Pandemie als Chance?

Stadtpolitik unter Corona

| Horst Blume

Anton Brokow-Loga und Frank Eckardt: Stadtpolitik für alle. Städte zwischen Pandemie und Transformation. Verlag Graswurzelrevo-lution, Heidelberg 2021, 67 Seiten, 9,90 Euro, ISBN 978-3-939045-45-8

Wir erleben aktuell, wie Pandemie und Klimakatastrophe das Leben in den Städten beeinträchtigen und viele Menschen auf eine harte Probe stellen. Schon lange bestehende Probleme werden unter diesen Bedingungen verstärkt. Die beiden Autoren dieses Büchleins, Anton Brokow-Loga und Frank Eckardt, verfallen deswegen allerdings nicht in einen lähmenden Pessimismus, sondern arbeiten optimistisch und mutmachend heraus, wie unter krisenhaften Bedingungen die Bereitschaft erwächst, aus aktuellen Erfahrungen zu lernen und eingefahrene Wachstumspfade verlassen werden können, um Neues auszuprobieren.

Zunächst jedoch stellen die beiden Autoren fest, dass ein Teil der Menschen auf die jetzigen komplexen Krisen mit Ohnmachtsgefühlen reagiert und sich einige autoritären Erklärungsversuchen und Verschwörungstheorien zuwenden. Begünstigt wird dieses Verhalten durch das Schwinden des Zusammenhalts in den Stadtgesellschaften, den Kommunikationsverlust und die Polarisierung zwischen den unterschiedlichen Schichten, Gruppen und „Blasen“. Während es beispielsweise den Einen aufgrund ihrer Mittelstandzugehörigkeit relativ einfach gelingt, Tempo 30-Zonen für ihre schöne Wohngegend durchzusetzen, fällt es ärmeren Stadtteilen schwerer, einen zufriedenstellenden Zugang zum öffentlichen Nahverkehr zu erkämpfen.

Welche verblüffenden Potentiale eine Krise freisetzen kann, wird in dem Bereich Mobilität herausgearbeitet. Da sich während der Pandemie der Autoverkehr deutlich reduzierte, konnten Fahrräder und FußgängerInnen den nun freigewordenen Raum zurückerobern und hierdurch die staatlich geförderte Dominanz des Autos zurückdrängen. Dies drückt sich in manchen Großstädten sogar in neu ausgewiesenen breiteren Fahrradwegen auf den Autostraßen aus. Es eröffneten sich mit der Umverteilung des Straßenraumes neue Möglichkeiten, die von den Menschen erlebt und genossen werden konnten und durch administratives städtisches Handeln flankiert wurden. Während der Pandemie zeigt sich deutlich, dass die beengte Wohnsituation eine für viele ärmere Menschen besonders bedrückende Situation darstellt, weil durch Homeschooling, Homeoffice und Ausgangsbeschränkungen die ohnehin bestehenden Probleme durch Übernutzung und fehlende Rückzugsorte verstärkt wurden. Unter diesen Bedingungen ist die ungleiche Verteilung von Wohnraum und die Segregation zwischen Arm und Reich nicht zu übersehen. Obwohl es während der Anfangsphase der Pandemie eine Diskussion über Zwangsräumungen von Mieter*innen oder die Situation von Geflüchteten und Nichtsesshaften gab, geriet dieses Thema relativ schnell wieder aus dem Blickfeld der öffentlichen Diskussion.

Einen größeren Raum widmen die Autoren der gegenseitigen Hilfe, dem Abbau von Vorurteilen und dem Entstehen von Verständnis und Empathie innerhalb der Stadtgesellschaft, um exklusive Solidarität nur innerhalb von Gruppen und damit gegenseitige Ausschlüsse einzudämmen. Im gemeinsamen Lebensraum Stadt soll im Gegensatz zum neoliberalen „Konzern Stadt“ ein partizipatorischer Raum entstehen, indem Hierarchien abgebaut, Macht hinterfragt und gesellschaftliche Teilhabe vom Geldbeutel der Einzelnen entkoppelt wird. Eine Absage erteilen die Autoren den herkömmlichen neoliberalen Optimierungsoptionen wie der Beschleunigungs-Logik, bei der basisdemokratische Grundsätze verloren gehen und dem „Scaling Up“, bei dem lediglich eine schlichte wachstumsfixierte Vergrößerung von Projekten stattfindet. Kritisiert wird ebenfalls die Vision der wachstumsaffinen „Smart City“, die zu hohem Rohstoffverbrauch, massiven Umweltschäden, Anfälligkeit für Cyberkriminalität und digitaler Kontrolle führt und damit einer sozialen und ökologisch orientierten Stadtgesellschaft diametral entgegensteht. Bei der im Buch vorgeschlagenen Vorgehensweise steht hingegen die gesamte Stadt auf dem Prüfstand, wie sie sich auf das globale Ökosystem und auf das Leben der Menschen in der restlichen Welt auswirkt.

Klar ist, dass eine Beschränkung auf eine lediglich technisch-ökologische Modernisierung ohne Infragestellung der bisherigen „imperialen Lebensweise“ den heutigen krisenhaften Verhältnissen nicht gerecht werden kann. Eine erfolgreiche Transformation der Stadtgesellschaft erfordert eine Ausweitung der Selbstorganisation sowie mehr Zusammenarbeit und Nähe. Hierbei sind neue Formen der Planung und Entscheidungsfindung in Interaktion mit den „alten“ Mächten wie Verwaltung und Kommunalparlament notwendig, deren Möglichkeiten ausführlich erläutert werden. Auf nur 67 Seiten gelingt es den beiden Wissenschaftlern der Bauhaus-Universität Weimar, die von Rudolf Rocker nach dem zweiten Weltkrieg formulierten Ansätze von „Gemein-desozialismus“ und den libertärem Kommunalismus Murray Bookchins mit besonderem Fokus auf Coronapandemie und Klimakatastrophe weiterzuentwickeln und neue konkrete Impulse zu geben. Es ist ein sehr gelungener Auftakt zur neuen Buchserie „Auf den Punkt“, mit der der Verlag Graswurzelrevolution auf aktuelle politische Entwicklungen eingeht.