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„Andersgemachtwerden“

„Die Anderen“ und die Mehrheitsgesellschaft

| Antje Schrupp

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Jana Hensel und Naika Foroutan - Fotos: Heinrich-Böll-Stiftung from Berlin, Deutschland, CC BY-SA 2.0 , via Wikimedia Commons, Regani, CC BY 3.0 , via Wikimedia Commons

Naika Foroutan, Jana Hensel: Die Gesellschaft der Anderen. Aufbau Verlag, Berlin 2020, 356 Seiten, 22 Euro, ISBN 978-3-351-03811-3

Ostdeutsche und migrantische Perspektiven sind im deutschen politischen Diskurs unterrepräsentiert. Dabei handelt es sich in beiden Fällen um große Minderheiten: Die Ostdeutschen und die Deutschen mit Migrationshintergrund machen jeweils rund 25 Prozent der Bevölkerung aus. Naika Foroutan und Jana Hensel zeigen in ihrem Buch eindrücklich, wie sehr sich die Mehrheitsgesellschaft dennoch als „nicht ostdeusch“ und auch als „nicht migrantisch“ versteht. Beides wird aus dem, was als „richtig deutsch“ gilt, ausgeschlossen – was natürlich häufig nicht explizit gesagt, sondern eher subtil unterstellt wird. Beide Autorinnen sind in den 1970er Jahren geboren und gehören zu jeweils einer dieser Gruppen. Naika Foroutan ist im Iran aufgewachsen und als Jugendliche nach Deutschland gekommen. Jana Hensel ist in der DDR geboren und als Jugendliche sozusagen ebenfalls migriert, nämlich in das wiedervereinigte Deutschland. In ihrem dialogisch inszenierten Buch tauschen sie sich auf äußert kluge Weise über ihre Erfahrungen mit ihrem jeweiligen „Andersgemachtwerden“ aus.

Neben dem Inhalt ist die Form eine zweite große Stärke des Buchs. Vielleicht sollte es Schule machen, Themen zu bearbeiten, in dem man sie in sachlichen, kontroversen und aneinander interessierten Dialogen verhandelt. Jedenfalls macht es großen Spaß, diesen zwei Frauen beim gemeinsamen Denken „zuzuschauen“.

Das Buch ist tatsächlich als Dialog an drei Wochenenden entstanden. Foroutan und Hensel entfalten darin verschiedene Aspekte des Themas, auch aus ihrer unterschiedlichen professionellen Perspektive. Naika Foroutan ist Soziologin und forscht zu Migrationsthemen, Jana Hensel ist Journalistin und schreibt viel über Ostdeutschland. Beide setzen sich dabei immer wieder mit 30 Jahren (gesamt-) deutscher Geschichte auseinander. Inwiefern kann man Erfahrungen von ostdeutschen und Menschen mit Migrationshintergrund vergleichen (und inwiefern auch nicht)? Was ist eigentlich in den 1990er Jahren passiert, als sich das heutige „Deutschland“ herausgebildet hat? Wie hat sich die Wiedervereinigung auf Menschen mit Migrationshintergrund ausgewirkt, die schon hier lebten? Was passierte, als türkeistämmige Menschen plötzlich wieder als „Fremde“ wahrgenommen wurden, weil die Ostdeutschen im Vergleich zu ihnen als „richtige Deutsche“ galten? Wo erleben die beiden Gruppen ähnliche Erfahrungen des Ausschlusses? Ist die Wiedervereinigung tatsächlich die Erfolgsgeschichte, als die sie verkauft wird, oder ist sie das nur aus einer biodeutsch-westlichen Perspektive? Und: Was bedeuten eigentlich Revolutionen? Beide Autorinnen sind ja durch revolutionäre Ereignisse, an denen ihre Eltern aktiv teilgenommen haben, in die heutige Situation katapultiert worden: Foroutan durch die Revolution im Iran, die ihre Eltern zur Flucht zwang, Hensel durch die Revolution in Ostdeutschland. Wie können solche Erfahrungen Teil der gesamtdeutschen Geschichte werden, und was würde es für die Zukunft Deutschlands bedeuten, wenn die angeblich „anderen“ erkannt und anerkannt würden als das, was sie sind, nämlich durchaus „typisch deutsch“?

Die in diesem Buch festgehaltenen Beobachtungen sind klug, originell, und es ist ungeheuer interessant zu verfolgen, was die beiden Autorinnen miteinander besprechen. Einig sind sie sich dabei keineswegs immer, es gibt deutliche Differenzen und unterschiedliche Einschätzungen. Neben dem Inhalt ist die Form eine zweite große Stärke des Buchs. Vielleicht sollte es Schule machen, Themen zu bearbeiten, in dem man sie in sachlichen, kontroversen und aneinander interessierten Dialogen verhandelt. Jedenfalls macht es großen Spaß, diesen zwei Frauen beim gemeinsamen Denken „zuzuschauen“. Spannend ist vor allem auch, wie sie füreinander jeweils die Position der Mehrheitsgesellschaft einnehmen, es handelt sich keineswegs um einen Austausch unter Marginalisierten. Sondern Foroutan repräsentiert für Hensel die westdeutsche Mehrheitsgesellschaft, während Hensel ihr gegenüber als weiße Frau Teil der Mehrheitsgesellschaft ist. Eminent wichtig sind die Überlegungen der beiden auch in Zusammenhang mit den aktuellen Entwicklungen wie dem parlamentarischen Erfolg der Rechtsradikalen und der Etablierung der AfD als feste Größe im Parteienspektrum. Was ist schief gelaufen in der Vergangenheit? Können wir Ursachen finden, die helfen, gegenzusteuern? Wo wurden falsche Entscheidungen getroffen? Vielen im Westen zum Beispiel ist gar nicht klar, was für ein großer Einschnitt die Einführung von Hartz 4 in Ostdeutschland gewesen ist, und wie groß die Ungleichheit zwischen Ost- und Westdeutschen nach wie vor ist in Bezug auf politischen und gesellschaftlichen Einfluss, aber auch in Bezug auf Vermögen und Einkommen.

Außerdem findet man sachliche Hinweise, Informationen zu Studien und weiterführender Literatur, sodass man jeden einzelnen Punkt bei Interesse vertiefen kann, und im letzten Kapitel gibt es Ausblicke und Ideen, worauf es jetzt ankommt. Fazit: Ein wirklich großer Wurf und ein Muss für alle, die „Deutschland“ verstehen wollen.

Dies ist ein Beitrag aus der aktuellen Druckausgabe der GWR. Schnupperabos zum Kennenlernen gibt es hier.