Rosa Luxemburg: Etwas Demokratie, etwas Diktatur

Ein Lesebuch zeichnet Sternstunden sozialdemokratischer Demokratiedebatten nach

| Mathias Schmidt

Lutz Brangsch & Miriam Pieschke (Hrsg.): Sich nicht regieren lassen. Rosa Luxemburg zu Demokratie und linker Organisierung. Ein Lesebuch. Dietz Verlag, Berlin 2021, 206 Seiten, 18 Euro, ISBN 9783320023799

Rosa Luxemburg erfüllt viele Rollen: Sozialistin, Internationalistin, Migrantin, Jüdin, Ikone, politische Gefangene, ambivalente Kritikerin der Bolschewiki, Mitbegründerin der KPD, Journalistin, Juristin, Wirtschaftswissenschaftlerin, Antimilitaristin, Strategin, Hassobjekt der Rechten, Mordopfer und Projektionsfläche. Die Liste ließe sich fortsetzen.

Räumt man die Werke von und über Rosa Luxemburg in ein Regalbrett, lassen sich einige Meter Buchrücken abmessen. Was soll man noch über sie schreiben, was nicht längst ausführlich behandelt wurde? Vielleicht ist es gerade dieses Überangebot, welches die Legitimation für einen neuen Band liefert. In „Sich nicht regieren lassen. Rosa Luxemburg zu Demokratie und linker Organisierung. Ein Lesebuch.“ liefert der Karl Dietz Verlag Berlin eine umfangreiche, verständliche und höchst anschauliche Übersicht des luxemburgischen Denkens.

Das erklärte Ziel der Herausgeber*innen ist es, Rosa Luxemburgs „Positionen zu linker Organisierung und Demokratie innerhalb einer Partei oder Organisation und […] zu Parlamentarismus und demokratischer Verfasstheit von Gesellschaft“ zu vermitteln. Diese zentralen Fragen waren, sind und bleiben Konflikt- und Spaltungspunkte, bei denen antiautoritäre Linke hellhörig werden. Und um es zu verraten: Dieses Ziel wird erreicht. Die Texte sind klar und deutlich, was nicht bedeutet, dass man Luxemburg in jedem Punkte zustimmen müsste.

Das Buch ist erfreulich stringent und chronologisch strukturiert. Kapitel für Kapitel arbeiten sich die Leser*innen durch einen wiederkehrenden Dreischritt aus kurzer klappentextartiger Einleitung, streckenweise langatmigen Originaltext von Luxemburg und einem erläuternden Hintergrund. Die Seiten sind gespickt mit kurzen Biographien derjenigen Personen, auf die in den Texten Bezug genommen wird. Ein richtiges who is who der europäischen sozialistischen Szene findet sich so zusammen. Das Lesen macht so viel Freude, dass man das Buch weder aus der Hand legen möchte, noch für zusätzliche Recherchen muss.

Besonders hervorzuheben ist die knallige Aufmachung. Allein die Farbe des Umschlags sticht wörtlich ins Auge. Als besonderes Gimmick lässt sich der Schutzumschlag entfernen und zum Rosa-Luxemburg-Poster mit rückseitiger Zeitleiste aufklappen. Schriftbild, Haptik und Layout sind kein Vergleich zu den dünnseitigen, nüchtern gehaltenen Bänden der Marx-Engels-Ausgaben des Verlages, als dieser noch Propagandaunternehmen der SED war.

Diese unrühmliche Traditionslinie ist aus anarchistischer Perspektive selbstredend problematisch, und auch Rosa Luxemburg selbst würde es in den Fingern jucken, sich am „Sozialismus“ der DDR ordentlich abzuarbeiten. Doch sollte an den heutigen Verlag kein unnötig polemisierender Maßstab gelegt werden. Die Herausgeber*innen des Buches haben eine berufliche Heimat in Linkspartei und Rosa-Luxemburg-Stiftung gefunden, sodass in dieser Konstellation der Verdacht einer Gefälligkeitsbeschreibung aufkommt. Jede Textauswahl aus dem umfangreichen Werk Luxemburgs stellt bereits eine Interpretation dar. Hier und da lungert der Gedanke, dass es der Linkspartei eigentlich gut in den Kram passt, wenn die Namensgeberin der ihr nahestehenden Stiftung so reproduziert wird, wie die Partei selbst gerne wäre.

Es ist keine Überraschung, dass das Werk die Existenz einer explizit anarchistischen Strömung innerhalb der Arbeiter*innen-Bewegung komplett unter den Tisch fallen lässt. Die Organisationsfrage verengt sich dadurch häufig auf die Frage, welchen Mittelweg zwischen Reform und Revolution, Zentralismus und innerer Offenheit eine Partei zu wählen habe. Bisweilen erhält man den Eindruck, dass Luxemburg sich an der Quadratur des Kreises abarbeitet, wenn sie Demokratie in einem hierarchischen Apparat herzustellen versucht. Diejenigen Menschen, für die sie beansprucht Politik zu machen, erscheinen als gesichtslose „Masse“. Namen sind Personen vorbehalten, die respektable Posten in Parteiapparaten ausfüllen. Rosa Luxemburg ist eben im besten und eigentlichen Wortsinn eine Sozialdemokratin und keine Anarchistin.

Im Nachklapp thematisiert Alex Demirović eine Ambivalenz, die einigen – teilweise unveröffentlichten – Beiträgen Luxemburgs zugrunde liegt. Unter dem Eindruck des Ende des Ersten Weltkrieges und der Revolution kann sie sich nicht zu einer stringenten Haltung durchringen: Soll die Macht von Arbeiter- und Soldatenräten ausgeübt werden? Oder nur von Arbeiterräten? Oder von einem „Arbeiterparlament“? Die Mitherausgeberin Miriam Pieschke resümiert darauf, dass Luxemburg „keine Verfechterin des Entweder-Oder, sondern des Sowohl-als-Auch“ sei: „Reform und Revolution, kurzfristige Strategie und langfristiges Handeln, Lernen und Lehren, Führung und Masse.“ Eine Rosa Luxemburg, die Vielen gefallen kann.