Wer mit offenen Augen durch die Städte geht, wird schnell erkennen, dass die Lieferdienste zu den Gewinner*innen der Corona-Pandemie gehören. Doch wie immer im Kapitalismus profitieren die Besitzer*innen und nicht die Beschäftigten der Firmen. Ganz im Gegenteil! Der Gewinn beruht auf vielen schlecht bezahlten Jobs. Dagegen wehren sich seit mehreren Jahren die Beschäftigten verschiedener europäischer Länder und der USA auch gewerkschaftlich. In Berlin wurde 2016 mit Unterstützung der Basisbewegung Freie Arbeiter*innen Union (FAU) die Deliverunion gegründet, die schnell ein mediales Echo fand.
„Den Forderungen der Riders wurde Legitimität eingeräumt und die FAU Berlin überwiegend positiv dargestellt, während die Lieferdienste eher skeptisch betrachtet wurden“, schreibt der Göttinger Soziologe Robin De Greef in seinen Buch „Riders Unite!“. Es liefert einen knappen aber informativen Blick auf einen Organisationsprozess, der auch für viele der Betroffenen überraschend kam. „Manche sagen, dass wir die Unorganisierbaren organisieren. Also das sind Leute, die keinen Treffpunkt haben, sie haben kaum Möglichkeiten miteinander zu kommunizieren; ihre Schichten sind unregelmäßig und es gibt Fluktuation“, erklärte 2018 ein Mitglied der Deliverunion-Kampagne. Das Label war zum Motto dieses Organisationsprozess der Proletarier*innen auf zwei Rädern geworden. De Greef geht auf die Besonderheiten der Gig-Economy ein, zu der auch die Kurierdienste gehören. Gig-Economy bezeichnet einen Teil des Arbeitsmarktes, bei dem kleine Aufträge kurzfristig an unabhängige Selbstständige, Freiberufler oder geringfügig Beschäftigte vergeben werden. Kennzeichnend sind prekäre Arbeitsverhältnisse. Zudem werden die Lohnarbeitenden nur teilweise in betriebliche Zusammenhänge eingebunden. Einerseits werden die Beschäftigten als Selbstständige betrachtet, die die Plattformen nur nutzen, um Aufträge zu generieren. Andererseits gibt es bei der Arbeit oft eine umfassende Überwachung, beispielsweise über die Route der Kurierfahrer*innen.
Das Bild der autoritären Vorarbeiter*innen mit Chef-Allüren, das in den fordistischen Fabriken kennzeichnend war, wird bei den Kurierdiensten durch Vorgesetzte ersetzt, die scheinbar von nichts eine Ahnung haben. Das wird für die Beschäftigten zum Problem, wenn bei ihrer Arbeit Komplikationen auftreten. „Sie antworten normalerweise schnell. Aber nach ungefähr zwei Minuten wird der Chat blockiert und man muss einen neuen Chat starten, und natürlich weiß die neue Person nie was los ist“, zitiert De Greef eine Kurierfahrerin. Die zahlreichen Ausschnitte aus Gesprächen mit Beschäftigten in dem Buch geben einen guten Einblick in die Probleme, auf die sie im Arbeitsalltag stoßen. Hier wird auch deutlich, dass ein algorithmusgesteuertes System von Abmahnungen und Sanktionen an Repression den autoritären Strukturen in einer fordistischen Fabrik in nichts nachsteht. Hier sieht De Greef auch Widerstandspotentiale bei den Beschäftigten. Ob diese in gewerkschaftliche Organisierungsprozesse münden, hängt von vielen spezifischen Faktoren ab, auch von der Jahreszeit. Im Sommer, wo die Zahl der Riders größer ist, sind die Bedingungen günstiger als im Winter.
Die Berliner Deliverunion-Kampagne war durch eine Facebook-Gruppe entstanden, in der sich ca. 100 Beschäftigte kritisch mit ihren Arbeitsbedingungen auseinandersetzten. In den folgenden Jahren gab es zahlreiche Kundgebungen und Demonstrationen. Besonders positiv hebt de Greef hervor, dass sich die Taxi-AG bei ver.di, ein Zusammenschluss gewerkschaftlich organisierter Taxifahrer*innen, mit den bei der FAU organisierten Riders solidarisch erklärte. De Greef spricht von einem „besonderen Beispiel unternehmens- und gleichzeitig gewerkschaftsübergreifender Solidarität“, die auch bei den Proletarier*innen auf zwei Rädern der Schlüssel zum Erfolg ist. In London koordinierten sich im August 2016 im Rahmen eines Aktionstages Rider von Deliveroo, Uber-Taxifahrer*innen und Beschäftigte von Fast-Food-Ketten wie Mc Donalds gemeinsam. Es ist eine dringend notwendige Suchbewegung der Arbeitskämpfe im digitalen Kapitalismus. Kurierfahrer*innen bilden einen wichtigen Teil der Lohnabhängigen im digitalen Kapitalismus. Sie haben in den letzten Jahren deutlich gemacht, dass sie für Verbesserungen ihrer Arbeitsbedingungen kämpfen und dabei auch Erfolge haben können, wie der sponante wilde Streik von über 100 Riders des Essenslieferanten Gorillas Mitte Juni in Berlin zeigte, nachdem ein Kollege entlassen worden war.
Zum Weiterlesen:
Robin de Greef: Riders Unite! Arbeitskämpfe bei Essenslieferdiensten in der Gig-Economy – Das Beispiel Berlin.
Die Buchmacherei, Berlin 2020, 143 Seiten, 10 Euro,
ISBN: 978-3-9822036-5-2