es gibt. Diese Geschichte ist sehr stark, sowohl für Anti-Choice- als auch für Pro-Choice-Leute. Ich möchte dem Zuschauer genau dieses Gefühl geben, dass du nicht weißt, was du sagen sollst, dass du nicht weißt, was du tun sollst, und dass du dich einfach hilflos fühlst, wenn du diese Geschichte hörst, genau wie Kristen. Mein Ziel war es von Anfang an, Leute, die an der Grenze zwischen Anti-Choice und Pro-Choice stehen, mit betroffenen Menschen zu konfrontieren – keine Politik, keine Argumente, keine Agenda, nur Menschen. Ich möchte, dass diese Leute anfangen, über eine bestimmte Geschichte nachzudenken und darüber, und ob sie diese konkrete Frau verstehen. Ich möchte, dass diese Leute sich selbst erlauben, sich darüber Gedanken zu machen.“ So können sie sich mit ihren eigenen Stereotypen und Vorurteilen gegenüber Frauen, die sich für eine Abtreibung entscheiden, auseinandersetzen und Empathie und Verständnis entwickeln.
The medium is the message?
Ziel des Projekts ist es, Stereotypen über Abtreibung und Frauen, die Abtreibungen durchführen und sozialem Stigma ausgesetzt sind, zu bekämpfen. Funktioniert es? „Viele Menschen, die Anti-Choice sind, haben nie wirklich mit einer Frau gesprochen, die eine Abtreibung hatte. Sie kennen Abtreibung nur aus den Medien oder aus der Sonntagspredigt. Solche Menschen ändern häufig ihre Meinung und werden offener, wenn es eine Abtreibung in ihrem familiären Umfeld gibt. Und das ist die Stärke von ‚The Choice VR‘: du triffst eine Frau und sprichst mit ihr, als würdest du mit jemandem sprechen, den du kennst“, erklärt Joanna und gibt ein Beispiel: „Auf einer VR-Konferenz in Toronto haben wir unser Projekt vorgestellt. Nach unserer Rede kam ein VR-Guru auf mich zu und begann mit lauter Stimme, damit alle ihn hören konnten, auf mich einzureden: Unser Projekt sei tendenziös, Abtreibung sei etwas durchweg Böses, und ich solle VR lieber verwenden, um zerrissene Föten zu zeigen, damit alle sehen, was Abtreibung wirklich ist. Er war jedoch bereit, sich unsere Demo anzusehen, ein Teil des Interviews mit Elizabeth. Ein paar Minuten vergingen, er nahm die VR-Brille ab und schwieg. Dann sah er mich an und sagte: ‚Entschuldigung, das habe ich nicht bedacht, es tut mir leid.‘ Er wusste nicht, was er sagen sollte. Dann gratulierte er uns zu unserem Projekt und dem Mut, an etwas so Wichtigem zu arbeiten. Nach einer Weile trafen wir ihn auf der VR-Konferenz in San Francisco und er ermutigte andere, sich unsere Demo anzusehen.“
Joanna macht sich jedoch keine Illusionen: „VR ist ein Medium, das noch nicht sehr verbreitet ist, das heißt, jeder hat davon gehört, aber kaum jemand nutzt es. Als Entwickler möchten wir, dass ‚The Choice VR‘ kostenlos verfügbar ist, zum Herunterladen für zu Hause, damit der Zuschauer Zeit für dieses Gespräch und für mögliche spätere Gedanken hat. Unser Ziel ist es, dass Aktivisten und Organisationen wie ‚Planned Parenthood‘ diese Materialien beispielsweise bei Treffen mit jungen Menschen in Schulen verwenden. Ich denke, dass viele Leute unsere Dokumentation nicht wegen des Themas, sondern wegen der technologischen Neuheit und Aufnahmetechnologie ansehen werden. Wie dieser VR-Guru, der unsere Demo gesehen hat, nur weil es VR ist – er hätte kein YouTube-Video über Abtreibung angesehen. Aus diesem Grund denke ich, dass viele junge Menschen eine VR-Brille tragen werden, insbesondere Männer, da die demografisch größte Gruppe der VR-Nutzer Männer zwischen 15 und 25 sind.“
Foto: Infinite Frame Media
Immersive Dokumentation
Joanna verwendet für ihr Projekt den Begriff „Immersive Dokumentation“ (immersive documentary): „Wenn ich sage, dass es sich um eine Dokumentation handelt, fragen mich viele Leute, warum ich nicht die Geschichten von Menschen zeige, die sich entschieden haben, eine ungewollte oder gefährliche Schwangerschaft auszutragen. Unser Thema ist jedoch nicht Schwangerschaft, sondern Abtreibung und das Treffen einer Abtreibungsentscheidung. Und deshalb möchte ich zeigen, wie diese Entscheidung verläuft und wie diese Menschen sind, und die Gelegenheit geben, sie kennenzulernen. Ich bin kein Journalist, der verpflichtet ist, die Situation ‚dafür‘ und ‚dagegen‘ und ‚objektiv‘ darzustellen. Ich glaube immer noch, dass das, was ich tue, objektiv ist, auch wenn es aus Sicht der Pro-Choice ist, und ich denke, dass es wichtig ist, diese Geschichten zu zeigen. Einige sind der Meinung, dass ein Dokumentarfilmer nicht involviert sein und keine Ansichten haben sollte. Ich glaube, dass ich das Recht habe, Ansichten zu haben, und ich habe das Recht, sie darzustellen, und ich muss sie ehrlich und offen zeigen. Die Entscheidung liegt bei dir: Entweder entscheidest du dich dafür, den Film zu sehen, oder eben nicht.“
Joanna versteht sich nicht als Aktivistin. Sie verfolgt die Ereignisse in Polen und unterstützt die protestierenden Frauen. Sie macht auf die unmenschliche Behandlung von Frauen aufmerksam, die wie eine ihrer Erzählerinnen, Kristen, aufgrund des Entzugs ihres Rechts auf Abtreibung durch religiöse Fundamentalisten gezwungen sind, körperliches, psychisches und emotionales Leiden auf sich zu nehmen: „Wenn du schwanger bist und fragst dich selbst, ob du schwanger sein willst oder nicht, dann kannst du in den ersten sechs oder zwölf Wochen der Schwangerschaft die Entscheidung treffen. Wenn du bereits im fünften oder sechsten Monat bist, ist es völlig anders. Kristen hätte nicht einen halben Tag lang einen toten Fötus gebären müssen, wenn der Arzt sie frühzeitig aufgeklärt hätte, dann wäre sie in einem völlig anderen körperlichen und psychischen Zustand. Aber weil ihre Ärzte ‚Lebensschützer‘ waren und das Gesetz in Texas es ihnen erlaubte, haben sie ihr Informationen vorenthalten, um eine Abtreibung zu verhindern.“
UnterstützerInnen gesucht
Das Projekt wird dank Crowdfunding sowie kleiner Zuschüsse, die „The Choice VR“ von der Community der VR-Künstler „Kaleidoscope“ erhalten hat, umgesetzt. Dies reicht aber vorne und hinten nicht. Das Team arbeitet ohne Vergütung, um dieses wichtige Projekt voranzubringen. Für das Frühjahr 2021 ist die Premiere des ersten Kapitels der Dokumentation geplant. Das Projekt kann über PayPal unterstützt werden. Gesucht werden aber auch Sponsoren.
Der Artikel basiert auf einem Interview mit Joanna Popińska, das die Autorin geführt und aus dem Polnischen übersetzt hat.
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Dies ist ein Beitrag aus der aktuellen Druckausgabe der GWR. Schnupperabos zum Kennenlernen gibt es hier.