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Wie der Corona-Ausnahmezustand auf die Gesellschaft wirkt

Lektüre zum Weiterdiskutieren

| Elisabeth Voß

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Hofbauer, Hannes; Kraft, Stefan (Hg.): Lockdown 2020. Wie ein Virus dazu benutzt wird, die Gesellschaft zu verändern. Promedia, Wien 2020, 280 Seiten, 19,90 Euro, ISBN: 978-3-85371-473-7

D.F. Bertz (Hg.): Die Welt nach Corona. Von den Risiken des Kapitalismus, den Nebenwirkungen des Ausnahmezustands und der kommenden Gesellschaft. Bertz + Fischer, Berlin 2021, 732 Seiten, 24 Euro, ISBN 978-3-86505-763-1

Mittlerweile ist Vieles zu Corona geschrieben worden, und es mag sich eine gewisse Müdigkeit einstellen. Seit über einem Jahr vergeht kein Tag, ohne dass im Alltag die Folgen der Corona-Maßnahmen zu spüren sind. Nahezu alle Medien berichten unablässig fast nur noch über dieses eine Thema. Und ein Ende ist nicht absehbar. Aber auch wenn es vorbei ist, wird Vieles aufzuarbeiten und zu verstehen sein. Eines Tages werden die Veröffentlichungen aus den Zeiten der Pandemie als historische Nachschlagewerke dienen und kommende Generationen werden von Manchem die vorausschauende Hellsichtigkeit bewundern, über Anderes verwundert den Kopf schütteln.

Als heute Betroffene und Lesende mache ich mir die Begrenztheit meines Einschätzungsvermögens bewusst und bemühe mich, der Versuchung zu widerstehen, das Gelesene vorschnell nach falsch oder richtig zu sortieren. Die beiden Bücher, die ich hier bespreche, habe ich mit Interesse und kritischem Blick gelesen, jedoch ohne diesen Blick akribisch darauf zu verengen, ob ich irgendwelche Anhaltspunkte für Vorwerfbares finde. Angesichts der verbreiteten Unversöhnlichkeit und oft vergifteten Diskurse in dieser Corona-Zeit habe ich mich vom vorschnellen Urteilen weg und zu fragendem Reflektieren hin bewegt. Von meiner momentanen Sicht bin ich überzeugt, denke aber die Möglichkeit des eigenen Irrtums mit. Klare Leseempfehlung Für beide hier besprochene Bücher kann ich eine klare Leseempfehlung aussprechen. Dass es nahezu unmöglich ist sie zu lesen, ohne dass sich an der ein oder anderen Stelle Widerspruch regt, halte ich für eine Qualität. Denn wie langweilig wäre es, wenn ich meine Zeit damit verschwenden würde, mir nur Bestätigungen zu holen – wie könnte ich da Neues lernen?

Mich interessiert auch die Zusammensetzung der Autor*innen nach Geschlecht. Meine Perspektive darauf mache ich hier transparent, denn manchmal ist das heute dünnes Eis: Meine Schlussfolgerungen ziehe ich aus den Namen und den biografischen Angaben zu den Autor*innen. Dort habe ich keine Hinweise zum Dritten Geschlecht gefunden, weswegen ich alleine nach Frau/Mann gezählt habe. Beide Bücher sind männerlastig, mit unterschiedlichem Schweregrad. Von den 20 „Lockdown 2020“-Autor*innen sind 16 Männer, 3 Frauen, und ein Kollektiv ohne weitere Angaben. In „Die Welt nach Corona“ schreiben 35 Männer, 20 Frauen, und ein männerdominiertes Kollektiv.

Beide Bücher sind nicht mehr ganz neu. „Lockdown 2020“ erschien im Spätsommer 2020, „Die Welt nach Corona“ im Januar 2021. Jedoch stammen auch beim zweiten Buch nahezu die Hälfte der Beiträge aus dem Frühjahr 2020, wurden bereits in (meist linken) Medien veröffentlicht und für das Buch teilweise aktualisiert. Beide Bücher sind von den jeweils Verlagsverantwortlichen persönlich herausgegeben worden, verstehen sich als staats- und kapitalismuskritisch, haben jedoch unterschiedliche Zielrichtungen.

Lockdown 2020.
Wie ein Virus dazu benutzt wird, die Gesellschaft zu verändern

Die Herausgeber schätzen die Corona-Maßnahmen „langfristig als schlimmer ein als das Virus selbst“. Sie kritisieren „diffamierende Zuordnungen wie Verharmloser, Coronaleugner oder Gesundheitsgefährder“ und sind überzeugt, dass „der Kampf gegen eine Virusausbreitung politisch, wirtschaftlich und gesellschaftlich instrumentalisiert wird“. Dem wollen sie entschieden entgegentreten und betonen, dass darüber „Einigkeit der Autorinnen und Autoren dieses Bandes besteht“. Der Beitrag des chinesischen Chuang-Blogs skizziert die Entstehung von Seuchen als Ergebnisse kapitalistischer Naturzerstörung und gibt Einblicke in den Umgang mit Covid-19 in China. Die Regierung war nicht imstande, der Ausbreitung Einhalt zu gebieten und reagierte mit einer Mischung aus Repression und Einbindung der Bevölkerung durch Aufrufe zu freiwilligem Engagement. Über die dramatische Situation in Italien berichtet Armando Mattioli. Es fehlte an allem, an Personal und an Betten und Schutzausrüstung. Nicht nur PatientInnen, sondern auch viele ÄrztInnen und Pflegekräfte starben. Das Gesundheitssystem war seit Jahren drastisch kaputt gespart worden. Die „gesundheitliche, soziale und wirtschaftliche Katastrophe“ sei nicht auf Corona zurückzuführen, „sondern auf die von der EU gewünschte neoliberale Sparpolitik“. Mit den Auswirkungen auf globale Lieferketten setzt sich Andrea Komlosy auseinander. Es käme zwar zu Re-Nationalisierungen, aber auch zu „Güterketten neuen Typs“ durch „ein kybernetisches Zeitalter selbst steuernder und miteinander kommunizierender Maschinen“. Gesetze könnten die schlimmsten Auswüchse in der Produktion regulieren, aber Menschen würden als Lieferanten von Daten bis in die Privatsphäre hinein verfolgt. Sicherheitspolitische Entwicklungen nimmt Joachim Hirsch in den Blick. Er zeichnet einen Bogen vom Deutschen Herbst über den „Kampf gegen den Terror“ nach 9/11 bis zum aktuell digitalgestützten „Sicherheitsstaat 4.0“. Verschwörungstheorien erteilt er eine Absage, jedoch handele es sich „um einen vielschichtigen Komplex von Interessen“ und es sei unwahrscheinlich, dass alle Überwachungsmaßnahmen wieder zurückgenommen würden. Rolf Gössner, der selbst jahrzehntelang zu Unrecht überwacht wurde, kritisiert in aller notwendigen Schärfe die Grundrechtseinschränkungen als unangemessen. Er weist auf zweierlei Maß hin, angesichts des Sterbens auf dem Mittelmeer und „offiziell genehmigter deutscher Waffenexporte in Krisengebiete und an Diktaturen“, denn es gehe doch dort „ebenfalls um Gesundheit und Menschenleben“. Er kritisiert die Selbstentmachtung des Parlaments durch das Infektionsschutzgesetz, die Blanko-Ermächtigung der Exekutive und eine vergiftete Diskussionskultur. Ulrike Baureithel reflektiert reale und imaginierte Ausschlüsse und Aussonderungen im Ausnahmezustand, als das Wegsperren Älterer und zu Risikopersonen erklärter Menschen zur ernsthaft diskutierten Option und teilweise auch zur Realität wurde. Sie referiert Positionen zur Triage und hinterfragt darin aufscheinende Nützlichkeitsvorstellungen.

Eines Tages werden die Veröffentlichungen aus den Zeiten der Pandemie als historische Nachschlagewerke dienen und kommende Generationen werden von Manchem die vorausschauende Hellsichtigkeit bewundern, über Anderes verwundert den Kopf schütteln.

Weitere Beiträge befassen sich mit Fragen nach der Definition von Gesundheit und nach Evidenz, mit einem neuen kapitalistischen Akkumulationsmodell durch Digitalisierung, mit dem gesellschaftlichen Umgang mit Seuchen und Hygiene bis hin zur „Gesundheitsdiktatur“, mit linkem Konformismus und der Rolle der Medien. Es geht um grundlegende Themen wie Menschenwürde, Leben und Tod. Auch die Situation von Kindern und Jugendlichen wird behandelt, und Auswirkungen auf den Kulturbereich und den Fußball. Abschließend gibt es eine Sammlung von Zitaten zum Lockdown aus verschiedenen fachlichen und politischen Richtungen. Das Buch stellt Fragen und bezieht Positionen, die in wohltuendem Kontrast zur vermeintlichen Alternativlosigkeit staatlicher Maßnahmen stehen. Dass es dabei vereinzelt zu Überzeichnungen kommen mag, erscheint als Reaktion auf die staatlich geschürte Panik nachvollziehbar.

Die Welt nach Corona.
Von den Risiken des Kapitalismus, den Nebenwirkungen des Ausnahmezustands und der kommenden Gesellschaft

Auch dieser Band hat eine klare Ausrichtung. Es sei „notwendig, sich mit den Grundbegriffen der Infektionswissenschaften vertraut zu machen“, betont Herausgeber D. F. Bertz, „wer allerdings die Corona-Krise in ihren verschiedenen Dimensionen ausleuchten will, kommt ohne kritisches Nachdenken über ökonomische, politische und soziale Verhältnisse und Zusammenhänge nicht weit“. Darin seien sich die Autor*innen einig, „auch wenn sie etwa bei der Einschätzung des Notstandsregimes unterschiedlicher Meinung sein mögen“. Seine ausführliche Einleitung, die er mit 141 Quellenangaben versehen hat, versteht Bertz als eigenen Diskussionsbeitrag. Die menschengemachte Pandemie sei eine „Katastrophe mit Ansage“, Warnungen seien systematisch ignoriert worden. Die „Corona-Skeptiker*innen“ verortet er daher zuerst im Staatsapparat. Statt um Vorsorge sei es um Haushaltsdisziplin im Sinne der Schuldenbremse gegangen. Als „ideeller Gesamtkapitalist“ hätte der Staat dann versucht, „einen reibungslosen Kapitalverwertungsprozess zu gewährleisten“. Um Schutz der Risikogruppen sei es nie gegangen. In den Altenheimen würden rund 120.000 Pflegekräfte fehlen, „um den Mitarbeiter*innen und Bewohner*innen ein einigermaßen erträgliches Arbeiten und Leben zu ermöglichen“. Er kritisiert die Schockstrategie des Innenministeriums und den einseitigen Freizeitlockdown, klassistische und rassistische Maßnahmen und möglicherweise sogar tödliche Ausgangssperren. In der Pandemie sieht er ein „Mystifikationsspektakel des Staates, das eine nationale Schicksals- und Solidargemeinschaft über die sozialen Gegensätze hinweg beschwört“. Das Buch versteht sich „als pluralistischer, vielstimmiger Debattenbeitrag“ und Bertz betont: „Offene, streitbare, aber solidarische Auseinandersetzungen über emanzipatorische Perspektiven in Zeiten von (Post-)Corona, scheinen mir dringend geboten“. Diesem Anliegen kann angesichts der Zerstrittenheit der gesellschaftlichen Linken nur zugestimmt werden. Der Sammelband, der in vier Kapitel gegliedert ist, leistet einen bemerkenswerten Beitrag dazu. Nachfolgend ein paar Beispiele.

Die CILIP-Redaktion zeigt in „Ausnahmezustand & Gesundheitsnotstand“, wie die Grundrechtseinschränkungen vor allem linke Proteste treffen, aber auch die Schwierigkeiten der Linken, eine Position dazu zu finden „ohne in den Ruf nach autoritären Maßnahmen einzustimmen“. Johannes Hauer kritisiert die Kriegsmetapher, denn es gehe doch um Lebensrettung, während im Krieg Staaten gezielt töten würden. In „Corona-Kapitalismus & Sozialepidemiologie“ verdeutlichen Silke van Dyk, Stefanie Graefe und Tine Haubner, wie mit der Definition sogenannter Risikopersonen „ein altersbezogener, bipolarer ‚Wir/Sie‘-Diskurs“ dominiere. Es gehe mehr um die Frage der Kosten des Schutzes als um Lebensqualität. In zwei Beiträgen geht es um Verschwörungstheorien. Natascha Strobl analysiert sozialdarwinistisches und ökofaschistisches Gedankengut von rechts, während Ingar Solty und Velten Schäfer die Grauzonen ausleuchten, die als „konformistische Rebellion“ nach rechts tendieren. Es sei jedoch unpolitisch, „ganze soziale Felder schon bei Spuren ‚unreinen‘ Denkens abzuschreiben“. Die menschenrechtswidrige Flüchtlingspolitik der EU und insbesondere von Deutschland prangert Ramona Lenz im Kapitel „Globale Seuche & globale Krise“ an. Viele Beiträge geben Einblicke in die spezifische Situation von Ländern rund um den Globus. Fast überall bieten privatisierte und kaputtgesparte Gesundheitssysteme dem Virus eine offene Flanke. Demba Sanoh stellt den kolonialistischen Blick auf Afrika in Frage, wie er von Christian Drosten und Bill Gates formuliert wurde. Dem setzt er historische Tatsachen und aktuelle Beispiele für Selbstermächtigung entgegen.

Der Ausblick in „Neue Normalität & Post-Corona“ fällt durchwachsen aus. Am Beispiel von Impfstoffen zeigt Andreas Wulf, wie in Public-Private-Partnerschaftsmodellen immer mehr öffentliche Gelder zu den Privaten fließen. Über Arbeitskämpfe berichten Sebastian Scholz und Nina Friedrich. Sozialökologische Perspektiven skizzieren Alex Demirovic und Lia Becker, wofür „eine gesellschaftliche Diskussion über eine sozialistische Gouvernementalität dringend notwendig“ sei. Julia Fritzsche stellt patriarchalem Autonomiestreben und Individualismus als feministische Perspektive die Anerkennung von Abhängigkeiten entgegen, die zum Menschsein dazugehören, denn „Menschen sind abhängig und frei zugleich“. Das umfangreiche Werk ist eine Fundgrube für die notwendige linke Kritik am staatlichen Umgang mit Corona, an dem die vielen Widersprüche des Kapitalismus deutlich werden. Es zeigt darüber hinaus reale Kämpfe und mögliche solidarische Perspektiven.

Dies ist ein Beitrag aus der aktuellen Druckausgabe der GWR. Schnupperabos zum Kennenlernen gibt es hier.