Die englische Schule Summerhill gilt als die älteste, noch existierende freie Schule der Welt. Die Selbstregierung der Schüler*innen und der freiwillige Besuch des Unterrichts sind Hauptmerkmale der „selbstregulativen Erziehung“ ihres Gründers A.S. Neill. In seinem Artikel erläutert Maurice Schuhmann die pädagogischen Grundsätze und die Geschichte Summerhills. (GWR-Red.)
Zu Pfingsten 1921 eröffnete der englische Pädagoge A. S. Neill (1883–1973) in Dresden-Hellerau eine internationale Schule namens „Neue Schule“, die als Vorläufer von Summerhill betrachtet werden kann. Sie war partiell noch von der damals gerade neu aufkommenden Waldorff-Pädagogik geprägt. Sein Engagement in Deutschland war allerdings nur von kurzer Dauer, weil ihm die politischen Unruhen jener Zeit einen Strich durch die Rechnung machten. Ein weiterer Grund für die Verlegung seines Schulprojekts nach Großbritannien – anfangs nach Lyme Regis, später nach Leiston, Suffolk, – waren die dortigen, relativ liberalen Schulgesetze, die eine Umsetzung seiner Ideale wie z.B. freiwillige Unterrichtsteilnahme der Schüler*innen erlaubten. Die Schule Summerhill und deren Konzeption wurden hier zum Synonym für antiautoritäre Erziehung (1) und demokratische Schulen im allgemeinen. Neill selber war weder über den Begriff „antiautoritäre Erziehung“ glücklich (2), den sein Verleger aus Marketinggründen vor dem Hintergrund der 68er Revolte als Titel für die Neuauflage seiner Publikation wählte („Theorie und Praxis der antiautoritären Erziehung“), noch verstand er sich selber als Anarchist. Er sprach zwar bereits 1921 in einem Vortrag über die Abschaffung von Autorität, aber er verstand den Begriff der Anarchie falsch. Die französische Ausgabe eines seiner Bücher trägt auch den Titel: „La liberté – pas l‘anarchie“. Mehr noch, Neill war zumindest zeitweilig Mitglied der Kommunistischen Partei. In seiner Autobiographie „Neill, Neill, Birnenstiel!“ reflektierte er: „Man hat mich oft einen Anarchisten genannt, der eine anarchistische Schule leite. Das verwundert mich, denn eine Schule, an der Selbstverwaltung praktiziert wird, eine Schule, die sich ihre eigenen Gesetze gibt, paßt nicht in die Definition von Anarchismus. Chambers‘ Dictionary definiert Anarchismus als ‚Mangel jeglicher Regierung in einem Staat.‘ Was bin ich also?“ (3) Kurz vor seinem Tod revidierte er seine Meinung und gestand ein, den Begriff „Anarchie“ missverstanden zu haben und versöhnte sich mit ihm. Dennoch gestand ihm David Stephens, der zeitweilig als Lehrer an der Schule arbeitete, eine wichtige Funktion für den Anarchismus zu: „Summerhill hat seinen Zweck erfüllt: Die Prinzipien der libertären Pädagogik zu demonstrieren und zu popularisieren.“ (4)
Grundsätze einer freien Schule
Selber das Kind eines Lehrers, traumatisiert vom britischen Schulsystem und inspiriert von dem im deutschsprachigen Raum kaum rezipierten Reformpädagogen Homer Lane („Little Commonwealth“) (5) schuf Neill eine freie Schule, die mit ihrer hundertjährigen Geschichte als die älteste, noch existierende freie Schule der Welt gilt. Hierbei baute er auf folgende Grundsätze, die auch für libertäre Pädagogik (6) bezeichnend sind:
- Liebe
- positives Menschenbild
- Freiheit – in Abgrenzung zu „Zügellosigkeit“
- Selbstbestimmung
Der Psychoanalytiker Erich Fromm fasste in seinem Vorwort zu „Theorie und Praxis …“ den Begriff „Selbstbestimmung“, der für die Organisation alternativer Pädagogik ein Grundpfeiler ist, wie folgt zusammen: „Das Hauptprinzip der Selbstbestimmung besteht darin, dass Autorität durch Freiheit ersetzt wird.“ (7)
Die Umsetzung der Prinzipien, die in nur geringer Modifikation bis heute Leitprinzipien des britischen Internats sind, erfolgte durch:
- „gewaltlose“ Erziehung, d.h. konsequenter Verzicht auf ein körperliches Bestrafungssystem
- Selbstverwaltung aller am Schulalltag Partizipierenden
- koedukative Erziehung von Jungen und Mädchen
- Sexualkundeunterricht, weil Neill in der (erfüllten) Sexualität einen wichtigen Aspekt menschlichen Lebens sah
- Verzicht auf Anwesenheitspflicht im Unterricht und Benotung, weil er auf die natürliche Wissbegier des Kindes setzte, die nicht durch Zwang oder Druck eingeschränkt werden sollte
- Freies Spiel
- Verzicht auf Religionsunterricht, weil seiner Auffassung nach die Religion bei Kindern Furcht erzeugt
- Verzicht auf Zensur von Literatur in der Schulbibliothek, weil er auf die Medienkompetenz und das Urteilsvermögen seiner Schüler*innen vertraute.
Als Leitidee findet man in diesem Konzept den Wunsch, die Schule kindergerecht zu gestalten anstatt Kinder schulgerecht zu erziehen. (8) Das Kind soll befähigt werden, seinen eigenen Weg zu finden – und nicht den Erwartungen und Ansprüchen von Eltern und Umfeld zu entsprechen. Er selber postulierte: „Summerhill hat die wahrscheinlich glücklichsten Schüler[innen] der Welt.“ (9)
Repressionsfreie Erziehung
Neill stand auch zeitweilig mit dem britischen Libertären Bertrand Russel im Kontakt, dessen im Rahmen der Beacon High School erprobte pädagogische Ansätze sich von Summerhill in Bezug auf die Gewichtung von intellektueller Bildung deutlich unterschieden. (10) Generell lassen sich eine Reihe von Differenzen zwischen dem Prinzip Summerhill und klassisch-anarchistischen Ansätzen in der Pädagogik erkennen. Ute Schmidt-Hermann erklärte in ihrer Dissertation: „Im Unterschied zur antiautoritären Pädagogik libertärer bzw. anarchistischer Prägung, die die Freiheit des Menschen sowohl von gesellschaftlichen Zwängen (ökonomische Verhältnisse, staatliche und kirchliche Autoritäten) als auch von einer autoritären und religiös gebundenen Pädagogik aus versteht […] geht es Neill in erster Linie um eine repressionsfreie Erziehung, die das Glück des Einzelmenschen anstrebt, ohne jene soziale und politische Dimension erzieherischen Handelns miteinzubeziehen.“(11) Die unpolitische Ausrichtung seiner Erziehungsideale war einer der Hauptgründe, weshalb sie von den Kommunist*innen abgelehnt wurden. Sie vermissten u. a. die Einbeziehung des Klassenkampfes in die Pädagogik.
Auffällig ist in Neills Texten der stete Rückgriff auf Sigmund Freud, Wilhelm Reich und Wilhelm Steckel, bei dem er sich auch einer Psychoanalyse unterzog. Ein Stück weit scheint dies auf seine Tochter Zoë abgefärbt zu haben, die selber Psychologie studiert hat und über eine Zulassung als Psychotherapeutin verfügt. Dabei gab und gibt es gewisse Grenzen der Freiheit und Selbstverwaltung – sei es in Bezug auf Finanzfragen, Einstellung von Lehrer*innen oder auf die Gestaltung des Speiseplans. Ekkhardt von Braunmühl, bekannter Vertreter der Antipädagogik, warf Neills Konzept diesbezüglich vor, sich von der traditionellen Erziehung lediglich durch die Länge der Leine, an der das Kind gehalten werde, zu unterscheiden. Nach dem Tod von Neill und seiner Frau übernahm seine Tochter Zoe Neill Readhead, die selber Schülerin an Summerhill war, die Leitung der Schule und führt das Erbe ihrer Eltern fort. Mehrfach war die Schule von Schließung bedroht – zuletzt im Jahr 2000. (12)
Demokratisches Schulkonzept
Das Schulkonzept fand viele Nachahmer*innen – sei es die mit den amerikanischen Anarchisten George Dennison assoziierte 1st Street School in New York (13) oder die Sudburry Schools (14), die z.T. auch Ableger im deutschsprachigen Raum haben. Die nur kurzlebige 1st Street School ist ein guter Beweis, dass ein solches Konzept von demokratischer Schule nicht nur als Mittelklasseprojekt funktioniert, sondern auch in sog. Problemvierteln. Nach Einschätzung von Thomas Schroedter gibt es ca. 90-100 Schulen, die sich auf das Konzept von Summerhill beziehen. (15) Neben der schulischen Konzeption wurde wiederholt versucht, das Konzept auch auf Kindertagesstätten / Kinderläden bzw. auf die Familie zu übertragen. (16)
Bei aller Würdigung des Schaffens jenes Pädagogen, der im Sinne Jean-Jacques Rousseaus das Kind zum Ausgangspunkt der Erziehung machte, sollte man aber auch einen kritischen, kaum beachteten Aspekt benennen. Das Vorwort für sein bekanntestes Buch „Theorie und Praxis der antiautoritären Erziehung“ schrieb der Psychoanalytiker Erich Fromm, nachdem ursprünglich ein anderer Autor im Gespräch war – Henry Miller, Verfasser frauenfeindlicher Erotica wie „Stille Tage in Clichy“. Ebenso zeigte Neill sich in Bezug auf Homosexualität bzw. die Genderthematik als unreflektiertes „Kind seiner Zeit“: „In achtunddreißig Jahren hat Summerhill nicht einen einzigen Homosexuellen hervorgebracht. Der Grund dafür ist, daß Freiheit gesunde Kinder erzeugt.“ (17)
Vieles von dem, wofür Summerhill stand und steht, ist in Deutschland mittlerweile – zumindest nominell – Mainstreamposition. Die Prügelstrafe an Schulen ist abgeschafft und Kinder haben seit dem Jahr 2000 ein im Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) fixiertes Recht auf gewaltfreie Erziehung. Das Mitbestimmungsrecht von Schüler*innen ist in vielen Bundesländern in den entsprechenden Schulgesetzen fixiert und auch Koedukation sowie Sexualaufklärung haben Einzug in den Schulalltag gefunden. Dennoch sind wir leider noch weit entfernt von einer Verwirklichung seiner Ideale. Neill selbst war ohnehin skeptisch bezüglich einer Umsetzung seiner Ideen im Regelschulsystem und die wenigen Publikationen von Lehrkräften, die eine Umsetzung des Konzepts in der Regelschule versuchten, scheinen ihm diesbezüglich Recht zu geben (18). Aus diesem Grund sind freie Schulen – sei es nach dem Vorbild von Summerhill oder nach (anderen) libertären Ansätzen – nach wie vor von großer Bedeutung. Solche Projekte sind Leuchttürme in einem für die freie Entfaltung des Individuums feindlichen Bildungssystem und widerlegen gängige Thesen und Vorurteile bezüglich der Notwendigkeit von starren Strukturen bei der Bildungsaneignung junger Menschen.
(1) Einen guten Überblick über die Bandbreite von Konzepten antiautoritärer Erziehung vermittelt Thomas Schroedter in „Antiautoritäre Pädagogik. Zur Geschichte und Wiederaneignung eines verfemten Begriffs“ (Schmetterling Verlag Stuttgart, 2. Auflage, 2012).
(2) Er sprach selber von „selbstregulierter Erziehung“.
(3) A. S. Neill: Neill, Neill, Birnenstiel! Erinnerungen des großen Erziehers, Rowohlt Verlag Reinbeck bei Hamburg 1982, S. 256f.
(4) David Stephens: Summerhill, inf: Internationales Journal zur libertären Kultur und Politik No. 29 3/1988 (= Anarchismus und Bildung, Band 3), S. 29-39; hier: S. 38.
(5) Vgl. z.B. Kamp, Johannes-Martin: Kinderrepubliken. Geschichte, Praxis und Theorie radikaler Selbstregierung in Kinder- und Jugendheimen, Leske+Budrich Opladen 1995.
(6) Vgl. zur Geschichte und Theorie der libertären / anarchistischen Pädagogik u.a. die von Ulrich Klemm herausgegebene, vierbändige Reihe „Anarchismus und Bildung“ (Edition Flugschriften Ulm).
(7) Erich Fromm: Vorwort, in: A. S. Neill: Theorie und Praxis der antiautoritären Erziehung. Das Beispiel Summerhill, Rowohlt Verlag Reinbeck bei Hamburg 1969, S. 11-18; hier; S. 11.
(8) Vgl. A. S. Neill: Theorie und Praxis der antiautoritären Erziehung. Das Beispiel Summerhill, Rowohlt Verlag Reinbeck bei Hamburg 1969, S. 22.
(9) A. S. Neill: Theorie und Praxis der antiautoritären Erziehung. Das Beispiel Summerhill, Rowohlt Verlag Reinbeck bei Hamburg 1969, S. 26.
(10) Vgl. zu Russels Ansatz z.B.: Bertrand Russel: Freiheit ohne Furcht. Erziehung für eine neue Gesellschaft, Rowohlt Verlag Reinbeck bei Hamburg 1975.
(11) Ute Schmidt-Herrmann: A. S. Neill und seine Schule Summerhill. Als Beispiel aus der Geschichte der antiautoritären Erziehung, Univ.-Diss. Zürich 1987, S. 110.
(12) Vgl.: Bernd Drücke: Summerhill von Schließung bedroht, in: Graswurzelrevolution Nr. 247.
(13) Vgl. z.B. Matthias Hofmann: Geschichte und Gegenwart Freier Alternativschulen. Eine Einführung, Klemm + Oelschläger Ulm 2013, S. 110f.
(14) Siehe die Website der Schule: https://sudburyvalley.org
(15) Thomas Schroedter: Antiautoritäre Pädagogik. Zur Geschichte und Wiederaneignung eines verfemten Begriffs, Schmetterling Verlag Stuttgart 2012, S. 166.
(16) Vgl. zur Anwendung von Neills Konzeption im familiären Kontext: Jean und Paul Ritter: Freie Kindererziehung in der Familie, Rowohlt Verlag Reinbeck bei Hamburg 1972.
(17) A. S. Neill: Theorie und Praxis der antiautoritären Erziehung. Das Beispiel Summerhill, Rowohlt Verlag Reinbeck bei Hamburg 1969, S. 223.
(18) Einen interessanten Einblick in die Möglichkeiten und Grenzen dieser Umsetzung liefert der Erfahrungsbericht: Herbert R. Kohl: Antiautoritärer Unterricht in der Schule von heute. Erfahrungsbericht und praktische Anleitung, Rowohlt Verlag Reinbeck bei Hamburg 1971.
Empfehlenswerte Texte über Summerhill:
A. S. Neill: Das Prinzip Summerhill. Fragen und Antworten, Rowohlt Verlag Reinbeck bei Hamburg 1971.
Ders.: Theorie und Praxis der antiautoritären Erziehung. Das Beispiel Summerhill, Rowohlt Verlag Reinbeck bei Hamburg 1969.
Günther Ekkehard Weidle: Summerhill – Pro und Contra. 15 Ansichten zu A. S. Neills Theorie und Praxis, Rowohlt Verlag Reinbeck bei Hamburg 1971.
Website: http://www.summerhillschool.co.uk