Mithu M. Sanyal: Identitti. Hanser Verlag, München 2021, 432 Seiten, 22 Euro, ISBN 978-3-446-26921-7
Mithu M. Sanyal kennt man bisher vor allem als Journalistin und Autorin von Sachbüchern, zum Beispiel hat sie exzellente Bücher über die Kulturgeschichte der Vulva oder über Vergewaltigung geschrieben. Nun erschien also ihr erster Roman, und auch der ist gelungen.
Die Hauptfigur der Geschichte ist Nivedita, eine Studentin, die in Düsseldorf Postkolonial Studies studiert. „Identitti“ ist ihr Social Media- und Internet-Name. In ihrem Blog schreibt sie meistens über ihre Zwiegespräche mit Kali, der indischen Göttin. Nivedita hat an der Universität eine Lieblingsprofessorin namens Sarisvati, eine – wie alle denken – aus Indien stammende Person of Color. Sarisvati ist eine kleine Berühmtheit, wird häufig in Talkshows eingeladen, und sie ist ziemlich gut darin, ihre Student:innen zum Selberdenken herauszufordern. Nivedita und viele Mitstudent:innen haben durch sie einen Weg gefunden, sich mit ihrer eigenen Identität und was das alles bedeutet auseinanderzusetzen. Bei all dem ist Sarisvati kein bisschen klischeehaft sondern einfach originell und klug. Alle sind also ganz begeistert, bis eines Tages die Bombe platzt: Es kommt heraus, dass Sarisvati keineswegs Person of Color ist, sondern deutsch und weiß, Sarah aus Karlsruhe. Nun geht die Diskussion los. Nivedita setzt sich mit ihrer Professorin auseinander, und dieser Austausch in den Tagen und Wochen nach der Enthüllung ist die Geschichte, die in dem Roman erzählt wird.
Obwohl ein „Themenroman“, hat das Buch eine enorme erzählerische Qualität. Es ist amüsant zu lesen und enthält lauter genaue Alltagsbeobachtungen und kluge Überlegungen, sodass ein anspruchsvolles und durchaus schwieriges Thema trotzdem zu einer angenehmen Lektüre wird. Der Plot ist einem realen Fall nachempfunden, der vor einigen Jahren in den USA tatsächlich stattgefunden hat: Dort kam heraus, dass Rachel Dolezal, eine lange als Schwarze bekannte Professorin für afroamerikanische Studien, in Wahrheit aus einer weißen Familie stammte. Das hat damals ziemliche Debatten und einen Skandal verursacht, der weltweit für Diskussionen sorgte. Diese realen Debatten verwebt Sanyal in ihrem Roman, wodurch er noch einmal an Authentizität gewinnt (auch von mir, der Rezensentin, sind ein paar Passagen eingeflossen). Große Leseempfehlung also für alle, die sich für die Diskussion über „Identitätspolitik“ interessieren und sich auf genüssliche Weise in Romanform damit beschäftigen möchten.