Freiheit für Julian Assange!

Über Folter und Willkür westlicher Staatsräson

| Lou Marin

WikiLeaks-Gründer Julian Assange wird seit über 10 Jahren vom westlichen Staatensystem auf brutale Weise und unter Umgehung jeglicher Menschenrechte verfolgt, u.a. mit den Mitteln der Isolationsfolter. Am 4. Januar 2021 wurde von einem britischen Gericht der Auslieferungsantrag aus den USA zwar vorläufig abgelehnt. Das Urteil ist gleichwohl skandalös, weil der US-Antrag explizit als berechtigt bewertet wird und die Auslieferung nur aus gesundheitlichen Gründen und wegen Selbstmordgefahr, wofür wiederum die britische Haft in einem Hochsicherheitstrakt verantwortlich ist, nicht erfolgt. Die USA haben bereits Berufung eingelegt, das juristische Verfahren geht nun in die nächste Runde und könnte noch vor dem Europäischen Gerichtshof enden. In den USA drohen Assange 175 Jahre Haft. (GWR-Red.)

Der Staat, jeder Staat, auch der westliche „Menschenrechtsstaat“ mit seinen „westlichen Werten“, ist eine doppelte Gewaltinstitution und basiert auf den zwei Pfeilern Polizei und Militär. Was passiert, wenn die Polizei durch Veröffentlichung ihrer Gewalttaten angegriffen wird, können wir gerade in Frankreich durch den Versuch verfolgen, das Filmen und Verbreiten von Polizeigewalt zu bestrafen (siehe GWR 455). Beim Militär ist die Dimension noch umfassender, denn das Militär führt dem Staat die Kriege: Das zeigt die Verfolgung von Julian Assange, dem Sprecher von WikiLeaks, der Plattform, die Geheimdokumente von Whistleblowern wie Chelsea Manning veröffentlicht und Edward Snowden 2013 bei seiner Flucht vor US-Verfolgung nach der Veröffentlichung von dessen Enthüllungen in „The Guardian“ und der „Washington Post“ geholfen hat.

Die monströse Brutalität der US-Kriegsführung

In den ersten beiden Jahrzehnten des 21. Jahrhunderts führten die westlichen Staaten bis heute nicht endende Kriege in Afghanistan (US-geführt, ab 2001 mit dt. Beteiligung) und im Irak (geführt von den USA und Großbritannien, ab 2003, ohne direkte dt. Beteiligung, dafür logistisch über US-Luftwaffenbasen). Sie verursachten zusammen mit Embargos und Drohnenangriffen Opfer, die in die Millionen gehen und neben dem syrischen Bürgerkrieg zu einer riesigen Geflüchtetenwelle nach Europa beitrugen. Diese Kriege wurden gerade im Namen der „Menschenrechte“ geführt, die gleichzeitig mit Füßen getreten wurden.
Doch die „Menschenrechtskrieger“ sind heute delegitimiert, das Chaos und das Elend im Irak, Afghanistan (und ab 2013 auch Syrien) sind irreparabel, die Kriege sind unpopulär, der Widerspruch in der Legitimation ist offenbar, die internationale Forderung nach Truppenabzug wächst, nicht zuletzt in den USA. Wenn Leute wie Trump und auch Biden, bisher nur verbal, von einem Truppenabzug faseln, dann nicht etwa, weil sie selbst dies wollten, sondern weil der öffentliche Druck auch an der Heimatfront zu groß geworden ist. Zu dieser Delegitimierung haben anfangs die internationalen Massenbewegungen gegen den Krieg und dann die offen kompromittierenden Veröffentlichungen von Whistleblowern auf WikiLeaks beigetragen. Die Veröffentlichung militärischer Geheimdokumente ist an sich eine subversive gewaltfreie Aktion gegen staatliche Kriege.
Die erste Delegitimierung geschah noch durch konventionelle Nachrichtenkanäle 2003/2004. Nach Berichten von Amnesty International und der Agentur Associated Press sowie dem Internationalen Roten Kreuz wurden die Folterfotos aus Guantanamo Bay sowie Fotos über Misshandlungen von Kriegsgefangenen im irakischen Gefängnis Abu Ghraib in der US-Nachrichtensendung „60 Minutes“ sowie der „New York Times“ (Journalist Seymour Hersh) veröffentlicht. Hier sprachen der Staat und die US-Armeeführung noch von „Einzelfällen“, und einige wenige beteiligte Soldat*innen wurden zu geringfügigen Strafen verurteilt. (1)
Zur eigentlichen Kriegsführung hatten die wenigen kritischen Nachrichtenkanäle des Westens oder kritische Journalist*innen jedoch keinen Zugang oder sie wurden „embedded“, also durch die Armee in Richtung einer Verharmlosung des Krieges („Chirurgische Schnitte“ ohne zivile Opfer) gelenkt. Jetzt kam die Stunde der Whistleblower*innen wie Chelsea Manning, die Geheimdokumente an die 2006 gegründete Enthüllungsplattform WikiLeaks weitergab. Besonders aufrüttelnd und entlegitimierend waren deren Enthüllungen im Jahre 2010: Im April 2010 veröffentlichte WikiLeaks das „Collateral Murder“-Video, übermittelt durch Manning, das zeigt, wie im Jahr 2007 US-Soldaten von einem Apache-Hubschrauber aus 12 Zivilist*innen niedermähen, darunter zwei Mitarbeiter der Nachrichtenagentur Reuters; wie sie auf Verwundete, auf Rettungswagen und auch auf Kinder schießen. Dazu lachen die Soldat*innen im Hubschrauber, machen Witze über Funk; für sie erscheint der Mord im Krieg wie ein virtuelles Kriegsspiel an der Konsole. (2) Dieses Video brannte sich in unser aller Gedächtnis ein, jedoch diesmal als archetypisch für die US-Kriegsführung – und nicht etwa als Einzelfall. WikiLeaks veröffentlichte im Juli 2010 in Zusammenarbeit mit den Zeitungen „New York Times“, „The Guardian“ oder dem „Spiegel“ des Weiteren rund 80.000 Dokumente über die Kriegsführung der Westmächte in Afghanistan (3) sowie (im Oktober 2010) 392.000 Geheimdokumente über den Irakkrieg. Durch Letztere wurden allein im Irak 109.000 Ermordete, darunter 66.081 Zivilist*innen nachgewiesen. (4) Nun hörte die US-Kriegsführung auch damit auf, lächerliche Pseudoverfahren gegen die Mörder anzustrengen – dafür wurden nunmehr Julian Assange und die Whistleblower*innen gnadenlos verfolgt. Noch im selben Jahr, 2010, veröffentlichte WikiLeaks ein Dokument der CIA, in dem diese die Existenz von WikiLeaks zur Gefahr erklärt und Strategien vorschlägt, deren Mitarbeiter*innen zu verfolgen und die Plattform zu „zerstören“. (5)

Assanges Werdegang und der Framing-Komplex in Schweden

Julian Assange wurde 1971 in Australien geboren und verbrachte dort eine schwierige Kindheit. Er musste rund 30mal die Wohnung und ebenso oft die Schule wechseln. Frühe Programmiererfahrungen führten ihn schnell in die Hacker-Szene. Schon 1992 wurde er in 24 Fällen wegen illegalen Hackens zu Bußgeldstrafen verurteilt. Er beschäftigte sich dann erfolgreich mit der Entwicklung von Verschlüsselungssystemen und stieg im Gründungsjahr 2006 bei WikiLeaks ein.
Nach den Veröffentlichungen von 2010 und dem beginnenden staatlichen Druck gegen WikiLeaks wandte sich Assange an die damals aufblühenden europäischen „Piratenparteien“, besonders an die schwedischen „Piraten“, die Assange ihre Server zur Verfügung stellten, um eine Internetserver-Diversifizierung durchzuführen, weil eine Stilllegung der Server in den USA zu befürchten war und auch bald stattfand. Assange wollte sich in Schweden niederlassen und hatte dort eine Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis beantragt, weil das liberal-sozialdemokratische Schweden einen umfassenderen Quellenschutz praktizierte als andere Länder. Assange wollte WikiLeaks auf legaler Grundlage weiterführen. Nun kam jedoch der sich über neun Jahre hinziehende Komplex der Vergewaltigungsklage zweier schwedischer Frauen dazwischen.
Schweden ist nicht nur bekannt für erhöhten Quellenschutz, sondern auch für erhöhte frauenrechtliche Standards. Direkt nach den WikiLeaks-Veröffentlichungen kam es dort im August 2010 zu Anzeigen von zwei Frauen gegen Assange wegen Vergewaltigung. Daraus entstand ein offizielles Untersuchungsverfahren wegen „sexueller Belästigung und Nötigung“ sowie „minder schwerer Vergewaltigung“. Das Verfahren zog sich in unglaublichen Wendungen und Verwirrungen bis 2019 hin. 2015 wurden die Voruntersuchungen zu Belästigung und Nötigung wegen Verjährung eingestellt. Zu einer offiziellen Anklage ist es nie gekommen. Im November 2019 wurde das Vergewaltigungsverfahren eingestellt, wegen „abgeschwächter Beweislage“. (6) Der UN-„Sonderberichterstatter für Folter“, Nils Melzer, hat den Vorgang 2019 durch Einsicht in die Akten und aufgrund seiner Schwedisch-Kenntnisse untersucht und machte Anfang 2020 seinen Bericht öffentlich. Demnach sei eine der beiden Frauen (S.W.) – von der zweiten Frau ursprünglich lediglich begleitet – nur deshalb zur Polizei gegangen, um sich zu erkundigen, ob Assange nachträglich zu einem Aids-Test verpflichtet werden könne. Der Sexualakt sei einvernehmlich gewesen, Assange habe jedoch nur widerwillig ein Kondom benutzt, das zudem während des Akts geplatzt sei, deshalb die Anfrage wegen eines nachträglichen HIV-Tests. Die diensthabende Polizistin habe jedoch die Aussage bewusst hin zu einer direkten Vergewaltigungsklage manipuliert. Sobald S.W. „bemerkte, dass die Polizei damit begann, etwas anderes daraus zu machen, brach sie schockiert ab und verließ das Wachzimmer.“ Die falsch protokollierte Aussage unterschrieb sie nicht. Melzer liegt eine SMS von S.W. vor, nach der sie den Eindruck hatte, der Polizei sei es von Beginn an nur darum gegangen, Assange „in die Finger zu kriegen“. Nicht direkt verwertbar, weil nachträglich am Computer überschrieben, ist eine vorab gesandte E-Mail des Vorgesetzten der vernehmenden Polizistin, das Vernehmungsprotokoll bewusst „umzuschreiben“, was zur SMS von S.W. passt. Verdächtig ist auch die Tatsache, dass die Begleiterin von S.W. erst am darauffolgenden Tag ihre eigene Anzeige stellte und Melzer herausfand, dass sie die vernehmende Polizistin persönlich kannte und S.W. am Vortag bewusst zu deren Polizeiwache dirigiert hatte. In der Untersuchung war der Anwalt der Klägerinnen der Kanzleipartner des Ex-Justizministers Bodström, der eng mit der CIA zusammengearbeitet hatte. Melzer hat in seinem Bericht der zweiten, S.W. ursprünglich nur begleitenden Frau schwere Vorwürfe gemacht. (7) Zur ganzen Geschichte gehört aber auch, dass diese zweite Frau, zu der Melzer direkt Kontakt aufnahm, bei ihrer Aussage blieb und Melzer vorwarf, sie zu verleumden. (8)
Darum ist über die gesamten letzten 10 Jahre irgendetwas von den Vergewaltigungsvorwürfen an Assange doch hängengeblieben und hat dazu geführt, dass die internationale Solidarität nicht so stark ausfiel, wie das möglich gewesen wäre. Immerhin überschreitet Melzer mit seinen Vorwürfen aus feministischer Sicht die sogenannte „Definitionsmacht“, nach welcher die betroffene Frau darüber entscheidet, was sexuelle Gewalt ist und was nicht. Auch sie hatte die Erfahrung mit Assanges Aversion gegen Kondome gemacht. So war denn gerade aus feministischen Kreisen die Unterstützung für Assange schwach bis kaum vorhanden.
Dass die westlichen Geheimdienste eine Strategie verfolgten, Assange öffentlich zu diskreditieren, ist jedoch unumstritten. Solche Strategien nennen sich „Framing“, d.h. unabhängig vom konkreten Inhalt (Aufdeckung von Kriegsverbrechen der USA) wird ein anderer inhaltlicher Rahmen konstruiert und der dortige Vorwurf über Jahrzehnte hinweg immer wieder in der Öffentlichkeit verbreitet. Bis 2019 wurden im Rahmen dieser Strategie zahlreiche weitere Kübel Schmutz über Assange ausgegossen: Er sei ein geltungssüchtiger Narziss, verkappter Freund von Trump (!) und Putin (nachweislich falsch), WikiLeaks habe Informant*innen in Gefahr gebracht usw. usf. Das wirkte immerhin insofern, als etwa Amnesty International sich heute immer noch weigert, Assange als „Gewissensgefangenen“ (Prisoner of Conscience) anzuerkennen und der menschenrechtliche Druck von Seiten der EU oder der BRD auf Großbritannien im Auslieferungsverfahren gleich Null war, was etwa Günter Wallraff und Herta Däubler-Gmelin beklagten, die eine Solidaritätskampagne von rund 40 Menschenrechtsorganisationen für die Freilassung Assanges initiiert hatten. Modedesignerin Vivienne Westwood, Musiker Roger Waters oder gar der chinesische Dissident Ai Weiwei gehören zum illustren Kreis der Unterstützer*innen. (9)

Wanzen in der Botschaft Ecuadors, „Weiße Folter“ im Hochsicherheitstrakt Belmarsh

Jedenfalls konnte Assange 2010 ohne Anklage aus Schweden über Berlin nach London ausreisen, erst danach wurde er wegen der schwedischen Vorermittlungen mittels Europäischem Haftbefehl gesucht. In London wurde er in U-Haft genommen, gegen Kaution auf freien Fuß gesetzt und flüchtete daraufhin bekanntlich in die ecuadorianische Botschaft, wo er neun Jahre blieb, weil er sicher war, dass ihn die schwedischen Behörden, sollten sie seiner habhaft werden, in die USA ausliefern würden. In den USA wurde 2011 eine Voruntersuchung gegen Assange wegen Verstoßes gegen ein altes, schon gegen die Industrial Workers of the World eingesetztes Spionagegesetz von 1917 eingeleitet, wonach die Weitergabe geheimer Informationen mit der Todesstrafe verfolgt wird. Doch erst ab 2017 unter Trump wurde die Festnahme Assanges in den USA zur politischen Priorität, noch nicht unter Obama, der immerhin Chelsea Manning 2017 – als seine letzte Amtshandlung – begnadigt hatte. Im Juni 2019 stellten die USA nun ein offizielles Auslieferungsgesuch an Großbritannien, just als die schwedische Staatsanwaltschaft ihre Untersuchung eingestellt hatte. (10)
Die CIA hatte die Botschaft Ecuadors in London durch eine spanische Sicherheitsfirma, „UC Global“, die Zugang zur Botschaft hatte, verwanzen lassen, so dass sie immer über Assanges Aktivitäten in der Botschaft informiert war. Und der Hochsicherheitstrakt Belmarsh, wo Assange seit seiner Verhaftung am 11. April 2019 in der Botschaft gefangen gehalten wird, gilt für Aktivist*innen als „britisches Guantanamo“. Seit 19 Monaten unterliegt Assange dort der sogenannten „weißen Folter“ mit Isolationshaft über 23 Stunden pro Tag. Er hat im Knast keinen Internetzugang, im laufenden Auslieferungsprozess saß er weit entfernt von der Verteidigung; Journalist*innen oder die Öffentlichkeit waren vom Prozess bis auf wenige Einzelne ausgeschlossen. Laut ärztlichen und psychologischen Gutachter*innen war er zuletzt dem psychischen Druck kaum noch gewachsen und stark selbstmordgefährdet. Sollte an den Vorwürfen wegen sexueller Gewalt tatsächlich etwas dran gewesen sein, kann heute niemand sagen, er habe dafür nicht gebüßt.

(1) Vgl. englischer Wikipedia-Eintrag: „Abu Ghraib torture and prisoner abuse“, eingesehen 2.1.2021.
(2) Das Video kann heute auf Youtube eingesehen werden, Titel: WikiLeaks: Collateral Murder (Iraq 2007): https://www.youtube.com/watch?v=HfvFpT-iypw ; Achtung: Das Ansehen der Morde zusammen mit den zynischen Kommentaren ist nahezu unerträglich!
(3) Vgl. Wikipedia-Eintrag: „Veröffentlichung des Kriegstagebuchs des Afghanistan-Krieges durch WikiLeaks“.
(4) Vgl. Wikipedia-Eintrag: „Veröffentlichung des Kriegstagebuchs des Irak-Krieges durch WikiLeaks.
(5) Vgl. Wikipedia-Eintrag: „Veröffentlichungen von WikiLeaks“, Einträge zum Jahr 2010.
(6) Vgl. Wikipedia-Eintrag: „Julian Assange“, deutsch, eingesehen 26.12.2020.
(7) Ortwin Rosner: „Wie die schwedischen Behörden die Vergewaltigungsanzeige gegen Julian Assange fälschten“, in: Streifzüge, Online-Magazin aus Wien, 23.2.2020, siehe: https://www.streifzuege.org/2020/wie-die-schwedischen-behoerde... .
(8) Siehe Anmerkung 6, Wikipedia-Eintrag Deutsch: „Julian Assange“, dort S. 8.
(9) Ortwin Rosner: „Sie töten ihn langsam“, in: Streifzüge, Online-Magazin aus Wien, 13. November 2020; sowie: Herta Däubler-Gmelin: „Julian Assange. Das schreiende Schweigen der EU“, in: Kontext, Wochenzeitung, Ausgabe 508, 23.12.2020.
(10) Siehe Anmerkung 6, S. 9.