Griechenland. Nach der Zerstörung des berüchtigten Lagers Moria durch mehrere Brände im September 2020 wurden am 12. Juni 2021 vier jugendliche Geflüchtete auf der griechischen Insel Chios wegen “Brandstiftung mit Gefährdung von Menschenleben” zu 10 Jahren Gefängnishaft verurteilt. Zwei der insgesamt sechs Angeklagten waren bereits im März vor dem Jugendgericht in Lesbos zu fünf Jahren Haft verurteilt worden.
Die vier nun verurteilten jungen Afghanen wurden wegen Brandstiftung mit Gefährdung von Menschenleben, Zerstörung von Privateigentum und Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung angeklagt. Verhaftet und nun verurteilt wurden sie aufgrund der Aussage eines einzigen Augenzeugen, der gesehen haben will, wie sie ein Feuer in Moria legten. Der Prozess, der auf Chios stattfand, dauerte zwei Tage und wurde durch internationale Prozessbeobachter*innen als unfaires und gegen rechtsstaatliche Prinzipien verstoßendes Verfahren kritisiert. Trotz mangelhafter Beweisgrundlage und persönlicher Abwesenheit des einzigen angeblichen Augenzeugens, wurden die Betroffenen unter Ausschluss der Öffentlichkeit zu langen Haftstrafen verurteilt. Vor dem Gerichtsgebäude zeigten dutzende Menschen ihre Solidarität mit den Angeklagten.
Bereits im Vorfeld hatten über 70 europäische Organisationen, Gruppen und Initiativen sowie hunderte Einzelpersonen im Rahmen der Kampagne #FreeTheMoria6 lautstark einen transparenten Prozess gefordert und ihre Solidarität mit den Moria 6 gegen das tödliche europäische Grenzregime verkündet. Denn schon vor Beginn des Prozesses gab es Anhaltspunkte, dass das Recht der Angeklagten auf ein faires und gerechtes Verfahren nicht gewährleistet werden würde und sie stattdessen in einem politischen Schauprozess als Sündenböcke für die unmenschliche EU-Migrationspolitik herhalten sollten. So wurden die Angeklagten in der griechischen Öffentlichkeit und medialen Berichterstattung immer wieder vorverurteilt. Bereits am Tag nach ihrer Verhaftung am 16. September 2021 hat der griechische Migrationsminister Mitarachi in einem Interview mit CNN die Jugendlichen als Schuldige für die Feuer im Lager Moria präsentiert. Die Befürchtung eines weiteren Schauprozesses entstand auch im Hinblick auf die bereits stattgefundene erste Gerichtsverhandlung gegen zwei der Angeklagten, bei dem massive rechtsstaatliche Mängel dokumentiert wurden und die in einem Schuldspruch auf derselben zweifelhaften Beweislage endete.
Rückblickend haben sich bei dem Prozess gegen die 4 Angeklagten alle Befürchtungen bestätigt. Von Anfang bis Ende wurden rechtsstaatliche Grundsätze nicht erfüllt. Angeblich aufgrund von Pandemie-Beschränkungen war es der Öffentlichkeit, einschließlich Journalist*innen und unabhängigen Prozessbeobachter*innen (z. B. vom European Lawyers for Democracy and Human Rights (ELDH)), trotz vorheriger Anmeldung nicht erlaubt, das Verfahren im Gerichtssaal zu verfolgen, womit die Verhandlung de facto unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfanden. Dennoch waren, trotz der hohen Polizeipräsenz rund um das Gebäude, mindestens sechs Polizeibeamte im Gerichtssaal anwesend.
Der bestehende Nachweis über die Minderjährigkeit von drei der vier Angeklagten, den die Verteidigung des Legal Centre Lesbos einbrachte, wurde vom Gericht ignoriert und der Prozess nicht vor einem Jugendgericht verhandelt. Abgelehnt wurde auch der Antrag auf eine angemessene Übersetzung für die Angeklagten. Absolut skandalös ist jedoch, dass der Hauptzeuge der Anklage bzw. der einzige Belastungszeuge, dessen Aussage zur Verhaftung geführt hat, nicht im Gerichtssaal erschien und es keine Möglichkeit für die Verteidigung gab ihn zu befragen. Seine schriftliche Zeugenaussage war voller Fehler und Widersprüche: so hat es an der Stelle, wo er die Angeklagten angeblich beobachtet haben will, nach Aussage der Feuerwehr zu dem Zeitpunkt keinen Brand gegeben.
Insgesamt wurden am ersten Verhandlungstag 15 Zeugen der Staatsanwaltschaft vernommen, wobei keiner von ihnen die Angeklagten identifizierte. Das einzige „Beweisstück“, das die Angeklagten mit der Tat in Verbindung brachte, ist somit die widersprüchliche, fehlerhafte, schriftliche Aussage eines Mannes, der zum Zeitpunkt des Prozess „nicht mehr auffindbar“ war. Einige Beobachter*innen vermuteten, dass er, nachdem er die Aussage gemacht hatte, von der Polizei mit Papieren ausgestattet wurde, um die Insel zu verlassen. Inzwischen ist bekannt, dass der „nicht mehr auffindbare“ Hauptzeuge in Deutschland ist.
Im vorliegenden Fall der Moria 6 soll der Hauptzeuge eine einflussreiche Person innerhalb der paschtunischen Gemeinschaft in Moria gewesen sein. Die Angeklagten wiederum gehören alle der Minderheitengemeinschaft der Hazara an, die unter der Diskriminierung durch die paschtunische Mehrheit in Afghanistan leidet. Die Spannungen zwischen den beiden Gemeinschaften spielten auch in Moria eine Rolle. Die Verteidigung beantragte, die schriftliche Erklärung von der Beweisaufnahme auszuschließen und berief sich dabei auf das in der Europäischen Menschenrechtskonvention (Art. 6) verankerte Recht auf ein Kreuzverhör von Belastungszeugen. Auch dieser Antrag wurde abgelehnt.
Nach Anhörung der Schlussplädoyers am zweiten Tag kamen die drei Richter und vier Geschworenen zu einem einstimmigen Urteil und sprachen die Angeklagten der Brandstiftung mit Gefährdung von Menschenleben unter erschwerenden Umständen der Sachbeschädigung schuldig. Der Vorwurf der Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung wurde fallen gelassen. Die vier Beschuldigten wurden zu je 10 Jahren Gefängnis verurteilt. Mildernde Umstände, wie z.B. keine Polizeieinträge, die fatale Situation in Moria, das junge Alter der Angeklagten oder ihre gute Führung im Gefängnis wurden dabei nicht berücksichtigt. Nach dem Prozess legten die Verteidiger*innen Berufung ein und drückten ihre Wut und Ungläubigkeit aus, aber auch ihren Willen, weiter für die Freiheit der Moria6 zu kämpfen, wenn nötig bis vor den europäischen Gerichtshof.
Der intransparente und unfaire Fall der Moria 6 ist kein Einzelfall, sondern Teil einer systematischen Praxis von illegitimen und diskriminierenden Vorgehensweisen gegen Menschen auf der Flucht. Die Verhaftung und Verurteilung einzelner, angeblich schuldiger Migrant*innen wird von den griechischen Behörden genutzt um von der strukturellen Gewalt des Hotspot-Systems und bestehenden Menschenrechtsverletzungen abzulenken. Diese „Strategie“ konnte auch schon in früheren Fällen wie z.B. im Fall der sogenannten Moria 35 beobachtet werden.
Die Gerichtsurteile gegen die Moria 6 lenken von den Umständen ab, warum Moria gebrannt hat. Auch wenn dieses Mal das berüchtigtste griechische Hotspot-Lager komplett niedergebrannt ist, war es längst nicht das erste Feuer in Moria, und auch in anderen Hotspots gab es immer wieder Brände. Bereits an Ostern 2020 brannte das halbe Lager Vial auf der Nachbarinsel Chios nach Protesten der Bewohner*innen ab. Anlass für die Wut der Menschen im Lager war der Tot einer 46-jährigen Frau im Camp, die nach einem Klinikaufenthalt und einem negativen Covid-19-Test am Rande des Camps in einem Container isoliert wurde. Auch wegen dieses Feuers sollen 15 beschuldigte Geflüchtete aus dem Lager zu Sündenböcken gemacht werden. Der Prozess gegen die Vial 15 folgt kurz nach dem gegen die Moria 6. Die Bedingungen unter der Corona-Pandemie in den Camps haben die ohnehin fatale Lage von Überbelegung in den Hotspots nochmal dramatisch verschlimmert.
Die konservative griechische Regierung, die ohnehin seit einiger Zeit versucht, aus den Hotspots geschlossene Camps zu machen, nutzte die Pandemie für monatelange Ausgangssperren aus den Camps. Als die ersten Infektionen Moria erreichten, wurden die Infizierten oder andere nicht aus den hygienisch unhaltbaren Umständen im Lager herausgeholt. Stattdessen sollten verschiedene Gruppen im Lager isoliert werden – was Unmut und Angst bei den Bewohner*innen auslöste. Gleichzeitig wurde ein Vertrag der griechischen Regierung öffentlich, der Anlagen zur kompletten Abriegelung des Lagers beinhaltete. Das Europäische Grenzregime und die griechische Regierung haben vor dem Brand in Moria also die Situation ausgenutzt, um der geplanten Errichtung riesiger Freiluftgefängnissen auf den Hotspot-Inseln näher zu kommen, nachdem ihre Pläne geschlossener Camps kurze Zeit vorher noch an deutlichen Protesten und Widerstand auch der Inselbevölkerung gescheitert waren. Bemerkenswert ist aber vor allem, dass es bei den Bränden sowohl in Moria als auch in Vial ausschließlich zu Sachschaden gekommen ist. Während im „Normalbetrieb“ dieser Lager also an Gewalt, fehlender medizinischer und anderer Versorgung oder schlicht im Winter an der Kälte leider regelmäßig Menschen sterben, echauffiert sich momentan eine Weltöffentlichkeit über Feuer, die lediglich Zelte und Container verbrannt haben. Das veranlasste griechische, linke Solidaritätsstrukturen in ihrem Aufruf zum Prozess gegen die Moria 6 zu der Aussage: „Das Verbrechen ist nicht, dass Moria angezündet wurde, sondern, dass es existiert hat!“
Zwar sind die aktuellen Urteile gegen die Moria 6 eine schwere Niederlage im Kampf für Gerechtigkeit, aber Aktivist*innen und Unterstützer*innen der Betroffenen sind sich einig, dass sie mit den zu Unrecht Verurteilten weiter solidarisch sein werden. Sie werden die Verteidigung weiterhin finanziell und auf anderen Wegen dabei unterstützen alle Rechtsmittel ausschöpfen, um innerhalb eines fairen Prozesses die Unschuld der Angeklagten zu beweisen.
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