Tot und Lebendig

Libertäres aus drei Jahrhunderten

| Jochen Knoblauch

Ein kleiner Stapel Bücher will gelesen werden. Im Moment lässt meine Situation es nicht zu, mich eingehend mit umfangreichen Werken zu beschäftigen. Mehr als reinschnuppern ist nicht drin, aber dabei fallen mir noch ganz andere Gedanken aus dem Kopf...

Die Toten

Der in der A-Szene schnell als „Frauenhasser“ verpönte Pierre-Joseph Proudhon (1809–1865) war in erster Linie Ökonom und sein (unvollständiges) Zitat „Eigentum ist Diebstahl“ tragen Anarchist*innen gerne vor sich her. Jetzt liegt in neuer Übersetzung das Buch „Was ist das Eigentum? Zweite Denkschrift: Brief an Herrn Blanqui über das Eigentum (1841)“ (1) vor. Die Ökonomie ist eigentlich eine Schwachstelle des Anarchismus und daher sollte doch ein solcher Autor unter dieser Prämisse gelesen werden, und dann sehen wir weiter, ob er aus den heiligen Hallen des Anarchismus verstoßen werden muss.

Eine etwas weniger umstrittene Person des historischen Anarchismus ist sein Herold Max Nettlau (1865–1944). Jetzt liegt Band 2 der „Geschichte der Anarchie – Der Anarchismus von Proudhon zu Kropotkin. Seine historische Entwicklung in den Jahren 1859–1880“ (2) in einer überarbeiteten, korrigierten und erweiterten Fassung vor. Die auf zehn Bände angelegte Edition ist ein Mammutprojekt, welches durch die Verknüpfung von Print- und Online-Version zukunftsweisend ist (3) und die alten Copy & Paste-Versionen überflüssig machen wird. Manchen Junganarchist*innen reichen ja schon Bärte, um historische Personen abzulehnen, aber ohne die eigene Geschichte zu kennen, bewegen wir uns nur im Kreis.

Die Lebenden

Seit den 1990er Jahren ist in den USA eine neue, vielfältige anarchistische Bewegung entstanden. Eine kontinuierliche Größe in der Szene ist CrimethInc. Das lose Kollektiv meldet sich regelmäßig mit Statements und Pamphleten zu Wort und findet in Europa hauptsächlich bei den Junganarchist*innen Gehör. Neu ist jetzt ein Sammelband: „Writings on the Wall. Communiqués 2012–2020“ (4) – entgegen dem Anschein des Titels in deutscher Übersetzung erschienen.

Jetzt kommt der Trend, dass einem schon die jüngste Vergangenheit geschichtlich aufgearbeitet wird (Spontis, Bewegung 2. Juni usw.). Jüngst erschien der erste von zwei Bänden über die Untergrund-Zeitschrift „radikal“ (5), die ab 1976 als Theorieblatt der Autonomen-Szene mehrmals beschlagnahmt wurde und seit 1984 mehr oder weniger unregelmäßig anonym erscheint (wobei sich hier die Frage der Mathematik stellt). Ich selbst war teilweise am klandestinen Vertrieb beteiligt wegen der „Pressefreiheit“, aber die Frage bleibt, was sich daraus auch lernen lässt. Als P.M.-Fan („bolo’bolo“ zähle ich immer noch zu den wichtigsten Büchern) muss ich an dieser Stelle natürlich auf das zehnbändige Großprojekt „Die große Fälschung“ eingehen. (6) P.M. als Rodulf Ritter von Gardau um das Jahr 1000, der nach einem Aufstand gezwungen ist, seine Heimat zu verlassen und ziemlich weit rumkommt in der Weltgeschichte. Der Verlag vergleicht das Werk gerne mit „Game of Thrones“, aber ich finde, dass es wesentlich mehr bietet als höfische Intrigen, Sex und Gemetzel.

Noch mal eher was Politisch-Literarisches aus der Prenzlauer-Berg-Szene Berlin: Bert Papenfuß (Hrsg.), „Sÿstemrelevanz & Lumpenïntelligenz. Schriften aus dem Vorlaß von Sepp Fernstaub“. (7) Mit Texten, Gedichten, Gesprächscollagen über Zeitmaschinen, William Godwins Buch „Caleb“, Proudhon und anderes. Für Liebhaber*innen ausufernder Fußnoten bei Gedichten ein absolutes Muss.

Aber gelesen habe ich was ganz anderes, nämlich einen geschenkten kleinen Roman aus der Bibliothek Suhrkamp von Slavko Kolar, „Das Narrenhaus“, 1966 erstmals auf Deutsch erschienen, erzählt er vom leisen Widerstand eines mittleren Beamten gegen die von den Nazis eingesetzten Nationalisten in Zagreb 1941. Über das Verschwinden einer jüdischen Familie, die zwar niemand besonders mochte, aber den neuen „Herrenmenschen“, der die Wohnung samt Mobiliar übernimmt, will man erst recht nicht. Dass dieser kleine Roman in Deutschland 1966 keine Beachtung fand, scheint mir klar, aber dass der Autor und dieses Buch hier bis heute unbekannt geblieben sind, ist schlichtweg schade.

(1) Pierre-Joseph Proudhon: Was ist das Eigentum? Zweite Denkschrift: Brief an Herrn Blanqui über das Eigentum, Herausgegeben und aus d. Franz. übers. von Lutz Roemheld mit einer Einleitung von Gerhard Senft. Verlag Monte Verità, Wien 2020. Paperback, 347 Seiten, 20,00 Euro, ISBN: 978-3900434878
(2) Max Nettlau: Der Anarchismus von Proudhon zu Kropotkin. Seine historische Entwicklung in den Jahren 1859–1880, GESCHICHTE DER ANARCHIE (Werkausgabe), BAND I, Herausgege-ben und mit einer editorialen Notiz von Jochen Schmück. Libertad Verlag, Potsdam 2020, 344 Seiten, 38,00 Euro, ISBN 978-3922226307
(3) Vgl. hierzu: GWR Nr. 444, Dezember 2019 und www.geschichte-der-anarchie.de (4) CrimethInc.: Writings on the Wall. Communiqués 2012–2020.Unrast Verlag, Münster 2020, 348 Seiten, 18,00 Euro, ISBN 978-3-89771-284-3
(5) Frans Scholten: die revolte bin ich – 40 Jahre 'radikal', Teil I von II Bänden. edition assemblage, Münster 2020, 220 Seiten, 16,00 Euro, ISBN 978-3-96042-084-2 | WG 2-973
(6) P.M.: Rodulf Ritter von Gardau. Die große Fälschung. Hirnkost Verlag, Berlin 2020 ff., Band 1 + 2, die Bände 3+4 erscheinen demnächst. Pro Band ca. 140 Seiten, ca. 14,00 Euro, gebunden mit Lesebändchen; auch als E-Book Band 1: ISBN 978-3-948675-80-6 Band 2: ISBN 978-3-947380-38-1
(7) Bert Papenfuß: Sÿstemrelevanz & Lumpenïntelligenz. Schriften aus dem Vorlaß von Sepp Fernstaub. Quiqueg Verlag, Berlin 2020, 96 Seiten, 14,50 Euro, ISBN 978-3-945874-14-1