Mit Beginn der COVID-19-Pandemie und zahlreichen Corona-Massenausbrüchen in der Fleischindustrie gerieten die Arbeits- und Lebensbedingungen der dort prekär beschäftigten Arbeiter*innen in den Blickpunkt der öffentlichen Debatte. Nach einer Protestwelle sah sich die Bundesregierung zu Maßnahmen gezwungen, um die erniedrigende Situation der meist osteuropäischen Beschäftigten zu verbessern. Doch von den Fleischkonzernen ist wenig zu erwarten. Die Debatte um das Geschäftsmodell Ausbeutung in der Fleischindustrie ist noch lange nicht vom Tisch. (GWR-Red.)
Im Frühjahr und Sommer 2020 beherrschten Schlagzeilen von Masseninfektionen durch das Coronavirus in Fleischbetrieben und Schlachthöfen die Medienlandschaft. Die Fleischindustrie war zu diesem Zeitpunkt Hotspot der COVID-19-Pandemie in Deutschland. Der Umgang der Unternehmen mit dem erhöhten Infektionsgeschehen war bezeichnend: Die Produktion lief weiter auf Hochtouren und wurde gegenüber der Öffentlichkeit mit einem vermeintlichen Auftrag zur Versorgungssicherheit der Bevölkerung gerechtfertigt. Die Unternehmen investierten wenig in den Schutz „ihrer“ Beschäftigten. In den Fabriken wurden selbst basale Hygienevorschriften nicht eingehalten, auch an der räumlichen Enge in den Sammelunterkünften oder dem Transport in überfüllten Kleinbussen änderte sich zunächst nichts. Zu allem Übel versuchten die Unternehmensleitungen, die Beschäftigten aufgrund vermeintlichen Fehlverhaltens für die Ausbrüche verantwortlich zu machen, nicht selten entlang rassistischer Deutungsmuster.
Die Fleischindustrie stand nach den ersten Masseninfektionen in Birkenfeld, Bad Bramstedt, Bogen, Coesfeld und Rheda-Wiedenbrück allerdings nicht nur wegen des fehlenden Infektionsschutzes in der Kritik. Schnell entbrannte eine Debatte über die elenden Beschäftigungs- und Lebensverhältnisse der dort prekär beschäftigten, meist migrantischen Arbeiter*innen.
Dabei waren die Ausbeutungsverhältnisse alles andere als unbekannt: Kirchliche Initiativen, Beratungsstellen, Arbeitsrechtsgruppen, einige engagierte Gewerkschafter*innen und Journalist*innen machten seit Jahren auf die Zustände aufmerksam. (1) Anders als in den Vorjahren ebbten die Diskussionen und die Kritik der ausbeuterischen Arbeitsbedingungen diesmal jedoch nicht vorschnell wieder ab.
Rekordumsätze durch Werkverträge und Leiharbeit
Die deutsche Fleischindustrie vermochte es in den vergangenen 20 Jahren, ihre Marktanteile innerhalb der EU ebenso beständig auszubauen wie den Export von Fleischerzeugnissen nach Ost- und Südostasien. Mit einem Rekordumsatz von 42,7 Mrd. Euro im Jahr 2019 ist die Fleischwirtschaft der umsatzstärkste Zweig der Lebensmittelindustrie in Deutschland. Das „Erfolgsmodell“ der Branche gründete dabei auf einem Prozess der permanenten Expansion, der Rationalisierung und Intensivierung der Produktion sowie der ökonomischen Konzentration auf einige wenige führende Schlacht- und Fleischverarbeitungskonzerne. (2) Tönnies, PHW / Wiesenhof, Vion und Westfleisch etablierten zudem ein System der organisierten Verschiebung der unternehmerischen Verantwortung an Subunternehmen und Leiharbeitsfirmen.
Arbeiter*innen der Fleischkonzerne waren bisher überwiegend nicht bei den Unternehmen angestellt, für die sie arbeiteten, sondern als Werkvertragsbeschäftigte oder Leiharbeiter*innen bei formal eigenständigen Subunternehmen. Die Vertragsfirmen der Fleischkonzerne zahlten offiziell einen Mindestlohn für Akkordarbeit bei 12-Stunden-Schichten. Überstunden wurden aufgrund fehlender Zeiterfassung in der Praxis allerdings oftmals nicht ausgezahlt. Den Beschäftigten wurden horrende Pauschalen für Arbeitskleidung oder die Unterbringung in Sammelunterkünften abgezogen und der Mindestlohn damit systematisch unterlaufen. Die Fleischkonzerne profitierten über Jahre von diesem Geschäftsmodell und entledigten sich so auch der Verantwortung für den fehlenden Arbeitsschutz und die elenden Wohnbedingungen der Arbeiter*innen. (3)
Zeitungsartikel, Reportagen und Interviews mit den Arbei-ter*innen der Schlacht- und Zerlegebetriebe wurden nun über Wochen beinahe täglich veröffentlicht. DGB-Gewerkschaften wie die NGG oder Parteien wie SPD oder Grüne, deren Engagement sich in den Vorjahren in Grenzen hielt, forderten nun Veränderungen.
Breite Basisbewegung setzt Regierung und Konzerne unter Druck
Bereits wenige Wochen nach den Corona-Ausbrüchen formierten sich zudem regelmäßige Proteste gegen die Verhältnisse in der Fleischindustrie. Vor den Werkstoren von Tönnies und Westfleisch protestierten zunächst Bürgerinitiativen und Tierrechtsgruppen, schnell kamen aber auch gewerkschaftliche Initiativen, Klimagruppen und Vertreter*innen von Kirchen hinzu. Die Aktionen – nun auch bewegungsübergreifend organisiert – fanden vergleichsweise große Beachtung. Über eine Besetzung des zu diesem Zeitpunkt geschlossenen Hauptwerks des Tönnies-Konzerns in Rheda-Wiedenbrück im Juli 2020 wurde sogar international berichtet.
Das Bundesarbeitsministerium unter Hubertus Heil sah sich vor diesem Hintergrund genötigt, weitreichende Änderungen anzukündigen. Kernstücke des erarbeiteten Arbeitsschutzkontrollgesetzes waren die Abschaffung der Werkverträge in der Branche sowie diverse Maßnahmen zur Verbesserung des Arbeitsschutzes und der Wohnbedingungen. (4)
Tönnies, Wiesenhof, Westfleisch und Co. müssen seit dem 01.01.2021 mehrere zehntausend Arbeiter*innen, die zuvor über Subunternehmen beschäftigt wurden, fest anstellen. Die Arbeitszeit der Beschäftigten muss zudem digital erfasst werden, was der gängigen Praxis von unbezahlten Arbeitsstunden ein Ende setzen soll. Die Fleischkonzerne werden fortan für die Unterbringung in die Verantwortung genommen und die Förderung von Beratungsstellen wie z.B. der DGB-Beratung „Faire Mobilität“ verstetigt. Die Beschäftigten, für die nun auch tarifliche Bestimmungen gelten, haben mit der Übernahme als Festangestellte auch das Recht, sich im Betrieb gewerkschaftlich zu organisieren, womit sich die Voraussetzungen für Arbeitskämpfe verbessern.
Arbeiter*innen keine bloßen Opfer: Lokale Proteste und wilde Streiks
Die Arbeiter*innen und ihre Familien waren nie bloße Opfer der widrigen Verhältnisse, wie Medienberichte oft suggerieren. Sie setzten sich für eine Veränderung ihrer Situation ein und rückten die Perspektiven migrantischer Arbeiter*innen eigenständig in den Fokus der Debatten um die Arbeitsbedingungen in der Fleischindustrie. Trotz einer Situation, in der der Verlust der Beschäftigung oftmals auch den Verlust der Wohnunterkunft und anderer Formen der sozialen Absicherung bedeuten, fanden wilde Streiks statt, die bis auf wenige Ausnahmen öffentlich allerdings kaum wahrgenommen wurden.
Ein großer Streik der Beschäftigten einer Fleischfabrik in Essen (Niedersachsen) im November 2020 schaffte es gerade einmal in die Lokalpresse. Die Geschäftsführung eines Danish-Crown-Betriebs wollte Hunderte von Arbeiter*innen trotz des Werkvertragsverbots weiter über eine Vermittlungsfirma beschäftigen. Die Arbeiter*innen, denen nun Leiharbeitsverträge vorgelegt wurden, ließen sich hiermit allerdings nicht abspeisen. Angesichts heftiger Proteste und Arbeitsniederlegungen nahm Danish Crown von diesem Vorhaben schnell wieder Abstand und kündigte an, die Beschäftigen als Festangestellte zu übernehmen. (5)
Über Monate torpedierten Lobbyverbände der Fleischindustrie und die Fraktionen der CDU und CSU die Bemühungen des SPD-geführten Arbeitsministeriums. Verhindern konnten sie das Arbeitsschutzkontrollgesetz nicht, allerdings wurden großzügige Ausnahmeregelungen eingeräumt. Das Werkvertragsverbot gilt ausschließlich für Betriebe mit mehr als 50 Beschäftigten und betrifft die Bereiche Schlachtung, Fleischverarbeitung und Verpackung. In den ebenfalls gering entlohnten Bereichen der Industriereinigung, Überwachung und Technik sowie der Ausstallung können weiter Arbeiter*innen über Werkverträge beschäftigt werden, wovon Unternehmen wie Tönnies auch weiter Gebrauch machen wollen.
Die ursprüngliche Planung, auch die Leiharbeit in der Branche in diesem Jahr abzuschaffen, wurde ebenso aufgeweicht. Ein Leiharbeitsverbot soll nun erst nach einer Übergangszeit von drei Jahren erfolgen. Dem Einsatz von Leiharbeit sind zwar enge Grenzen gesetzt, mit der langen Übergangszeit haben die Subunternehmen aber weiter einen Platz im Gefüge der großen Betriebe. Tönnies beauftragt die alten Vertragspartnerfirmen mittlerweile damit, Beschäftigte in Osteuropa für die Arbeit in den Schlachtfabriken zu rekrutieren.
Ob sich die prekäre Situation der ehemaligen Werkvertragsbeschäftigten tatsächlich zum Besseren ändert, darf zudem bezweifelt werden, weil die Kontrolldichte in den Betrieben gering bleibt. In gerade einmal fünf Prozent der Betriebe sollen pro Jahr Arbeitsschutzkontrollen stattfinden. Ein Einfallstor für die systematische Umgehung der neuen Regelungen. (6)
Paradigmenwechsel in der Lebensmittelproduktion unabdingbar
Die neuen Regelungen werden von den Beschäftigten überwiegend begrüßt und von Gewerkschaften und Arbeitsrechts-initiativen als überraschend weitreichender Etappensieg im Kampf um verbesserte Arbeitsbedingungen gewertet. Langfristige Veränderungen dürften sich jedoch erst einstellen, wenn sich die Rahmenbedingungen der Lebensmittelproduktion grundlegend ändern. Denn wie die gesamte Lebensmittelbranche ist die deutsche Fleischverarbeitungs- und Schlachtindustrie überwiegend privatwirtschaftlich organisiert und auf den Export der von ihr produzierten Waren getrimmt. Im kapitalistischen Konkurrenzkampf um Anteile auf dem eng umkämpften Fleischmarkt werden Kosten in alle Richtungen gedrückt. Die Folge ist nicht nur die Etablierung von Modellen prekärer und gering entlohnter Beschäftigungsverhältnisse, sondern auch die systematische Missachtung von Tierschutzvorgaben oder der zunehmende Druck auf Landwirtschaftsbetriebe hinsichtlich dauerhaft niedriger Erzeugerpreise.
Flankiert werden diese Entwicklungen durch politische und administrative Rahmenbedingungen, etwa dem EU-Agrarsubventionssystem, in dem soziale und ökologische Aspekte oder Fragen von Klimagerechtigkeit bzw. der Lebensbedingungen der Tiere so gut wie keine Rolle spielen.
Die entscheidende Frage ist daher, ob die jetzigen Maßnahmen das Ende einer begrenzten Auseinandersetzung im Sinne eines sozialreformistischen Eingriffs darstellen oder ob sie einen grundlegenden Paradigmenwechsel in der Lebensmittelproduktion einleiten.
Das Werkvertragsverbot und die weiteren Maßnahmen des Arbeitsschutzkontrollgesetzes können durchaus ein Lichtblick für die Transformation der auf lückenloser Ausbeutung beruhenden Fleischindustrie sein, wenn es gelingt, Versuche abzuwehren, die alten Verhältnisse wiederherzustellen, und sich antirassistische und gewerkschaftliche Kämpfe mit der Neuausrichtung der Nahrungsmittelproduktion verbinden lassen. Im vergangenen Jahr hat sich zudem gezeigt, dass sich durchaus eine Protestdynamik entfachen lässt, die auch zu handfesten Veränderungen führt. Und weitere Veränderungen sind mit Blick auf Menschenrechtsverletzungen durch den Sojaanbau für die Futtermittelproduktion, die gnadenlose Ausbeutung der
Tiere oder die mit den immens hohen Tierbeständen verbundenen Klima- und Umweltbelastungen bitter nötig.
Sebastian Schubert
Sebastian Schubert ist Mitglied von „Gemeinsam gegen die Tierindustrie“. Das Bündnis arbeitet zu den Themen Tierausbeutung, Klimagerechtigkeit und Arbeitsrecht und plant im Juli dieses Jahres ein Aktionscamp in Niedersachsen und eine Massenaktion des Zivilen Ungehorsams gegen den PHW-Wiesenhof-Konzern. Mehr Infos gibt es unter:
https://gemeinsam-gegen-die-tierindustrie.org .
(1) Hierzu zählen unter anderen die Aktion Würde & Gerechtigkeit e.V. (Lengerich), die Arbeitslosenselbsthilfe Oldenburg (ALSO), die Interessensgemeinschaft WerkFAIRträge e.V. (Rheda-Wiedenbrück), der Stützkreis Kellinghusen, der JourFixe-Gewerkschaftslinke (Hamburg), die Aktion gegen Arbeitsunrecht sowie Beratungsstellen der Diakonie und der Caritas.
(2) Vgl. hierzu: Heinrich-Böll-Stiftung, BUND, Le Monde Diplomatique (Hg.): Fleischatlas 2021. Daten und Fakten über Tiere als Nahrungsmittel (https://www.boell.de/de/2021/01/06/fleischatlas-2021) sowie Hans-Böckler-Stiftung (Hrsg.) (2021): Branchenmonitor Schlachten und Fleischverarbeitung (Update 2021), Düsseldorf.
(3) Einen Überblick bietet der vom JourFixe-Gewerkschaftslinke Hamburg herausgegebene Sammelband: Das „System Tönnies“ – organisierte Kriminalität und moderne Sklaverei: Aufhebung der Werkverträge und des Subunternehmertums! (Die Buchmacherei, 2020).
(4) Vgl. BMAS: Gesetz zur Verbesserung des Vollzugs im Arbeitsschutz (Arbeitsschutzkontrollgesetz) vom 22. Dezember 2020 (Online: https://www.bmas.de/DE/Service/Gesetze-und-Gesetzesvorhaben/arbeitsschutzkontrollgesetz.html ).
(5) Vgl. Peter Birke (2021): Die Fleischindustrie in der Corona-Krise. Eine Studie zu Arbeit, Migration und multipler Prekarität. Sozial Geschichte Online Heft 29 (2021, Vorveröffentlichung, abrufbar unter: https://sozialgeschichte-online.org).
(6) Kritik an den unzureichenden Maßnahmen des Pakets wurden u.a. veröffentlicht in: ZEIT (18.12.2020): Fleischindustrie – Ungewollte Einblicke (https://www.zeit.de/2020/53/fleischindustrie-deutschland-subunternehmer-arbeiter-osteuropa-arbeitsbedingungen); Süddeutsche Zeitung (25.12.2020): Neuer Anstrich, alte Schweinereien (https://sz.de/1.5157227) und Deutschlandfunk (14.01.2021): Fleischarbeiter trotz neuem Gesetz unzufrieden (https://www.deutschlandfunk.de/arbeitsbedingungen-bei-toennies-co-fleischarbeiter-trotz.862.de.html?dram:article_id=490837).