Mit Brigitte Faber und Martina Puschke von Weibernetz e.V. hat die GWR-Autorin Cécile Lecomte über deren Arbeit, die Lebenssituation von FrauenLesben und Mädchen mit Beeinträchtigung sowie den anhaltenden Ableismus in der Gesellschaft gesprochen (GWR-Red.)
GWR: Könnt Ihr Euch und den Verein Weibernetz e.V. kurz vorstellen?
Sehr gerne. Hinter dem Namen Weibernetz verbirgt sich das Bundesnetzwerk von FrauenLesben und Mädchen mit Beeinträchtigung. Weibernetz ist Teil der Selbstbestimmt-Leben-Bewegung behinderter Menschen und entsprechend eine bundesweite Selbstvertretungsorganisation. Bei uns arbeiten fast ausschließlich Frauen, die selber eine Beeinträchtigung haben, und auch alle Vorstandsfrauen sind selber behindert. Wichtig ist dabei, dass wir behinderungsübergreifend arbeiten, was meint, dass bei uns Frauen mit ganz unterschiedlichen Beeinträchtigungen aktiv sind und wir bei politischen Forderungen möglichst umfassend die Diversität in den Blick nehmen.
Bei uns im Bundesnetzwerk sind die 11 Landesnetzwerke behinderter Frauen Mitglied sowie zwei weitere Vereine von Lesben und zur Gewaltprävention. Außerdem hat unser Verein natürlich Einzelmitfrauen.
Die Vereinsarbeit wird ehrenamtlich geleistet. Zusätzlich gibt es bei Weibernetz zwei Projekte, in denen hauptamtliche Mitarbeiterinnen arbeiten: Seit 2003 die bundesweite Politische Interessenvertretung behinderter Frauen, in der wir überwiegend Lobbyarbeit im positiven Sinne sowie Öffentlichkeitsarbeit betreiben. Und seit 2008 Projekte zur Erprobung und Verstetigung von Frauenbeauftragten in Einrichtungen. Das Konzept der Frauenbeauftragten in Werkstätten und Wohneinrichtungen für Menschen mit Behinderungen ist relativ neu. Gemeinsam mit der Selbstvertretung von Menschen mit Lernschwierigkeiten Mensch zuerst (Netzwerk People First Deutschland e.V.) haben wir das neue Amt der Selbstvertreterinnen in Einrichtungen auf den Weg gebracht. Derzeit unterstützen wir den Aufbau einer eigenen bundesweiten Interessenvertretung von Frauenbeauftragten in Einrichtungen.
Noch vor 30 Jahren wurden viele Frauen mit Beeinträchtigungen als sexuelle Neutren wahrgenommen. Die Fähigkeit, ein erfülltes sexuelles Leben führen zu können, wurde ihnen in vielen gesellschaftlichen Kontexten abgesprochen. Behinderte Lesben „gab es schon gar nicht“; sie waren nahezu unsichtbar. Wir stellen uns vor: Bis weit in die 1990er Jahre wurde das Buch „Sollen, können, dürfen Behinderte heiraten?“ von Kluge und Sparty immer wieder neu aufgelegt!
Wir, Brigitte Faber und Martina Puschke, haben Weibernetz 1998 mitgegründet und waren zunächst Teil des Vorstands. Seit 2003 leiten wir gemeinsam die Politische Interessenvertretung behinderter Frauen und teilen uns die inhaltliche Arbeit.
Warum ein Verein, der sich spezifisch mit der Situation von Frauen beschäftigt?
Ganz einfach: Weil es trotz aller gleichstellungspolitischen Aktivitäten nach wie vor unterschiedliche geschlechtsspezifische Lebensbedingungen und –realitäten gibt. Sei es der Gender-Pay-Gap, die Ungleichverteilung in den Kontexten Management einerseits und Pflege- und Familienarbeit andererseits bis hin zur geschlechtsspezifischen Gewalt an Frauen und Kindern.
Als Frauen, die selber mit Beeinträchtigungen und Behinderungen leben, engagieren wir uns für einen Gender- und Disability-Mainstreaming-Ansatz in allen maßgeblichen Feldern gesellschaftlichen und politischen Handelns.
Mit welcher konkreten Fragestellung beschäftigt Ihr euch aktuell?
Ganz grundsätzlich beschäftigen wir uns mit mehrdimensionalen Diskriminierungen im Alltag von Frauen, Lesben und Mädchen mit Beeinträchtigungen. Zwei Herzensthemen, die uns seit unserer Gründung besonders bewegen, sind der bessere Schutz vor Gewalt und eine geschlechtergerechte Gesundheitsversorgung.
Es ist so: Frauen und Mädchen mit Beeinträchtigungen erleben besonders häufig Gewalt, zwei bis dreimal häufiger als nichtbehinderte Frauen. Und gleichzeitig ist das Hilfesystem in Deutschland überwiegend nicht barrierefrei. Nur jedes 10. Frauenhaus ist teilweise zugänglich und nur jeder 3. Frauennotruf. Eine Psychotherapeutin für eine Frau mit Lernschwierigkeiten zu finden, wenn sie infolge einer Gewalttat traumatisiert ist, ist nahezu unmöglich. Es fehlt an allem: rollstuhlgerechten Zugängen, Gebärdensprachdolmetschung, taktilen Orientierungshilfen, Schutzplätzen für psychisch beeinträchtigte Frauen etc. Auch in Einrichtungen der Behindertenhilfe sind Frauen nicht ausreichend vor Gewalt geschützt. Im Gegenteil; hier erleben sie besonders häufig Gewalt.
Das muss sich dringend ändern! Um ein Bewusstsein für die hohe Gewaltbetroffenheit zu schaffen und deutlich zu machen, dass die Zielgruppe bei allen geplanten Maßnahmen berücksichtigt werden muss, mischen wir uns in bundesweite Kampagnen ein und arbeiten in diversen Gremien mit. Um zu erreichen, dass das Frauenhilfesystem barrierefreier wird, arbeiten wir mit den Bundesverbänden der Frauenhäuser und -beratungsstellen zusammen.
Um Frauen selber zu empowern und damit vor Gewalt zu schützen, fordern wir flächendeckend finanzierte WenDo-Kurse (1), stärken die Frauen in Einrichtungen durch Frauenbeauftragte, informieren (auch in Leichter Sprache und in Gebärdensprache) darüber, was Gewalt ist und wie sich Frauen, Lesben und Mädchen schützen können.
Ähnliche Zugangshemmnisse für Frauen mit unterschiedlichen Beeinträchtigungen gibt es bei der gynäkologischen Versorgung. Die meisten Praxen sind nicht barrierefrei, was zu einer Unterversorgung führt. Das Thema ist seit 40 Jahren auf dem Tisch und es bewegt sich nur langsam etwas. In den 1990er Jahren haben Netzwerke behinderter Frauen die Verbesserung der Situation selber in die Hand genommen und gynäkologische Spezialambulanzen erstritten. Bis 2019 gab es durch ihre Initiative 5 Praxen bzw. Spezialambulanzen, die speziell für Frauen mit Beeinträchtigungen eingerichtet waren. Eine dieser Ambulanzen ist inzwischen jedoch wieder geschlossen.
Wir setzen uns auf politischer Ebene dafür ein, dass alle gynäkologischen Praxen sukzessive barrierefrei werden müssen. Und es braucht einheitliche Kriterien für das Feststellen von Barrierefreiheit. Nur so kann gewährleistet werden, dass bei der Online-Suche nach barrierefreien Arztpraxen auch wirklich eine barrierefreie Praxis drin ist, wo sie draufsteht.
Viele Menschen verhalten sich unbewusst ableistisch. Die Gesellschaft ist auch voll von strukturellem Ableismus und Barrieren. Womit haben Frauen mit Behinderung am meisten zu kämpfen?
Im Laufe der Zeit konnten wir beobachten: Ableistische gesellschaftliche Annahmen verändern sich ständig. Nicht von alleine; hierzu braucht es Vorkämpfer_innen und eine gelebte Praxis. Einige Beispiele: Noch vor 30 Jahren wurden viele Frauen mit Beeinträchtigungen als sexuelle Neutren wahrgenommen. Die Fähigkeit, ein erfülltes sexuelles Leben führen zu können, wurde ihnen in vielen gesellschaftlichen Kontexten abgesprochen. Behinderte Lesben „gab es schon gar nicht“; sie waren nahezu unsichtbar. Wir stellen uns vor: Bis weit in die 1990er Jahre wurde das Buch „Sollen, können, dürfen Behinderte heiraten?“ von Kluge und Sparty immer wieder neu aufgelegt!
Dass auch Frauen mit Lernschwierigkeiten schwanger werden und mit ihrem Kind gemeinsam leben können und wollen, war eine weitere harte ableistische Nuss, die geknackt werden musste. Noch um die Jahrtausendwende vertraten viele die Ansicht, dass sie sicherlich keine Kinder haben wollen. Heute ist es immer noch keine Selbstverständlichkeit. Aber es leben immer mehr Frauen mit Lernschwierigkeiten (und ihre Partner_innen) mit eigenem Kind zusammen.
Aber es gibt auch noch aktuellen Ableismus, der insbesondere Frauen und Mädchen trifft. Im Bereich der Gewaltprävention kursiert immer noch häufig die Annahme, dass sich zum Beispiel blinde Frauen und Mädchen nicht wirksam gegen Gewalt wehren könnten, weil sie die angreifende Person nicht sehen. Sie werden dadurch in eine Opferrolle gedrängt.
Auch fehlende Barrierefreiheit ist ein Teil von Ableismus. Um sich z.B. in einer gynäkologischen Praxis untersuchen lassen zu können, wird die körperliche Fähigkeit vorausgesetzt, Stufen überwinden zu können, auf den gynäkologischen Stuhl „steigen“ zu können etc. Dieser strukturellen Diskriminierung liegt Ableismus zugrunde; er führt in der Praxis zu einem Ausschluss.
Am 8. März ist Internationaler Frauentag. Hat dieser Tag für Euren Verein eine spezielle Bedeutung? Für Euch?
Der 8. März ist sowohl für uns persönlich als auch für Weibernetz ein wichtiger Tag! Es ist der Tag, um für Frauenrechte auf die Straße zu gehen, öffentlich zu zeigen: Wir sind viele und wir kämpfen für unsere Rechte! Wir gehen an diesem Tag in der Regel auf Demos (dieses Jahr eher nicht), um die Vielfalt der Frauen, Lesben zu verdeutlichen. Für uns geht es an diesem Tag nicht so sehr um das Aufzeigen der speziellen Herausforderungen für Frauen mit Beeinträchtigungen. An diesem Tag stehen die große Frauensolidarität und der gemeinsame Kampf um Gleichberechtigung im Vordergrund.
Von Weibernetz gibt es eine Pressemeldung, und je nachdem, wird ein Thema in den Vordergrund gerückt. Unsere Kolleginnen vom Projekt Frauen-Beauftragte in Einrichtungen (2) werden dieses Jahr zum 8. März eine kleine Mut-Mach-Kampagne für die Frauen-Beauftragten starten.
Arbeitet Ihr mit anderen feministischen Gruppen/Vereinen/Bündnissen zusammen? Gibt es da Vernetzungen?
Wir arbeiten in vielen thematischen Bündnissen mit anderen Frauenorganisationen zusammen, z.B. zur Umsetzung der Frauenrechtskonvention und der Istanbul-Konvention (einer Europaratskonvention zum Schutz vor Gewalt an Frauen). Bündnis- und Vernetzungsarbeit sind wichtig, um politisch voranzukommen.
Gestaltet sich diese Zusammenarbeit gut? Wird die Intersektionalität zwischen Feminismus und Ableismus bei anderen Bündnissen gesehen? Oder gibt es da Probleme bei der Zusammenarbeit? Fühlt Ihr Euch zum Beispiel unterrepräsentiert?
In der Regel funktioniert die Zusammenarbeit sehr gut. Klar müssen in jedem Bündnis erst einmal wieder die Themen rund um Barrierefreiheit ge- und erklärt werden. Und wir können nicht davon ausgehen, dass nach einiger Zeit unsere Belange automatisch mitgedacht werden. Wenn es AGs gibt, müssen wir eigentlich in allen mit dabei sein, damit die Beschreibung der Lebenssituation von FrauenLesben und Mädchen mit Beeinträchtigung berücksichtigt wird. Von daher würden wir uns wünschen, dass noch viel mehr FrauenLesben mit Beeinträchtigungen politisch, u.a. in Bündnissen aktiv wären. Dann wäre unsere Lebenssituation präsenter, könnte überall mitgedacht werden und Veränderungen würden schneller vorangehen.
GWR: Danke für das Gespräch!
(1) WenDo ist Selbstverteidigung und Selbstbehauptung für Frauen und Mädchen. Der Name ist eine Wortneuschöpfung analog zu verschiedenen Budō-Künsten, die sich aus Wen, einer Abkürzung für das englische women, und Do, japanisch für Weg, zusammensetzt und „Weg der Frauen“ bedeutet. Quelle: Wikipedia
(2) Webseite: https://frauenbeauftragte.weibernetz.de/
Mehr Infos zu Weibernetz e.V. unter www.weibernetz.de
Dies ist ein Beitrag aus der aktuellen Druckausgabe der GWR. Schnupperabos zum Kennenlernen gibt es hier.