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Militante Gewaltlosigkeit

Judith Butler entwirft eine Philosophie der Gewaltfreiheit

| Jens Kastner

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Foto: University of California, Berkeley, CC0, via Wikimedia Commons, Bearbeitung: Online-Red.

Judith Butler: Die Macht der Gewaltlosigkeit. Suhrkamp Verlag, Berlin 2020 , 251 Seiten , 28,- € (D), 28,80 € (A). ISBN: 978-3-518-58755-3

Gewaltlosigkeit ist nicht Passivität. Sie ist nicht erduldende Hinnahme des Bestehenden und auch keine Flucht vor Auseinandersetzung. Aber die Vorurteile gegenüber gewaltfreier Praxis sind langlebig und auch in der Linken weit verbreitet. Demgegenüber werden nun einmal mehr die kämpferischen und transformatorischen Potenziale der Gewaltfreiheit ausgelotet. Dieses Mal ist es die US-amerikanische Philosophin Judith Butler, die in ihrem aktuellen Buch ein, ja: militantes Plädoyer für die Gewaltlosigkeit hält. Butler verschränkt dabei moralphilosophische mit sozialtheoretischen Überlegungen. Vorwegzunehmen ist, dass dies trotz einiger offengelassener Fragen ein gutes Buch ist. Denn anders als Butlers letzte auf Deutsch erschienenen Werke – „Rücksichtslose Kritik“ (Konstanz 2019) und „Wenn die Geste zum Ereignis wird“ (Wien/ Berlin 2019) – hält dieses den Anforderungen an eine monographische Arbeit stand. Selbst wenn es ebenfalls aus einzelnen Aufsätzen besteht, fügen sie sich doch zusammen wie echte Kapitel, die ein Thema durchdiskutieren und nicht nur lose Gedanken kompilieren.

Butler beginnt mit der sehr richtigen Bemerkung, dass Gewalt sich nicht abstrakt definieren lasse und daher auch Gewaltlosigkeit schwer einzugrenzen sei. Gewalt als solche wahrzunehmen, hängt vom Rahmen dieser Wahrnehmung ab. Selbst gewaltfreie Blockaden von Militärgeländen wurden von Seiten der Herrschenden als „Gewalt“ beschrieben, während die Tötung von Frauen häufig als „privates Drama“ wahrgenommen wird. Über den gültigen Rahmen der Wahrnehmung entscheiden Machtverhältnisse. Das staatliche Gewaltmonopol der Moderne ist insofern auch Effekt einer Meta-Politik: Auf seiner Grundlage wird nicht nur als legitim anerkannte Gewalt ausgeübt, sondern auch darüber entschieden, was Gewalt ist und was nicht. Trotz und mit dieser nicht zu umgehenden definitorischen Unschärfe von Gewalt macht Butler sich daran, Kriterien der Gewaltlosigkeit zu entwickeln. Sie nennt vier konkrete Punkte (36ff.): Gewaltlosigkeit sollte verstanden werden

  • als kollektive Praxis, nicht als individuelle moralische Haltung,
  • als durchaus auch aggressive Praxis (die nicht auf ruhigem Seelenfrieden beruhen muss). Gewaltlosigkeit kann
  • auch zwingend sein, schließt also Zwang nicht aus und ist
  • nie ohne Widersprüchlichkeit zu haben, ist also nie rein, sondern erfordert stete Anstrengung (38).

An der Praxis misst sie ihre theoretischen Ausführungen selten. Gewaltfreie Aktionen aus dem Kontext der US-Bürger*innenrechts-, der Anti-AKW- oder den antimilitaristischen Bewegungen tauchen nicht auf. Es geht ihr vielmehr um die ethischen Voraussetzungen gewaltfreier Praxis. Damit meint sie aber nicht politischen Aktivismus, sondern soziales Handeln generell. Sie zielt nämlich ganz allgemein auf eine „Sozialphilosophie der lebendigen und haltbaren Bindungen“. (29) Dabei beruft sie sich u.a. auf Sigmund Freuds Thesen zur Destruktivität ebenso wie auf Walter Benjamins Kritik der Gewalt. Die „Basis für eine Theorie der sozialen Bindung“ (120) ist für Butler eine grundlegende gegenseitige Abhängigkeit, die Interdependenz: Kein Mensch kann ohne andere Menschen leben, Selbst und Subjekt sind nie eigenständige, bindungslose Einheiten. Sie sind immer schon mit dem Sozialen verwoben. Aus dieser Beschreibung erwächst dann bei Butler wie selbstverständlich eine Forderung, nämlich die nach einer gewaltfreien Ethik. „Gewaltlosigkeit wird zu einer bindenden ethischen Pflicht“, schreibt Butler, „eben weil wir aneinander gebunden sind“. (186)

Gewaltlosigkeit ist nicht Passivität. Sie ist nicht erduldende Hinnahme des Bestehenden und auch keine Flucht vor Auseinandersetzung. Aber die Vorurteile gegenüber gewaltfreier Praxis sind langlebig und auch in der Linken weit verbreitet.

Diese Konzeption ist einerseits stark und bietet viele Ansatzpunkte auch im Hinblick auf den politischen Kampf für eine solidarische Gesellschaft. Andererseits aber ist sie gerade in politischer Hinsicht auch höchst problematisch. Zu den Stärken gehört, dass Butler die Gewaltlosigkeit zur Durchsetzung soziopolitischer Gleichheit ins Verhältnis setzt. Gewaltlosigkeit verschafft den Lebenden einen „Anspruch auf Wertschätzung“ (39). Sie ist laut Butler das probate Mittel, um politische und soziale Gleichheit zu realisieren. Dafür braucht es nicht nur moralisches Handeln, sondern auch eine gesellschaftliche Infrastruktur, die solches Handeln fördert und absichert. Denn die „meisten Formen der Gewalt“ seien „der Ungleichheit verpflichtet“ (78). Für eine gewaltfreie Welt braucht es demgegenüber ein „egalitäres Imaginäres“ (101). Das bedeutet, es sollte eine Vorstellung davon geben und durchgesetzt werden, dass alle Leben gleich viel wert sind. Butler diskutiert dies unter dem Vorzeichen der Betrauerbarkeit: Ein Leben zählt dann gleich viel, wenn sein Verlust nicht bedeutungslos ist oder als bedeutungslos wahrgenommen wird, wenn er betrauert wird. Butler richtet sich damit auch gegen den Kult um die Selbstverteidigung, die ihrer Ansicht nach nur „den Krieg“ (24) fördere. Denn Selbstverteidigung begründe die Ausnahme vom Tötungsverbot und ebne damit den Weg für das Umschlagen von Verteidigung in Angriff. Selbstverteidigung, das hat kürzlich auch die französische Philosophin Elsa Dorlin in ihrem gefeierten Buch diesen Titels („Selbstverteidigung. Eine Philosophie der Gewalt“, Berlin 2020) gezeigt, schlägt nicht zufällig immer wieder von zurückhaltender Abwehr in offensive Aggression um.

Gewaltlosigkeit ist dennoch alles andere als unrealistisch. Sie wirkt laut Butler auf die Realität ein, sie „verlangt vielmehr den Abschied von der Realität, wie sie sich heute darstellt, und die Offenlegung von Möglichkeiten eines erneuerten politischen Imaginären“. (23) So weit, so kämpferisch. Nun aber tut sich das Problem auf, das aus dieser Konzeption entsteht. Interdependenz führt zwar zur Forderung nach einer sozialistischen Ethik, zur Abkehr vom neoliberalen Individualismus und zur Hinwendung zu politischer Gleichheit. Aber sie führt nicht automatisch zur Verwirklichung einer solchen Ethik. Sie kann und soll nicht verordnet werden, so viel steht für Butler immerhin fest. Es geht stattdessen um „ein gegen-institutionelles Ethos und eine gegen-institutionelle Praxis“ (82), die es zu verwirklichen gelte. Aber um gewaltfreies Leben in Realität umzusetzen, braucht es auch eine Einsicht in die von Butler so betonte Tatsache, dass nur Gleichheit eine bessere Welt schaffen kann. Diese Einsicht aber besteht bei vielen nicht. Wie sie herzustellen ist, mit dieser Frage lässt Butler uns allein. Mit diesem Problem einher geht die Frage, die Butler auch in ihren Texten zum prekären Leben und zur Solidarität bereits unbeantwortet ließ. Was ist mit jenen, denen diese prinzipielle Bindung egal ist? Die sich nicht an ihr orientieren? Die die „ethische Pflicht“ absichtlich mit Füßen treten? Was ist also mit denjenigen, die anderen schaden, mit den Ausbeuter*innen und den Spekulant*innen, was ist mit Nazis, Dschihadisten und was mit dem gelebten kleinbürgerlichen Ressentiment? Warum sollten wir all das schützen wie unser eigenes Leben – und nicht angreifen und bekämpfen? Butler umgeht diese entscheidende Frage leider erneut. Dass die gegenseitige Abhängigkeit uns zum „Nachdenken darüber an[regt], ob nicht der Selbsterhalt an den Erhalt des Lebens der anderen gebunden ist“ (187), mag prinzipiell möglich sein. Nicht zuletzt angesichts der ökologischen Katastrophe ist es auch sehr wünschenswert, dass dieses Nachdenken um sich greift und Konsequenzen nach sich zieht. Eine Tatsachenbeschreibung für eine verbreitete Haltung, die sich wie selbstverständlich aus der Interdependenz ergeben hätte, ist Butlers Schilderung aber nicht.

Dies ist ein Beitrag aus der aktuellen Druckausgabe der GWR. Schnupperabos zum Kennenlernen gibt es hier.