Eva von Redecker: Revolution für das Leben. Philosophie der neuen Protestformen. Fischer-Verlag, Frankfurt/M. 2020, 320 Seiten, 23 Euro, ISBN 978-3-10-397048-7
Ist die Rede von Revolution heute nicht vollkommen aus der Zeit gefallen? Dies ist eine erste Frage, die möglicherweise aufkommt, wenn wir den Titel Revolution für das Leben der Philosophin Eva von Redecker in die Hände nehmen. Die Antwort, welche die Autorin mit dem Buch formuliert, lässt sich als eindeutiges Nein verstehen. Auf der Suche nach einem Begriff für die Sehnsucht danach zu sein, dass die gesellschaftlichen Verhältnisse radikal, umfassend und langfristig verändert werden können, erscheint in den letzten Jahren immer sinnvoller. Zu allen Zeiten argumentierten Advokat*innen der sozialen Revolution, dass sich die gesellschaftlichen Widersprüche zuspitzen und Auseinandersetzungen unvermeidlich wären, jedoch auch die Möglichkeit bestehe, sie in eine emanzipatorische Richtung zu drängen. Dennoch nähren die massiven sozialen Verwerfungen gerade heute und weltweit eben jene Sehnsucht, zugleich aber auch die schiere Notwendigkeit, dass es grundlegend anders werden kann und soll. Die Corona-Pandemie, wirkt auch für Eva von Redecker als Katalysator, um eine solidarische Perspektive auf die Transformationen der gesamten Gesellschaft zu entwerfen.
Eine zweite Frage könnte dabei lauten, wie eine Revolution aktuell aussehen kann. Die Autorin wählt hierbei bewusst die Formulierung einer „Revolution für das Leben“, weil sie davon ausgeht, dass die kapitalistische Herrschaft eine Wirtschaftsweise und Gesellschaftsform ist, welche sozialen Tod produziert und zur Folge hat. Und dies nicht erst oder vor allem heute, wo der Karren an die Wand gefahren zu sein scheint, sondern bereits seit Jahrzehnten und aus seiner zugrundeliegenden Logik heraus. Hierbei legt sie mit Karl Marx eine strukturelle Sichtweise auf die Dinge an und fordert uns mit Hannah Arendt dazu auf, aktiv zu werden und ins Handeln zu kommen. Inspiriert unter anderem vom Anarchopazifisten Gustav Landauer, entfaltet Eva von Redecker ein Verständnis eines prozesshaften, aber tiefschürfenden Wandels. Radikale Veränderungen finden dabei dezentral in unterschiedlichen Zwischenräumen statt, in welchen alternative Formen von Beziehungen, Produktion und Selbstorganisation bereits entwickelt und verwirklicht werden. Die „Sachherrschaft“ des Kapitalismus soll somit durch die „Weltwahrung“ schwinden und gebrochen werden. Dabei gehe es auch darum, die „Gezeiten“ von natürlichen Kreisläufen wieder wahrzunehmen. Maßgeblich in Hinblick auf die Tatsache des Klimawandels entwickelt von Redecker ihren Revolutionsbegriff aus der ökologischen Dimension weiter – wie es vor Jahrzehnten bereits der US-amerikanische Ökoanarchist Murray Bookchin tat.
Doch wie sollen wir heute revolutionär werden? Und wer führt die Revolution durch? Gelungen an Revolution für das Leben ist insbesondere, dass die Autorin keine schöngeistigen Luftschlösser baut. Sie pflegt kein romantisiertes Verständnis von Revolution, welches uns für den Alltagsgebrauch nicht mehr als etwas Erbauung bieten kann. Vielmehr orientiert sie sich an den großen zeitgenössischen emanzipatorischen sozialen Bewegungen der letzten Jahre: dem Antirassismus von Black Lives Matter, dem Feminismus von Ni una menos und der Klimagerechtigkeitsbewegung. Dies ist ihr hoch anzurechnen und für eine philosophische Betrachtung keineswegs selbstverständlich. Denn was von Redecker auf überzeugende Weise gelingt, ist, die Perspektive zu wechseln und sich von diesen Bewegungen in einem positiven Sinne mitreißen zu lassen. Dabei vergisst sie nicht, dass wir nach wie vor in einer Klassengesellschaft leben und eine sozial-revolutionäre Perspektive auch zwangsläufig die Frage nach der Vergesellschaftung der Produktionsmittel aufwerfen muss.
Revolution für das Leben ist in drei Teile gegliedert. In den ersten vier Kapiteln (unter den Überschriften „beherrschen“, „verwerten“, „erschöpfen“ und „zerstören“) wird eine zeitdiagnostische Bestandsaufnahme gewagt und eine Sprache gefunden, um dem vielfach zerstörerischen Zustand der Gegenwartsgesellschaft ins Auge zu schauen – und diesen konfrontieren zu können. Im fünften Kapitel wird der aktualisierte Revolutionsbegriff umrissen, der mit Walter Benjamin insbesondere eine Herangehensweise des Stoppens und Aussteigens beinhaltet. Im sechsten bis neunten Kapitel („retten“, „re-generieren“, „teilen“ und „pflegen“) wird veranschaulicht, welche Ansatzpunkte und Überzeugungen in den genannten sozialen Bewegungen bereits bestehen, die sich auf ihre Selbstverständnisse und Organisationsform auswirken. Neben Ausbeutung und Unterdrückung betont Eva von Redecker, die Dimension der Entfremdung, welcher sie die Vorstellung einer „Wiederweltnahme“ (statt der Aneignung) entgegensetzt.
Da die gesamte Denkweise in ihren wesentlichen Grundgedanken einen spürbar anarchistischen Ton aufweist, wäre es schön gewesen, die Autorin hätte diesen noch stärker herausgestellt. Weil sie ihr Verständnis auch aus der Anschauung der sozialen Bewegungen gewinnt, wird dadurch vor allem deutlich, dass jene sich ebenfalls stärker ihrer selbst bewusst werden müssten, um zielgerichteter vorangehen zu können. Eine gewisse Leerstelle bildet leider die Frage, wie mit den Konfrontationen umgegangen werden kann, in welche sozial-revolutionäre Bewegungen unweigerlich hineingezogen werden. Auch dahingehend hält von Redecker es offensichtlich mit Landauer, demzufolge wir mit dem Sozialismus beginnen, etwas für ihn tun müssten, um ihn zu ermöglichen. Statt den Fokus auf den scheinbar allmächtigen Gegner zu legen, gelte es somit eher, dass sich Aktivist*innen auf sich besinnen, von sich ausgehend handeln und Neues schaffen. Dies ist die realistische Hoffnung, welche wir haben können.