Myanmar, der Putsch des Militärs und der Widerstand der Bevölkerung sind aus den deutschen Massenmedien wieder verschwunden. Die Auseinandersetzung ist jedoch nicht vorbei. Das Militär versucht mit Mord, Folter und Inhaftierungen die Kontrolle über das Land zu erringen. Die Bevölkerung reagiert mit zivilem Ungehorsam und Streik. Gleichzeitig nehmen die Kämpfe zwischen den bewaffneten Gruppen der ethnischen Minderheiten, den neu gegründeten Volksverteidigungskräften und dem burmesischen Militär, Tatmadaw, zu. Im Interview mit der Graswurzelrevolution erzählt Nwe Oo über die Lage in Myanmar. Sie hat bis vor kurzem den zivilen Ungehorsam in Yangon unterstützt und ist aus Sicherheitsgründen seit Mitte April in Thailand. Hier organisiert sie u.a. Spendenkampagnen für die Demokratiebewegung. Das Interview wurde am 10.5. 2021 von einer internationalen Friedensfachkraft geführt, die viele Jahre in Myanmar gelebt hat und nach wie vor mit burmesischen Bildungsorganisationen zusammenarbeitet. (GWR-Red.)
GWR: Nwe Oo, kannst du kurz ein paar Worte zu dir selber sagen und wie du in die Bewegung des Zivilen Ungehorsams (CDM) involviert warst, was deine Aktivitäten in Myanmar waren und warum du das Land verlassen hast?
Nwe Oo: Ich bin Sprachlehrerin und Übersetzerin und arbeite zudem als selbständige Beraterin im Entwicklungsbereich und im Privatsektor. Dass ich im CDM aktiv geworden bin, hat unter anderem vermutlich mit meinem Alter zu tun, das mir mehr Selbstvertrauen gibt. Außerdem lebe ich nicht mehr zu Hause und habe daher die Freiheit, zu machen, was ich möchte. Es hat aber auch mit dieser Zeit zu tun: Zuvor war ich nie Teil einer Widerstandsbewegung. 1988 (1), als ich ziemlich jung war, gab es Proteste und dann im Jahr 2007 die Saffron-Revolution. (2) Dazwischen gab es einen kleineren Aufstand (3) und dann 2014 einen gegen die „Education Bill“ (4).
Wir sollten uns nicht grundlos so abgrundtief hassen. Die Anführer des Militärputsches benutzen uns für ihre Interessen. Die Soldaten müssen das verstehen und auf unsere Seite wechseln. So können wir verhindern, dass wir uns gegenseitig umbringen.
Ich war in keinen davon involviert, weil ich nicht die Freiheit hatte, hinzugehen. Ich bin in einer Umgebung aufgewachsen, die geprägt war von Angst: Wenn du dich politisch engagierst, landest du für den Rest deines Lebens im Gefängnis oder wirst getötet. Auch hatte ich gehört, auf welche Weise in den Gefängnissen gefoltert wurde. Also war mir Politik fremd und ich interessierte mich auch nicht dafür. Aber dann kam 2011 diese Schein-Demokratie und wir hatten plötzlich mehr Freiheiten. Als jetzt der Tatmadaw-Militärputsch passierte, bekam ich wirklich Angst, dass wir zum vorherigen Zustand zurückkehren würden. Also schloss ich mich den Protesten an. Als das Militär am 3. März 2021 viele Demonstrierende tötete, war ich am Punkt, wo ich wirklich etwas unternehmen wollte. Es genügte mir nicht mehr, nur an Demonstrationen teilzunehmen. Also begann ich finanzielle Mittel für den Widerstand zu beschaffen, um den zahlreichen Demonstrant*innen zu helfen, die schutzlos waren. Viele, die Verletzungen erlitten haben oder deren ganze Familien umgebracht wurden, sind sehr arm. Dort hat es für mich angefangen. Später bekam ich als Übersetzerin die Aufgabe, kritische Artikel zu übersetzen. Oft funktionierte das Internet nicht und ich hatte das Gefühl, dass die ganze Zeit mitverfolgt wird, was ich mache. Ich war total verunsichert und konnte unter dieser ständigen Belastung nicht mehr gut arbeiten. Ich hörte auch, dass viele Leute festgenommen worden waren, nur weil sie geholfen hatten, Spenden zu sammeln und an Demonstrierende zu verteilen. Das alles hat mir große Angst gemacht und ich habe deshalb das Land verlassen.
Du hast immer noch Freunde und Familienmitglieder in Myanmar. Wie würdest du die aktuelle Situation im Land beschreiben?
Ich spreche fast jeden Tag mit meinen Freund*innen. Alle stehen unter Druck, sind extrem angespannt und haben Angst um ihr Leben. Kürzlich wurde der Bruder einer meiner Freundinnen auf die Liste gesetzt. Nicht unter 505 aber auf die sogenannte „Bekanntheitsliste“ (5). Daraufhin ist die ganze Familie untergetaucht. Die Leute leben in ständiger Angst. Wenn wir sprechen, konzentrieren sie sich immer auf Geräusche. Sie können auch verschiedene Waffen unterscheiden oder erkennen, ob es sich um Schockgranaten oder richtige Bomben handelt.(6) Es ist traurig zu hören, dass wir anfangen, uns an dieses Chaos zu gewöhnen.
Wie würdest du aufgrund deiner Erfahrung die Entwicklung der letzten drei Monate seit dem Militärputsch am 1. Februar 2021 beschreiben? Die meiste Zeit warst du in Myanmar und bist erst vor kurzem geflohen. Was waren die großen Veränderungen?
Am Anfang war es ziemlich ruhig. Die Militärregierung wollte zeigen, dass sie im Umgang mit den Protesten internationale Standards einhalten würde. Aber sie hatten wohl auch nicht erwartet, dass der Aufstand ganz Myanmar erfassen würde. Sie dachten, sie würden das unter Kontrolle bringen, wie 2014 die „Education Bill“-Proteste oder die Saffron-Revolution. Aber dieses Mal hatten sie den Fehler gemacht, uns Freiheit kosten zu lassen und nun konnten wir nicht mehr zurück. Wir wollten nicht von neuem leiden und Folter ausgesetzt sein. Je mehr sie begriffen haben, dass sie die Menge nicht kontrollieren konnten, umso schlimmer ist es geworden und inzwischen ist es furchtbar. Sie verhaften Leute, nehmen Geiseln und töten auf eine Art und Weise, die wir nicht für möglich gehalten hätten. Wir konnten nicht glauben, was da passierte. Wenn bestimmte ethnische Gruppen sagten, dass das Militär seit 70 Jahren so vorgeht, haben wir es nicht geglaubt. Wie können Menschen so etwas tun?
Es eskaliert so schnell. Inzwischen haben einige bewaffnete ethnische Gruppen (EAOs) angefangen zu kämpfen und das Militär hat deshalb in der Stadt nicht mehr die volle Armeestärke zur Verfügung. Sie sind geschwächt durch den Druck von beiden Seiten und wir dürfen jetzt nicht verstummen, uns zurücklehnen und entspannen. Das Tatmadaw kämpft weiter, indem es Leute verhaftet und so versucht, uns einzuschüchtern. Und wir, die Zivilbevölkerung, wir haben Angst, dürfen uns aber nicht von ihnen abschrecken lassen. So geht es hin und her und findet kein Ende. Aber wenn wir jetzt aufgeben, geht es ganz zurück in eine totalitäre Militärdiktatur.
Du hast sehr gut beschrieben, wie das Militär immer skrupelloser, unmenschlicher und brutaler wird und versucht, die Angst zu schüren und wie sich die Leute nicht unterdrücken lassen wollen und zurückschlagen. Wie denkst du, wird sich die Situation entwickeln?
Das ist schwierig abzuschätzen, weil es im Moment eine falsche Hoffnung auf die Internationale Schutzverantwortung (R2P) (7) und die Unterstützung durch internationale Organisationen gibt. Natürlich wollen die Leute sich nicht Gewalt aussetzen. Also bitten wir um Hilfe bei der internationalen Gemeinschaft, damit das Leben ruhiger und geordneter wird und die Gesellschaft weniger Schaden davonträgt. Aber weil sie bereits so viel erlitten haben, begreifen die Menschen, dass sie sich nicht wirklich auf Hilfe von außen verlassen können, und fangen deshalb an, die Angelegenheit selber in die Hand zu nehmen und sich zu wehren. Wir sind angewiesen auf internationale Anerkennung und das Komitee zur Vertretung des Parlaments (CRPH) und die Regierung der Nationalen Einheit (NUG) versuchen diese zu bekommen.
Ein Punkt ist auch die Rohingya-Frage (8): Viele Leute wollen sie nicht thematisieren. Sie sagen Dinge wie: „Lass uns zuerst unsere Probleme lösen und später darauf zurückkommen.“ Für mich ist es hingegen so, dass alle von uns für die Freiheit aller Volksgruppen und für Menschenrechte kämpfen sollten. Die Rechte aller ethnischen Gruppen und somit auch der Rohingya sind genauso wichtig wie unsere eigenen. Darum denke ich, dass das NUG und das CRPH im Kampf für die Rechte aller zusammenarbeiten müssen. Das können sie aber nur, wenn sie nicht ausschließlich auf die bamarische Mehrheit Myanmars hören, sondern darauf, was die ganze Bevölkerung will. Das wird zu einer besseren Lösung für die Zukunft führen. Im Moment passiert das noch nicht wirklich. Je länger sie aber warten, umso mehr wird ihnen das Thema widerstreben und umso mehr Menschen werden sterben.
Du hast gesagt, wenn das NUG und das CRPH besser zusammenarbeiten und alle ethnischen Gruppen miteinbeziehen würden, könnte der Konflikt schneller gelöst werden. Aber wie könnte eine solche gemeinsame Konfliktlösung konkret aussehen?
Von den EAOs kämpfen momentan nur die Kachin Unabhängigkeitsarmee (KIA) (9) und die Karen Nationale Befreiungsarmee (KNU) (10) gegen das Tatmadaw. Andere ethnische Gruppen wollen sich nicht darauf einlassen, weil sie der Nationalen Liga für Demokratie (NLD) nicht trauen. Die meisten NLD-Mitglieder sind im NUG und somit auch im CRPH. Es ist also eigentlich alles das Gleiche. Sie haben nicht hingehört, was die anderen Volksgruppen zu sagen hatten und haben sich nicht dafür entschuldigt, was sie getan haben (11). Sie müssten sich entschuldigen und dann ihre Augen und Ohren weit öffnen und mit den EAOs und auch mit allen anderen ethnischen Parteien zusammenarbeiten. Unser Hauptinteresse gilt nicht der NLD. Wir alle wollen einen föderalen Staat. Also konkret: Menschenrechte für alle von uns. Darum müssen sie sich kümmern.
Momentan sind nur die EAOs der Kachin und der Karen im Kampf gegen die Tatmadaw-Junta verbündet. Glaubst du, der erfolgreichste Weg die Junta zu besiegen wäre, dass weitere EAOs sich dem Kampf gegen die Militärjunta des Tatmadaw anschließen würden? Oder siehst du auch eine andere Möglichkeit als den bewaffneten Konflikt, um die Militärregierung zu überwinden?
Wenn du die Nachrichten mitverfolgst, weißt du, dass sie im Shan Staat auch kämpfen, sogar innerhalb der bewaffneten Gruppen. Heute habe ich etwas von einem anderen Aktivisten gelesen, der es auf den Punkt bringt. Er hat gesagt: „Wenn es das Tatmadaw einmal nicht mehr geben sollte, was passiert dann?” Und dann hat er betont: „Ja, wir haben viele ethnische Gruppen, auch in den gleichen Bundesstaaten mit vielen bewaffneten Untergruppen, die sich gegenseitig bekämpfen. Ich glaube diese Parteien müssen als erstes ihre Konflikte klären. Sonst werden sie sich untereinander bekämpfen, wenn es kein Tatmadaw mehr gibt.“ Sie müssen also zuerst an einer Lösung ihrer eigenen Konflikte arbeiten. Danach sollte eine Delegation mit je einer/einem Repräsentant*in aus jeder Provinz zusammenkommen. Es wird zudem ein Dialog zwischen dem CRPH, dem NUG und den EAOs nötig sein. Sonst wird das Land kaputt gehen. Außerdem muss CDM, der Kampf der Zivilbevölkerung, weitergehen.
Wenn ich dich richtig verstehe, siehst du die Vereinigung oder wenigstens eine Verständigung zwischen den verschiedenen ethnischen Gruppen, den EAOs, den CDM-Aktivist*innen sowie anderen zivilen Akteuren und Demon-strant*innen als wichtigsten Schritt, damit es danach friedlich weitergehen kann?
Weißt du, in der burmesischen Kultur machen wir immer nur mündliche Abmachungen und keine schriftlichen Verträge. Aber jetzt genügt es nicht, einfach nur zu hören: „OK, ich bin einverstanden mit diesem oder jenem“. Nein! Obwohl die Leute in Burma es nicht unbedingt immer schwarz auf weiß brauchen – ein klares „Wir arbeiten an diesem Thema und versprechen es“ muss jetzt auf Papier niedergeschrieben werden. Und wenn das gemacht ist, müssen wir unbedingt verhandeln. Es geht nur so.
Was denkst du, sollte mit dem Tatmadaw in diesem Prozess passieren – und danach, wenn ein neues Land mit einem neuen politischen System und einer von Grund auf neu organisierten Gesellschaft aufgebaut wird? Es zählt immerhin mehr als dreihunderttausend Leute, die meisten davon Fußsoldaten. Wie kann ein Prozess der Gerechtigkeit und Versöhnung stattfinden, nach allem was passiert ist?
Die Menschen vertrauen dem Tatmadaw nicht mehr. Darum müssen wir dem Militär einen anderen Namen geben – wir können nicht alle rauswerfen, aber wir müssen das System verändern. Das System, das sie besser behandelt als andere Menschen. Das alte Wertesystem muss beseitigt und durch ein neues mit einem anderen Namen ersetzt werden. Es braucht Transparenz, die es zurzeit nirgends gibt und ein gutes Regierungssystem. Dann wird sich alles zum Besseren wenden.
Was denkst du, wird in den nächsten Wochen und Monaten passieren? Ich habe kürzlich gehört, dass es zum Beispiel Leute gibt, die glauben, dass die EAOs und Zivilisten beginnen werden, den Krieg gegen das Tatmadaw in den Städten zu führen. Ist das wahrscheinlich oder werden hier nur Ängste geschürt?
Ich kann das nicht einschätzen. Ich habe ebenfalls gehört, dass der Krieg auch in den Städten geführt werden soll. Nach meinen Quellen nicht vor dem 15. Mai; in fünf Tagen. Ich hoffe es nicht, aber wir müssen abwarten und werden sehen. (12)
Du hast ein paar sehr wichtige Punkte in Bezug auf politische Entwicklungen im Land aufgezeigt. Wir haben darüber gesprochen, dass die Bevölkerung nicht darauf hoffen sollte, dass die internationale Gemeinschaft ihre Verantwortung für den Schutz der Zivilbevölkerung wahrnimmt. In den letzten Monaten hat sich das leider bewahrheitet, was sehr enttäuschend ist. Aber für die Leser*innen dieser Zeitung, als Privatpersonen mit einem politischen Bewusstsein: Was können Menschen in Deutschland oder Europa tun um die Sache der Bevölkerung in Myanmar zu unterstützten?
Ich glaube, das Problem ist, dass für Leute in politischen Führungspositionen ganz andere Themen im Zentrum stehen als für die Zivilgesellschaft: Ihnen geht es um Auseinandersetzungen und Bündnisse innerhalb der internationalen Gemeinschaft und darum, einen Vorteil für sich selber daraus zu ziehen. Manchmal habe ich das Gefühl, sie taktieren nur und sorgen lediglich dann für gute Beziehungen, wenn sie profitieren wollen. Aber wir Menschen, wir unterstützen uns und sorgen füreinander. Wir können uns nicht zurücklehnen, weil es nicht nur um unsere jeweiligen Länder geht, sondern um Demokratie für alle. Wenn die Leute nicht verstehen, dass jeder die Verantwortung hat, dafür zu kämpfen, machen sich anti-demokratische Kräfte breit wie eine Krankheit und es wird für alle Länder immer schlimmer. Bei euch gibt es zwar Demokratie, aber sie bröckelt ebenfalls wegen den politischen Machthaber*innen. Was ihr also für uns tun könnt: Verfolgt die Nachrichten und macht Druck auf eure Regierungen. Und wenn ihr könnt: Bitte spendet, und wenn es nur ein oder zwei Dollars sind. Wenn ihr alle etwas gebt, wird es mit dem CDM weitergehen. Es wird vorausgesagt, dass 50 % der burmesischen Bevölkerung in Armut leben wird. Das bedeutet, dass euer Geld diesen Leuten helfen wird, nicht zu verhungern, sondern zu überleben und sich zu wehren. Wenn ihr kein Geld habt, ermutigt uns! Sendet uns eine Mitteilung / Nachricht. Das hilft.
Eine Frage, die offen geblieben ist, betrifft die „normalen“ Soldaten. Man liest viel über Min Aung Hlaing (13) und die anderen Generäle. Aber interessanter zu wissen wäre: Was für Leute sind die einfachen Fußsoldaten? Warum folgen so viele dem Befehl, auf die eigenen Leute zu schießen?
Die einfachen Soldaten kommen durch ihre Familien zur Armee. Ihre Eltern sind Soldaten und sie wissen nicht, was sie werden sollen. Oder sie haben kein Geld, kommen nicht aus mit ihrer Familie und gehen dann eben zum Militär. Zum Leben in den Kasernen: Ich habe ein Video gesehen, wo ein Vorgesetzter einen Untergebenen brutal schlägt. Hier zeigt sich die Dynamik der Macht: Die Untergebenen werden manipuliert: „Wenn du nicht auf mich hörst, wirst du isoliert und gefoltert.“ Von Anfang an werden sie auf diese Weise gedrillt auch wenn sie nichts falsch gemacht haben. Ich habe auch gehört, dass sie ihnen zu Beginn der Trainings Sand ins Essen mischen, um sie mental zu unterwerfen: „Wir können alles mit dir machen und du musst den Vorgesetzten gehorchen.“ Auch der Informationsfluss ist wie in der ganzen Gesellschaft unterbunden. Vorgesetzte etwas zu fragen, ist nicht erlaubt. Wenn du eine Frage hast, schluckst du sie. Zudem benutzen sie die Religion, um die Leute zu manipulieren. Im Sinne von „Du hast so ein beschissenes Leben, weil du in einem vorherigen Leben nicht gut warst. Du verdienst das.“
Ich gebe dir ein Beispiel aus meinem eigenen Leben: Ich bin nach ´88 geboren und in diesem angsterfüllten Klima ohne Grundrechte aufgewachsen. Also habe ich gar nicht verstanden, was mit Menschenrechten gemeint ist. Es ist dasselbe bei diesen jungen Männern: Sie hatten nie die Gelegenheit als menschliche Wesen Respekt zu erfahren, also denken sie, dass ein solches Leben normal ist.
Ich habe auch gehört, dass viele Soldaten während des Militärputsches und in der Zeit danach kein Internet und praktisch keinen Zugang zu Informationen hatten und viele deshalb nicht wirklich wissen, was draußen passiert. Denkst du das stimmt?
Nicht ganz: Manche von ihnen haben Freunde außerhalb der Kasernen. Sie bekommen also immer noch Informationen. Man kann sie nicht total isolieren. Aber auf der anderen Seite rechtfertigen die Vorgesetzten die Gewaltanwendung. Das bedeutet, dass sie hin- und hergerissen sind.
Könntest du noch etwas über deine Idee erzählen, Soldaten dazu zu bewegen, sich der anderen Seite anzuschließen?
Diese Idee kam mir, als ich ziemlich deprimiert war und mit einer Freundin spazieren ging. Ich möchte wirklich, dass die Soldaten sich uns anschließen, aber ich wusste nicht, wie man das machen könnte. Da hat sie vorgeschlagen: „Wie wäre es, wenn du mit denjenigen Freunden sprechen würdest, denen du am meisten traust und diese anfangen, ihrerseits mit Vertrauenspersonen zu sprechen, die Soldaten kennen. Am Anfang musst du gar nichts machen. Du verbreitest nur die Idee, Soldaten umzustimmen.“ Der Cousin einer anderen Freundin ist Soldat, also habe ich mit ihr gesprochen. In Myanmar musst du eine solche Idee den Familien von Soldaten erzählen, weil die meisten auf ihre Eltern hören, ganz gleich was sie sagen. Und wenn Eltern Soldaten umstimmen die Seite zu wechseln, werden diese Soldaten mit ihren Kollegen reden.
Was ist die Botschaft, die über Vertrauenspersonen zu den Soldaten und ihren Familien gehen sollte?
Hört auf, Unschuldige und sogar Kinder umzubringen. Das ist schlecht für beide Seiten. Wir bringen uns gegenseitig um, obwohl ursprünglich nichts zwischen uns vorgefallen ist. Wir sollten uns nicht grundlos so abgrundtief hassen. Die Anführer des Militärputsches benutzen uns für ihre Interessen. Die Soldaten müssen das verstehen und auf unsere Seite wechseln. So können wir verhindern, dass wir uns gegenseitig umbringen.
Danke für das Gespräch.
I Support Myanmar /
Ich unterstütze Myanmar.
Die Auseinandersetzung zwischen der Bevölkerung Myanmars und dem Militär dauert an. Um ein zweites Syrien zu verhindern, ist es wichtig die Bewegung des zivilen Ungehorsams moralisch und finanziell zu unterstützen. Geld für den gewaltfreien Kampf kann u.a. über I Support Myanmar (www.isupportmyanmar.com) gespendet werden.
(1) Die 88er Revolution bei der Aung San Suu Kyi zum ersten Mal die politische Bühne betrat.
(2) Von Mönchen und Studierenden angeführte Aufstände, die ursprünglich aufgrund der Misswirtschaft des Militärs und sprunghaft gestiegener Benzin- und anderer Preise ausbrachen. Als das Militär einen protestierenden Mönch umbrachte, demonstrierten Menschen im ganzen Land. Die Aufstände wurden blutig niedergeschlagen, vermutlich gab es über 3000 Tote.
(3) Hier sind die Studierendenproteste von 1996 gemeint.
(4) Studierendenproteste gegen die Zentralisierung des Bildungssystems.
(5) Der Paragraph 505A verbietet das Verbreiten von Fake-News und angstschürenden Nachrichten. Viele Leute, die wegen Facebook Posts angeklagt sind, werden unter diesem Paragraphen verurteilt und stehen auf einer staatlichen Fahndungsliste. Hingegen gibt es die sogenannten „famous lists“ nur auf Ebene der Townships. Das bedeutet, dass Leute nicht von höherer staatlicher Seite per Haftbefehl gesucht, sondern nur auf Townshipebene drangsaliert werden, um Schmiergelder zu erpressen.
(6) Schockgranaten (auch Blendgranaten oder Flashbangs genannt) sind Granaten, die mit sehr hellem Licht und einem extrem lautem Knall explodieren. Sie sollen Leute einschüchtern und desorientieren.
(7) Responsibility to Protect dt. Internationale Schutzverantwortung. In Myanmar gab es lange die (falsche) Hoffnung, dass der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen die R2P ‚ausrufen‘ würde, was viele Leute als das schicken von UN-Truppen missverstanden haben.
(8) Die Rohingya sind eine Gruppe sunnitscher Muslime, die in Myanmar nicht als ethnische Minderheit anerkannt werden. Sie leben im Norden des Rakhaing-Staats und sind schweren Verfolgungen und Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt. An die 700.000 Rohingya sind vor den ethnischen Säuberungen des burmesischen Militärs nach Bangladesh geflohen. Viele Beo-bachter*innen sind der Meinung, dass es sich um einen Genozid handelt.
(9) Kachin ist ein Volk, das im Bergland des oberen Myanmar und in der Provinz Yunnan der VR China lebt. Quelle: Wikipedia.
(10) Die Karen sind eine Gruppe verwandter ethnischer Minderheiten in Myanmar und Thailand. Sie wurden in Myanmar neben anderen ethnischen Gruppen seit Jahrzehnten durch die Militärdiktatur verfolgt und flüchteten häufig nach Thailand. Quelle: Wikipedia.
(11) Gemeint ist die Vernachlässigung und Benachteiligung der ethnischen Minoritäten durch die NLD auch während ihrer Regierungszeit.
(12) Im letzten Monat gab es in Myanmar mehrere hundert Bombenanschläge, oft gegen Soldaten, Polizisten und Einrichtungen des Regimes. Viele Bombenanschläge haben in Yangon stattgefunden.
(13) Min Aung Hlaing ist der Oberbefehlshaber der burmesischen Streitkräfte und verantwortlich für den Staatsstreich.
Dies ist ein Beitrag aus der aktuellen Druckausgabe der GWR. Schnupperabos zum Kennenlernen gibt es hier.