Bei der Wahl des 46. Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika stimmten 74 Millionen Amerikaner*innen für Donald Trump. Zu Trumps Unterstützer*innen gehörten sowohl Frauen als auch People of Color, Städter und junge Menschen, auch wenn in diesen Grupppen mehrheitlich Joe Biden gewählt wurde. Die Speerspitze der Trump-Anhänger*innen findet sich aber in der männlichen, weißen Mittelschicht, die sich um ihren amerikanischen Traum beraubt fühlen. Johan Bauer analysiert in seinem Artikel wie Donald Trump ihre Wut bis zum Sturm auf das Capitol kanalisiert und angestachelt hat. (GWR-Red.)
Von Sloterdijk stammt das auf die alte Sozialdemokratie gemünzte Bild, diese habe eine Wut-Bank angelegt und so die Wut, den Klassenhass ihrer Anhänger*innen, verwaltet – eine mündelsichere Kapitalanlage. Inzwischen ist auch diese Bank „inflationsbereinigt“ zu Negativ-Zinsen übergegangen. Sie versucht eher, durch steigende Gebühren (Wahlkampfkostenerstattung etc.) Verluste zu vermeiden. Diese Wut ist (zunächst!) auf die lange Bank geschoben.
Aber die Wut der „Angry White Men“ hat einen Banker gefunden. Deren Wut ist real, ernst und in Teilen berechtigt, wie die sensible Analyse Michael Kimmels (2) zeigt: Seit Jahrzehnten stagnieren oder sinken die Realeinkommen der weißen Mittelschicht: „Heute sind buchstäblich zwei Einkommen nötig, um das zu verdienen, was ein Berufstätiger vor 40 Jahren für seine Familie verdiente …“ (3) Die weißen Arbeiter haben sichere Arbeitsplätze und gewerkschaftlichen Schutz in der verarbeitenden Industrie ebenso verloren, wie die untere Mittelschicht kleiner Ladenbesitzer, Bauern und Handwerker ihre Lebensweise und ihr Selbstwertgefühl. Ihre traditionelle Männlichkeit war daran orientiert, eine Familie zu ernähren und Respekt in einer Gemeinde ähnlich denkender und handelnder Leute zu finden. Leistungsbereitschaft, körperliche Kraft, Selbstbeherrschung waren Leit-Werte. Auch Überlegenheit über Nicht-Weiße und Frauen, eine bedenkenlose Rücksichtslosigkeit in mehr als einer Hinsicht. Sie hatten den Anspruch, dass das Leben ihnen zumindest eine gewisse Sicherheit biete, materiell und emotional. Aber auch früher konnte man scheitern beim Versuch, es zu etwas zu bringen. Der „Selfmademan“ war auch durch Ruhelosigkeit und Angst vor dem Misserfolg gekennzeichnet. Doch es blieb immer die Hoffnung, neu anfangen zu können, vielleicht im fernen Westen oder irgendwo anders.
Diese Erwartung und die wirtschaftliche Unabhängigkeit des Kleingewerbes und der Bauern sind seit den 1980er Jahren zerstört: Die Fertigungsindustrie wanderte ins Ausland ab. Staubstürme und Agrarkrisen ruinierten die kleinen Bauern. Zwangsversteigerungen trafen sie hart. Agrarkonzerne übernahmen. Familienbetriebe gingen unter. Das „Heart Land“ wurde abgehängt. In den USA geboren, getauft mit dem amerikanischem Traum, immer loyal gewesen, blieb der Anspruch, aber in der gesellschaftlichen Wirklichkeit fand eine große Degradierung statt. So wuchs ein Zorn, das Ressentiment, dass den normalen „kleinen Leuten“, dies zugefügt worden sei, damit andere (Nicht-Weiße; Migranten, Frauen, Städter, Juden, Uni-AbsolventInnen) aufsteigen sollten. Betrogen und beschämt suchten diese weißen Mittelschichten Erklärungen und Argumente gegen das Establishment, das sie verachtete, die Arbeitsplätze ins Ausland verlagerte. Und sie idealisierten die Vergangenheit. Diese wurde ihre Utopie, das Amerika, in dem sie sich heimisch fühlen konnten. Die „Tea Party“ (hier waren die „weiblichen“ Anteile noch am stärksten), polemische Radiosender, die der Empörung eine Stimme gaben, eine deutlicher werdende Wir/Sie-Unterscheidung, die rassistische Botschaft weißer Überlegenheit und gar Nazi-Symbolik wurden stärker und scharten sich schließlich um Trump. Dabei gab es Alternativen wie die „Farm Aid“-Organisation, deren Ziel seit 1985 die Bewahrung und Unterstützung der landwirtschaftlichen Familienbetriebe in den USA ist. Dazu veranstaltet sie alljährlich ein Musikkonzert mit bekannten Stars wie Willie Nelson und Bob Dylan, Neil Young und John Mellenkamp. Drückt sich das Ende mancher amerikanischer Träume in den einfühlsam-melancholischen „Tom Joad“-Balladen von Bruce Springsteen nicht viel angemessener aus als im barbarischen Geschrei der „Proud Boys“? Vielleicht wollten sie nicht trauern und den „amerikanischen Traum“ im Sinne eines Martin Luther King diesmal für alle erneuern, sondern statt dessen ihre alte überlegene Position behaupten. King war erschossen worden. Die weißen Unter- und Mittelschichten tendierten, einmal mehr, zur Seite der Sieger, der Schützen. Schließlich hatten sie auch gelernt, dass Amerika noch nie einen Krieg verloren habe, und die Vietnam-Erfahrung wurde gerade neu interpretiert: Zurück zu militärischer Stärke. Auch dies fügte sich in die rückwärtsgewandte Utopie „Make America Great Again“.
King hatte 1963 in seiner berühmten Rede „Ich habe einen Traum“ gesagt: „Als die Architekten unserer Republik die grandiosen Worte der Verfassung und der Unabhängigkeitserklärung schrieben, unterzeichneten sie einen Schuldschein, dessen Erbe jeder Amerikaner sein sollte. Dieser Schuldschein war ein Versprechen, dass allen Menschen ja, schwarzen Menschen wie auch weißen Menschen die unveräußerlichen Rechte von Leben, Freiheit und dem Streben nach Glück garantiert wären. Es ist heute offensichtlich, dass Amerika diesem Schuldschein nicht eingelöst hat (…) einen Scheck, der mit dem Stempel ‚ungenügende Deckung‘ zurückgekommen ist. Wir weigern uns aber, daran zu glauben, dass die Bank der Gerechtigkeit bankrott ist. Wir weigern uns, daran zu glauben, dass es eine ungenügende Deckung in den großen Tresorräumen der Gerechtigkeit dieser Nation gibt. Wir sind daher hierher gekommen, um diesen Scheck einzulösen, einen Scheck, der uns auf Verlangen die Reichtümer der Freiheit und die Sicherheit auf Gerechtigkeit gewähren wird“.
Aber immer mehr vor allem weiße AmerikanerInnen entschieden sich gegen Kings Traum und Jahrzehnte später für die Wut-und-Verachtungs-Bank Donald Trumps. Bei den letzten Wahlen ist ihre Zahl sogar noch gestiegen, weil Trump vor Corona durchaus für Arbeitsplätze gesorgt hatte und für das Selbstbewusstsein, man sei das wahre, hart arbeitende, ehrliche Amerika, das von unamerikanischen Figuren um die Früchte seiner Arbeit und Loyalität betrogen würde.
Kimmels Buch ist vor Trumps Siegeszug entstanden, aber er hat alle Zutaten für Trumps Rezepte und die sozialpsychologischen Bewegungen beschrieben, die „diese zynischen Vermarkter des Zorns“ (4) groß gemacht haben. Auch der „Gewaltfreiheitsaktivist Jackson Katz“ hatte schon analysiert, wie Rush Limbaugh, einer der rechten Radiomoderatoren, im Hörergespräch „Kummer, Angst, Schmerz und Sorge des Hörers“ in politische Wut transformierte: „Er braucht dafür nur das gemeinsame Gefühl, dass ‚andere‘ (gesichtslose, nutzlose Regierungsbürokraten) ‚uns‘ (den rechtmäßigen Erben des amerikanischen Wohlstands) wegnehmen, was uns zusteht, und es unverdient wiederum ‚anderen‘ (Minderheiten, Einwanderern, Frauen, Schwulen und anderem Abschaum) geben.“ (5) Die Empörungsradios und Wut-Medien, die sich als Opfer linker Meinungsdiktatur in Mainstream-Medien darstellen, machen aus den frustrierten weißen Männern eine „virtuelle soziale Bewegung“ (6), geeint durch das Ressentiment. Ein weißes, männliches Opfer-Wir, das es beispielsweise – an „normale“ Ungerechtigkeiten und Privilegien gewöhnt – als schwere Diskriminierung wahrnimmt, wenn „die anderen“ nicht mehr ferngehalten und herabgesetzt werden. Und wenn der Staat dabei versagt, Grenzen zu ziehen, muss man es selbst tun, wie im Minuteman-Projekt: Paramilitärisch organisierte weiße Männer der Mittel- und Arbeiterschicht patroullieren an der Grenze zu Mexiko.
Männlichkeit zeigt sich in der Gewaltbereitschaft. (7) In den USA sind so auch die Schulschießereien zu verstehen. Die Täter sind seit den 90er Jahren so gut wie immer männlich und weiß! Besonders nach Columbine geht es den Tätern nicht mehr darum, einzelne, bekannte MitschülerInnen oder LehrerInnen zu treffen, sondern eine möglichst große Zahl ziemlich zufälliger Opfer: „Früher wollten die Täter eine Rechnung begleichen, heute wollen sie berühmt werden.“ (8). Früher waren die Taten „persönlicher“, nach Columbine „politischer“, sagt Kimmel (9), und es werde von den Attentätern Respekt und Bestätigung auf diesem letzten verbleibenden Weg gesucht. Ausgegrenzt und gemobbt wurden sie meist, weil sie den Codes und Regeln der „Männlichkeit“ nicht entsprachen; sie bestätigten ihre männliche Selbstachtung, indem sie zurückschlugen. Gewalt als adäquate Antwort auf Ehrverletzung, Demütigung, Beschämung. Kimmel kann zeigen, dass es besonders die Bevorzugung von „Sportskanonen“ und ein aggressives Klima mancher Schulen ist, die Außenseiter produzieren und in schier ausweglose Situationen drängen. Die „kulturbedingte Erwartung“, dass „ein Mann zurückschlägt, wenn er provoziert wird“ lässt die Täter schließlich „dem uralten Drehbuch des amerikanischen Western“ folgen. (10)
Die politischen Strömungen rechts der Reagan/Bush-Linie des Republikanismus sind vielfältig, auch vielfältig gespalten. Gemeinsam sind ihnen oft rassistische/bevölkerungspolitische und antifeministische Überzeugungen, die allerdings wiederum gegensätzlich begründet werden können. Radikalisiert wurden viele dieser Gruppen, als republikanische Regierungen eine banken- und konzernfreundliche Wirtschaftspolitik trieben und durch kriegerische Interventionen im Ausland Probleme im Innern der USA eher steigerten, statt sich ihrer Sorgen anzunehmen. Viele soziale Probleme verschlechterten die Lebenschancen dieser Wählergruppen. Auch die zunehmende Abhängigkeit von Medikamenten und Drogen spielt eine Rolle. Wie so oft, werden Sündenböcke gesucht und gefunden, um zu erklären, wie es zu solchen Krisen kommen konnte. Der 11. September ist ein bedeutendes Datum für die Feindseligkeiten gegen „unamerikanische“ Gruppen, Migranten oder jedwede „5. Kolonne“, die Amerika in seinem Überlebenskampf schwächen könnte. . Ein weiterer Schock war für die weißen Männer der erste schwarze Präsident, und Trumps politischer Aufstieg begann mit der Erzählung, dass Obama ein illegitimer Präsident sei, weil nicht in den USA geboren, sondern in Kenia!
Zunehmend werden geradezu apokalyptische „Endkampf“-Konzepte eines Rassenkriegs oder Weltbürgerkriegs verbreitet, die z.T. aus der Science-Fiction-Welt oder Romanen stammen. Militant den Ideen einer „Selbstverteidigung“ (11) verhaftet, gehört zu den Gemeinsamkeiten, dass sie das Recht verteidigen, offen Waffen zu tragen. In der – nicht selten mit Verschwörungstheorien unterfütterten – Feindschaft gegen die Bundesregierung und die Eliten ist die Rechte oft auch „libertär“, da die US-Traditionen der Rechten weniger etatistisch sind als die europäischen. Die Souveränität freier Bürger kann sich hier mit der Ablehnung jeglicher Besteuerung und dann logischerweise mit dem bewaffneten Selbstschutz verbinden. Auch wenn manche dieser Ideen auf ursprünglich diskussionswürdige philosophische Überlegungen oder tatsächlich freiheitliche Strömungen des Individualanarchismus und anderer staats- und monopol-kritischer sozialer Bewegungen zurückgehen, verbinden sie sich zunehmend mit rechtspopulistischen Bewegungen. Ebenso war in den USA eine Frontbildung „ethnisch“ oder „rassisch“ definierter Gruppen dominant gegenüber Klassenbewegungen und „oben-unten“-Konflikten. Viele der extrem rechten Gruppen knüpfen an solche älteren Erzählungen gegen (katholische, jüdische, chinesische) Außenseiter-Gruppen an.
Trump gelang es, viele dieser Gruppen zu mobilisieren und hinter seinen Parolen zu versammeln, indem er ihre Schlüsselthemen aufgriff (Kampf gegen Einwanderung, Recht auf Bewaffnung, Senkung der Einkommensteuer, für die Todesstrafe, gegen Minderheiten und feministische Strömungen, gegen Abtreibung) und zu „Make America Great Again“ zusammenfasste. Von den gemäßigten Republikanern bis zu den Milizen, Proud Boys und Erben des Ku-Klux-Klan fand er Unterstützung.
Dabei kam ihm zugute, dass die Polarisierung des Parteiensystems in den USA so weit fortgeschritten ist, dass weniger einzelne Inhalte als die Zugehörigkeit zu einem der Partei-Lager entscheidet. Demokraten und Republikaner heiraten tendenziell nur noch untereinander, sie wollen nicht in den gleichen Vierteln leben, informieren sich nicht mit den gleichen Medien. Diese Trennung hat Trump verschärft, aber sie ist älter und ein Bollwerk gegen ein Bündnis von Menschen ähnlicher Klassenlage, die sich stattdessen über gegensätzlich definierte „Ethnien“ und „Kulturen“ identifizieren.
Darüber hinaus kann man den Kapitalismus feiern und Banken und Konzerne hassen, besonders wenn diese als „jüdisch“ oder „parasitär“ gekennzeichnet sind. Das Nazi-Äquivalent dazu war „Brechung der Zinsknechtschaft“. Ein weiteres Bindeglied sonst unterschiedlicher Strömungen ist der übersteigerte Patriotismus, der sich sein „eigentliches“ Amerika als rückwärtsgewandte Utopie erfindet, abgegrenzt gegen eine Welt von Feinden, zu denen durchaus die Regierung zählen kann. Heute sind Feindbilder der Nationalisten auch Stiftungen (besonders Soros war lange ein Lieblingsfeind, wird aber gerade von Bill Gates in der Wahrnehmung von VerschwörungstheoretikerInnen etwas zurückgedrängt) und übernationale Verbindungen (UNO, „Trilaterale Kommission“, „Bilderberger“), die in ihrer Macht überschätzt und als Konstrukteure einer „neuen Weltordnung“ bekämpft werden. Der Patriotismus war schon immer leicht mit Verschwörungserzählungen zu verbinden, die übernationale Kräfte (Katholiken, Juden, Freimaurer) verdächtigten.
Damit eng verknüpft ist die Betonung von Männlichkeit: gegen verweiblichte, pazifistische, androgyne, aggressionsgehemmte, unkörperliche und ängstliche Männer, die leicht Opfer werden. Deshalb hat die Wiederherstellung von Männlichkeit für die Abwehr der anderen Gefahren eine zentrale Funktion. Mit kriegerischer Männlichkeit steht und fällt jeder Plan der Wiedereroberung, der Zurückgewinnung von dem, was dem weißen Mann „eigentlich“ zusteht.
(1) Kimmel, Michael: Angry White Men: Die USA und ihre zornigen Männer. Bonn 2016, S. 300.
(2) Kimmel, Michael: Angry White Men: Die USA und ihre zornigen Männer. Bonn 2016.
(3) ebenda S. 27.
(4) ebd., S. 46.
(5) ebd., S. 51.
(6) ebd., S. 56.
(7) vgl. dazu schon Kokopeli, Bruce & Lakey, George: Männlichkeit und Gewalt. In: Graswurzelrevolution Nr. 30/31, Sommer 1977, S. 18ff.
(8) Kimmel, Michael, ebd., S. 95.
(9) ebd., S. 99.
(10) ebd., S. 117.
(11) Dass Gewalt immer als Selbstverteidigung begriffen und eingeübt wird, zeigt Kimmel schon an einem populären Erziehungsratgeber in dem es heißt: „Es gibt Zeiten, in denen jeder Knabe seine Rechte verteidigen muss, wenn er nicht ein Feigling werden und den Weg zu (...) wahrer Männlichkeit verfehlen soll. (...) Der willensstarke Knabe braucht keine Anregung, um sich zu schlagen, aber häufig eine ordentliche Portion Führung (...) Schlägt er sich öfter als, sagen wir, ein halbes Dutzend Mal pro Woche (außer in seiner ersten Woche an einer neuen Schule), ist er wahrscheinlich übertrieben streitsüchtig und muss gebremst werden.“ (S. 216).