Helga Amesberger, Brigitte Halbmayr, Elke Rajal: STIGMA ASOZIAL. Geschlechtsspezifische Zuschreibungen, behördliche Routinen und Orte der Verfolgung im National-sozialismus. Mandelbaum Verlag, Wien 2020, 400 Seiten, 29 Euro, ISBN: 978385476-886-9
Von Anfang an galt nach dem „Anschluss“ Österreichs der Terror der Nationalsozialisten nicht nur politischen GegnerInnen, sondern auch Menschen, die sie als „Asoziale“ bezeichneten: Männer, die durch Kleinkriminalität auffielen, durch Alkoholismus, Wanderarbeit, Obdachlosigkeit oder Spielsucht, Frauen, denen „Arbeitsscheu“ und „Arbeitsbummelei“ angedichtet wurden und eine „lose Sexualmoral“ bis hin zur „moralischen Minderwertigkeit“.
Die Soziologinnen und Politikwissenschaftlerinnen Helga Amesberger, Brigitte Halbmayr und Elke Rajal vertiefen und erweitern in „Stigma Asozial. Geschlechtsspezifische Zuschreibungen, behördliche Routinen und Orte der Verfolgung im Nationalsozialismus“ die von ihnen bereits im 2019 erschienenen Band „‚Arbeitsscheu und moralisch verkommen‘“. Verfolgung von Frauen als ‚Asoziale‘ im Nationalsozialismus“ geleistete Forschung zur Verfolgung als „asozial“ stigmatisierter Frauen in Österreich, indem sie weitere Gaue in den Blick nehmen (Oberdonau, Steiermark) und die unterschiedlichen behördlichen Vorgehensweisen im Verfolgungsprozess mit all ihren Verstrickungen (z.B. der Kriminalpolizei) nachvollziehbar machen. Dabei erhellen sie ein Stück weit, was konkrete Frauengeschichte im Nationalsozialismus auch bedeuten konnte: nämlich, als Angehörige einer sozial prekären Schicht wegen der Armut, sozialen Unangepasstheit und angedichteten „sexuellen Devianz“ aus der Gemeinschaft ausgeschlossen, oft auch zwangssterilisiert, inhaftiert, in Bewahranstalten weggeschlossen, in Arbeitslagern ausgebeutet oder gar als „Ballastexistenzen“ in Konzentrationslagern ermordet zu werden. Deutlich wird so, dass das „Asozialenstigma“ für Frauen etwas anderes bedeutete als für Männer, auch wenn es Gemeinsamkeiten gibt: so handelt es sich bei der Klassifizierung als „Asoziale“ und „Gemeinschaftsfremde“ aus NS-Sicht immer um etwas, das angeboren und weitervererbt wird – soziale Merkmale werden also rassifiziert, es handelt sich um Sozialrassismus, den die Nationalsozialisten als Wissenschaft deklarieren. Herausgearbeitet wird auch, dass es eben nicht das Verhalten der Stigmatisierten ist, welches die Verfolgung auslöst, sondern eine Art Unterschichtsekel, den die Nationalsozialisten empfanden: denn auffällig ist, dass das der Stempel der „Asozialität“ fast immer nur Menschen trifft, die extrem arm oder armutsgefährdet sind.
In der zweiten Hälfte widmen sich die Autorinnen detailreich und sehr gut nachvollziehbar der behördlichen Einweisungspraxis in die als „kontaminierte Orte“ bezeichneten Anstalten der verschiedenen Gaue, wobei sie die Gewalt, der Frauen und Mädchen während dieser Zwangsaufenthalte ausgesetzt waren, veranschaulichen. Anhand von Fallbeispielen wird gezeigt, was das Stigma „asozial“ für einzelne verfolgte Frauen konkret bedeutete und welche Frauen überhaupt betroffen waren: arme, unangepasste, alkoholkranke oder „arbeitsscheue“ Frauen, aber auch Frauen in der Prostitution oder als „schlechte Mütter“ bezeichnete Frauen und ehemalige Fürsorgezöglinge.
Es ist nicht das Verhalten der Stigmatisierten, welches die Verfolgung auslöst, sondern eine Art Unterschichtsekel, den die Nationalsozialisten empfanden
In „Stigma Asozial“ gelingt die Grätsche zwischen theoretischer Abhandlung und Wiedersichtbarmachung Betroffener, und damit handelt es sich um einen wertvollen Beitrag bei der Aufarbeitung einer Opfergruppe, die lange nicht als solche anerkannt wurde. Denn auch wenn die Klassifizierung als „asozial“ im NS die markantesten Konsequenzen für Betroffene hatte (bis hin zum Tod), gab es sie auch schon zuvor und vor allem danach: Mit Rehabilitation oder gar Entschädigung konnten Menschen, die als „asozial“ verfolgt worden waren, lange Zeit weder in der DDR (die die Verfolgung „Arbeitsscheuer“ lange fortsetzte) noch in der BRD oder in Österreich rechnen. Im Gegenteil schloss man sie aus der Gemeinschaft der Verfolgten aus, da sie weder aus rassistischen, religiösen, politischen oder weltanschaulichen Gründen verfolgt worden waren – und man hielt ihnen ihren „Lebenswandel“ vor, ganz so, als seien sie zu Recht verfolgt worden, nur leider von den „falschen Leuten“. Auch von anderen Opfergruppen wurden sie abgelehnt – insgesamt erlitten sie eine fortgesetzte Stigmatisierung, der in der Verfestigung ihres Ausschlusses aus der Gemeinschaft zum Tragen kam. Erst im Jahr 2005 wurde in Österreich auch der Verfolgungsgrund „Asozialität“ ins Opferfürsorgegesetz aufgenommen. In Deutschland konnten sich derart Verfolgte seit Mitte der Achtziger an einen Härtefonds wenden, was aus Scham aber nur wenige Verfolgte in Anspruch nahmen, zumal es sich um sehr geringe Summen handelte. Erst im Februar 2020 erkannte der Bundestag offiziell im NS-Staat wegen „Asozialität“ verfolgte Menschen als Opfergruppe an. Dies betrifft mehr als 70.000 Menschen, die meisten leben nicht mehr.
Wiedergutmachen (also: „etwas wieder gut machen“) oder entschädigen (im Sinne von: „den Schaden rückgängig machen“) lässt sich nichts mehr, weder die Verfolgung im Nationalsozialismus noch die fortgesetzte Stigmatisierung oder der unwürdige Umgang mit den Opfern danach. Aber die Lücke, die bisher vor allem in der offiziellen Erinnerungs- und Gedenkkultur prangte, kann und sollte jetzt gefüllt werden: mit der Erhellung der Lebensläufe derjenigen Menschen, denen so lange vorgeworfen wurde, sie seien wegen ihres „Asozialseins“ selber schuld an ihrer Verfolgung gewesen, und die so lange beschämt und verschwiegen worden sind – und mit der Sichtbarmachung der behördlichen Verstrickung in menschenfeindliche und sozialrassistische Verfolgungspraxen. Dazu leistet „Stigma Asozial“ einen wichtigen und vor allem gut lesbaren Beitrag.
Dies ist ein Beitrag aus der aktuellen Druckausgabe der GWR. Schnupperabos zum Kennenlernen gibt es hier.